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  • Während der Ferienzeit bis zum 8. August präsentieren wir Highlights der Sendung «52 Beste Bücher». In kompakter Form gibt es Auszüge zu hören aus den Gesprächen mit Autorinnen und Autoren über wichtige Bücher der vergangenen Monate. Unsere heutigen Gäste: Pedro Lenz und Dorothee Elmiger.

    Weitere Themen:
    - 52 Beste Bücher kompakt: Mit Pedro Lenz
    - 52 Beste Bücher kompakt: Mit Dorothee Elmiger

  • Im Frühling vor einem Jahr stand alles still. Die Schweiz befand sich im Corona-Ausnahmezustand. Alberto Nessi hat in dieser Zeit Tagebuch geschrieben. Er sinniert drin über die Natur, über unsere Gesellschaft und den Tod. Ein Fazit: Nur die Literatur und die Fantasie können uns retten.

    Alberto Nessi beginnt sein Journal mit einem Traum. Eine Ärztin eröffnet ihm, dass er sehr schwer an Corona erkrankt ist. Das war ganz zu Beginn der Pandemie, als ihn die Bilder aus Norditalien erschütterten. Die überfüllten Spitäler, die sterbenden Menschen. Alberto Nessi schreibt über sein Ängste aber auch über das, was die Pandemie an Positivem bringt. Dazu gehören Momente der Stille, die Spaziergänge, die Zeit, die er in seinem Garten im Tessinerdorf Bruzella verbringt. Er macht sich in diese ersten vier Monate der Pandemie auch Gedanken über unsere Gesellschaft. Fragt sich, ob wir nach der Pandemie einfach weitermachen wie bisher oder ob ein Umdenken stattgefunden hat. Werden die Menschen der Umwelt mehr Sorge tragen und solidarischer miteinander umgehen?

    Esther Schneider unterhält sich mit Alberto Nessi über seine Fragen, seine Hoffnungen und über das Tagebuchschreiben.

    Buchhinweis:
    Alberto Nessi. Blues in C. Journal eines Jahres. Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Limmat Verlag, 2021.

    Weitere Themen:
    - Interview mit Alberto Nessi im Originalton (Italienisch)

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  • Ein aussergewöhnlicher Roman: Die Autorin Annette Hug behandelt in «Tiefenlager» Zukunftsprobleme wie die Endlagerung des Atommülls, die sonst in der Belletristik kaum vorkommen.

    In herkömmlichen Romanen geht es meist um die ewiggleichen Themen wie Liebe und Kindheit, Erinnerung und Alter. Annette Hug stellt sich in ihrem neuen Roman «Tiefenlager» einem drängenden Zukunftsproblem, ohne aber ins Science-Fiction- oder Fantasy-Genre abzudriften: Es geht um die Endlagerung des Atommülls und wie man das Wissen um die Gefahren dieses hochaktiven Abfalls auch in kommenden Generationen sicherstellt.

    Drei Frauen und zwei Männer aus verschiedenen Welten tun sich zusammen: eine Krankenpflegerin aus Manila, ein Nuklearphysiker aus der ehemaligen Sowjetunion, ein ausgestiegener AKW-Angestellter, eine Linguistin und eine Finanzspezialistin. Um das gravierende Zukunftsproblem des Atommülls anzupacken, wählen sie einen vermeintlich mittelalterlichen Weg: Sie gründen einen Orden, der es ihnen erlaubt, ruhig und unabhängig arbeiten zu können. Bevor aber die Zukunft sicherer gestaltet werden kann, muss das Zwischenmenschliche innerhalb des bunt zusammengestellten Ordens gelöst werden.

    Annette Hug, die selber in Manila studiert hat und sich in fernöstlichen Metropolen wie Hongkong oder Shanghai auskennt, hat einen welthaltigen, klugen Roman geschrieben. Sie spielt durch, wie unsere Zukunft zwischen den Polen Individuum und Kollektiv oder Universalismus und Relativismus aussehen könnte.

    Buchhinweis:
    Annette Hug. Tiefenlager. Verlag Das Wunderhorn, 2021.

  • In ihrem neuen Roman lotet Judith Hermann – am Beispiel ihrer Protagonistin - den Begriff «Daheim» aus: Mit fast 50 wagt diese einen Neuanfang an der Küste. Luzia Stettler diskutiert mit der Autorin über die Sehnsucht nach Geborgenheit und den Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben.

    «Daheim» ist ein nachdenkliches, kluges und mitunter auch witziges Buch, das vor allem vom Zauber einzelner Szenen lebt. Geschickt verbindet Judith Hermann die lange Form des Romans mit poetischen Miniaturen. Einmal mehr überzeugt sie durch ihre karge, kunstvolle Sprache; diesen typischen lakonisch-melancholischen Sound, der – wie ein Kritiker einmal schrieb – «tatsächlich süchtig machen kann».

    Im Mittelpunkt steht die Ich-Erzählerin, eine Frau im mittleren Alter, die sich nach einer gescheiterten Ehe aus der Stadt verabschiedet und sich in ein kleines Dorf an der Nordsee zurückzieht. Dort jobbt sie im Restaurant ihres Bruders, und versucht sich – als verwaiste Mutter, denn Tochter Ann ist gerade ausgeflogen, – im Leben neu einzurichten, noch unschlüssig, wie sie die Weichen nun stellen soll.

    Die Protagonistin ist im Grunde genommen eine Suchende – wie viele Leute in ihrem Umfeld auch: sie forscht nach Wurzeln, die sie nie gehabt hat. Aber auch nach einem Ort, wo sie – wie Nachbarin Mimi – «gut zufrieden» sein könnte. Und die Stärke dieses Buches besteht genau darin, dass uns Judith Hermann klar macht, wie unterschiedlich Menschen dieses «Daheim» für sich definieren, und wie volatil so ein Begriff im Laufe einer Lebensspanne auch sein kann.

    Buchhinweis:
    Judith Hermann. Daheim. S. Fischer Verlag, 2021.

  • «Sind Sie das?» Diese Frage hört Charles Lewinsky oft, wenn es um seine Figuren geht. Zum 75. Geburtstag schreibt er nun ein Buch, in dem er der Frage nachgeht, wo in seinem Werk er selbst vorkommt. Ein Gespräch über das Leben und das Schreiben und darüber, was das eine mit dem anderen zu tun hat.

    Der Anlass für dieses Buch liegt Jahre zurück. An einer Lesung des Romans «Johannistag», in dem es um einen Lehrer geht, der eine intime Beziehung zu einer Schülerin hat, wird Charles Lewinsky gefragt, ob dieser pädophile Lehrer er sei. Charles Lewinsky selbst. Wenig überraschend ist die Lesung rasch vorbei. Aber der Gedanke, respektive die Neugier, wo in seinem Werk Charles Lewinsky tatsächlich vorkommt, lässt ihn seither nicht mehr los. Also liest Charles Lewinsky seine zwölf Romane nochmals durch und sucht die Stellen heraus, die von persönlichen Erlebnissen inspiriert sind. Daraus verfasst er einen sehr persönlichen Text, der ursprünglich nur für seine drei Enkel gedacht war. Damit diese später mal lesen können, wer ihr Grossvater wirklich war. Doch glücklicherweise gefällt der Text auch Lewinskys Lektorin so gut, dass er jetzt als Buch erscheint und allen zugänglich wird.

    Charles Lewinsky. Sind Sie das? Diogenes, 2021.

  • In «Junischnee» erzählt Ljuba Arnautovic die verstörende Geschichte ihres Vaters, in die sich die Erfahrung von Flucht, Weltkrieg und Gulag einschrieben. Im Gespräch mit Felix Münger erzählt die österreichische Autorin von ihrem «Seiltanz», die Balance zwischen Nähe und Distanz zu finden.

    Die Hauptfigur des Romans, Karl Arnautovic, ist der Sohn eines jüdischen Kommunisten in Wien. Die Mutter schickt Karl aus Furcht vor den Nazis 1934 ins sowjetische Exil.

    Die Aufnahme des Kinds aus einer Familie von ausländischen Genossen ist zunächst freundlich. Karl lebt in einem Moskauer Kinderheim und wächst behütet auf.

    Als Hitler 1941 dies Sowjetunion überfällt, gilt Karl – wie andere Sprösslinge aus «Deutschland» - plötzlich als Feind. Der Teenager landete im Gulag. Dass er überlebt, grenzt an ein Wunder.

    Im Arbeitslager lernt er seine künftige Frau kennen, die spätere Mutter von Ljuba Arnautovic, die mit diesem Roman ihren Eltern ein eindrucksvolles Denkmal setzt. Es ergreift durch die fein austarierte Mischung von Nähe und Distanz gegenüber den Figuren, die ihre nächsten Verwandten sind.

    Das Buch vermeidet jede Verklärung, überzeugt durch seine verdichtete Sprache und macht den Lebensweg von Menschen sichtbar, die zu Spielbällen eines Katastrophenjahrhunderts wurden – und damit stellvertretend stehen für die Erfahrung von Millionen.

    Buchhinweis:
    Ljuba Arnautovic. Junischnee. Zsolnay, 2021.

  • Mit Arnon Grünbergs «Besetzte Gebiete» erzählt erstmals ein Roman aus dem Innenleben einer ultrareligiösen Siedlung in den besetzten Gebieten im Westjordanland.

    Kadoke, ein durchaus liberaler Psychiater aus Amsterdam, den wir schon aus Arnon Grünbergs Roman «Muttermale» (2016) kennen, wird Opfer eines Metoo-Skandals: Er soll eine junge Patientin missbraucht haben. Zumindest behauptet dies ein Schriftsteller in einem Buch, nachdem er die Patientin Michette kennengelernt hat. Die zuständige Disziplinarkommission entzieht dem Psychiater daraufhin die Erlaubnis, seinen Beruf weiter auszuüben.

    Kadoke flieht in der Not zu einer Geliebten namens Anat, die mit ihrer Mutter in einer religiösen Siedlung in den besetzten Gebieten im Westjordanland lebt. Während er in Amsterdam als jüdischer Schänder angeprangert wird, gilt er in der Siedlung als Wunder, weil er Anat endlich zu Kindern verhelfen soll. Doch in der ultrareligiösen Siedlung wird Kadoke erneut zum Paria, nachdem er eine Affäre mit einem Palästinenser begonnen hat.

    Auch in seinem brisanten neuen Roman «Besetzte Gebiete» tanzt der holländische Starautor Arnon Grünberg virtuos auf der rasierklingenscharfen Grenze zwischen Tragik und Komik.

    Buchhinweis:
    Arnon Grünberg. Besetzte Gebiete. Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten. Verlag Kiepenheuer & Witsch, 2021.

  • Verrat, Verlust und eine tiefe Verlorenheit – in seinem Roman «Die Verlassenen» erzählt der 1984 in Halle geborene Matthias Jügler behutsam und eigensinnig von den Folgen und Spätfolgen der Machenschaften der DDR-Staatsicherheit.

    Die DDR ist Geschichte, als ein junger Mann und werdender Vater unter einem Vorwand Hals über Kopf nach Norwegen aufbricht. Zufällig war er auf einen Brief gestossen, der sein eh schon ungewisses Leben vollends bedroht. Als kleiner Junge verlor er seine Mutter, ein Herzinfarkt angeblich. Als er dreizehn war, verschwand sein Vater spurlos. Antworten auf seine Fragen bekam er nie. Nun wäre vielleicht Gelegenheit, sich am Mann zu rächen, der als Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit die Familie zerstört hatte.

    Ausgehend von einem realen Fall zeigt der Roman, wie traumatische Ereignisse über Generationen hinweg weiterwirken. Und wie diese Ereignisse Fragen stellen, die nicht nur die Opfer etwas angehen.

    Mit Matthias Jügler spricht Franziska Hirsbrunner.

    Buchhinweis:
    Matthias Jügler. Die Verlassenen. Penguin Verlag, 2021.

  • Fast 40 Jahre nach seinem Kultbuch «Blösch» publiziert Beat Sterchi sein 2. Werk bei Diogenes: «Capricho – ein Sommer in meinem Garten» ist eine zauberhafte Liebeserklärung an seinen «huerto» und an eine bedrohte Welt in der spanischen Provinz. Der Schweizer Autor ist zu Gast bei Luzia Stettler.

    Wer einmal «Blösch» gelesen hat, wird Ambrosio nie wieder vergessen: den spanischen Gastarbeiter, der als Melker auf einen Schweizer Bauernhof kommt und in Blösch, der stolzen Leitkuh im Stall, eine Verbündete findet. Jahre später, nachdem der Ausländer einen Job im Schlachthof übernommen hat, begegnet er seiner vierbeinigen Freundin erneut: bis auf die Knochen abgemagert wird sie auf die Schlachtbank gezerrt.

    Anders die Kulisse in «Capricho» – und doch gibt es eine innere Verbindung: Jetzt ist es der Schweizer, der in Spanien zum Ausländer wird. Der Ich-Erzähler verbringt schon seit Jahrzehnten den Sommer in einem kleinen Haus – unweit der Burgstadt Morella. Eigentlich will er die Geschichte des Dorfes aufschreiben, aber die Muse lässt ihn sitzen. Also kümmert er sich intensiv um seinen Garten, lässt sich auf Plaudereien mit Passanten ein, schätzt die guten Pflanz-Tipps der Einheimischen.

    Es ist unschwer, im Ich-Erzähler den Autor wiederzuerkennen: Beat Sterchi hatte sich – nach seinem enormen Erfolg mit «Blösch» – selber jahrelang in die spanische Provinz zurückgezogen. Noch heute ist das Haus sein Herzensort. Und er gibt auch ehrlich zu, dass er erst durch die vermeintliche Ablenkung des «huerto» den roten Faden für sein Buch gefunden habe.

    Im Gespräch mit Luzia Stettler erzählt er vom archaischen Alltag, vom Geschichten-Finden und vom Charme einer mediterranen Lebensform.

    Buchhinweis:
    Beat Sterchi. Capricho. Diogenes, 2021.

  • In seinem Roman «Die Kinder hören Pink Floyd» beschreibt Alexander Gorkow seine Kindheit in den 70er Jahren. Im Gespräch mit Michael Luisier spricht er über das Leben in einer westdeutschen Vorstadt, die Ängste eines phantasiebegabten Kindes und über die Band, die ihn geprägt hat: Pink Floyd.

    Alexander Gorkow ist Journalist und Schriftsteller. Und er ist einer der wichtigsten Pink Floyd-Kenner Deutschlands. Mehrere Male hat er die einzelnen Mitglieder der Band interviewt, zuletzt den mittlerweile stark umstrittenen Roger Waters, der sich schon seit einiger Zeit einem hartnäckigen Antisemitismusvorwurf ausgesetzt sieht. In «Die Kinder hören Pink Floyd» verarbeitet Alexander Gorkow einerseits seine eigene, von Ängsten und Schreckensvorstellungen geprägte Kindheit in einer westdeutschen Vorstadt während der 70er Jahre und das Aufwachsen mit einer äusserst lebenshungrigen aber herzkranken älteren Schwester, andererseits seine wechselvolle Beziehung zu einer Band, die für ihn lebensprägend geworden ist.

    Buchhinweis:
    Alexander Gorkow. Die Kinder hören Pink Floyd. Kiepenheuer & Witsch, 2021.

  • Ein Familienroman mit einem Kriegsgott schon im Titel: In «Der Wod» entzaubert Silvia Tschui das Familienglück. Es endet in Missbrauch und anderen Desastern.

    Der Familienstammbaum ist der einzige Ruhepol im Buch. Darauf ist alles schön friedlich geordnet und an seinem richtigen Ort. Sonst aber beherrschen Krieg und Missbrauch die Familie, die Silvia Tschui in ihrem neuen Roman «Der Wod» schildert. Die einzelnen Mitglieder tun einander Schreckliches an, verlieren und verfolgen sich, suchen Ersatzfamilien in einer Freimaurerloge, in der Kirche oder bei den Hells Angels.

    Kaum eine Schweizer Autorin erzählt rasanter als Silvia Tschui in «Der Wod», angetrieben von dem germanischen Kriegsgott, den sie als Titelheld gewählt hat. Wir tauchen tief ins 20. Jahrhundert ein, in die Epoche des Nationalsozialismus und der hektischen Nachkriegsjahre, springen zwischen Deutschland und der Schweiz hin und her. Silvia Tschuis Figuren scheitern oder machen Karriere in der Druckerei- oder Uhrenbranche oder im Geheimdienst. Und als es einmal zu einer Familienfeier in herrschaftlicher Umgebung am Zürichsee kommt, endet sie blutig und mit Herzinfarkt.

    Buchhinweis:
    Silvia Tschui. Der Wod. Rowohlt, 2021. 

  • «Levys Testament» ist eine Geschichte aus dem Leben der Autorin, deren Anfang im linksradikalen Milieu der 70er und Schluss in der Preisgabe eines Familiengeheimnisses liegt. Ein Gespräch mit Ulrike Edschmid über London, das Selbstverständnis des Aussenseiters und über Charlie Watts in der U-Bahn.

    Als junge Frau besucht die Ich-Erzählerin ein politisches Filmfestival in London. So entflieht sie dem damaligen Westberlin, wo sie wegen des plötzlichen Untertauchens ihres früheren Lebenspartners (beschrieben im Erfolgsroman «Das Verschwinden des Philip S.») unter polizeilicher Beobachtung steht. In London gerät sie in die militante Hausbesetzerszene im East End und lernt ihren langjährigen Freund und Partner kennen, den sie im Roman immer nur «den Engländer» nennt. Vierzig Jahre später – das Paar geht längst getrennte Wege – klingelt «beim Engländer» das Telefon. Eine ihm bisher unbekannte Cousine seines Vaters meldet sich und führt ihn in ein Familiengeheimnis ein, das ihm seine eigene Herkunft ganz neu und ganz anders erklärt als bisher bekannt.

    Ulrike Edschmid hat jetzt diese Geschichte aufgeschrieben und zu einem gekonnt poetischen Roman gemacht, wie man es von ihren früheren Werken – ebenfalls zu tatsächlich erlebten Begebenheiten – in bester Erinnerung hat. Im Gespräch mit Michael Luisier erzählt die Schriftstellerin von der Entstehungsweise des Textes und dem Verarbeiten von Erlebten zu Literatur, vom «Engländer» und seinem Umgang mit einer ganz anderen und neuen Identität, von gemeinsamen Reisen und einer grossen Theaterkarriere und vom Zusammenleben mit einem leidenschaftlichen Tottenham Hotspur-Fan auch dann, wenn man sich gar nicht für Fussball interessiert.

    Buchhinweis:
    Ulrike Edschmid. Levys Testament. Suhrkamp Verlag, 2021.

  • Sieben Probanden nehmen in «Tage des Vergessens» an einer Studie teil: sie alle wollen eine Erfahrung in ihrem Kopf löschen. Die Autorin bezieht sich dabei auf Experimente in der DDR. Luzia Stettler spricht mit Yvonne Zitzmann über Menschenversuche und den Wert von Erinnerungen.

    Eine aussereheliche Affäre, die Schuldgefühle eines KZ-Überlebenden, der Verlust der Heimat, das Trauma eines frühen Missbrauchs: In fast jedem Leben gibt es schlimme Erfahrungen, mit denen man sich nicht länger belasten möchte. Wie verheissungsvoll also das Versprechen von Pillen, die im Gedächtnis gezielt gewisse Erinnerungen ausradieren können!

    Im Roman «Tage des Vergessens» begleiten wir sieben ausgewählte Personen, die sich freiwillig für eine Studie zur Verfügung stellen: Eine Woche lang müssen sie täglich – unter Aufsicht von Forschungsleiter Marian Wechsler – eine Pille einnehmen. Doch bereits nach wenigen Tagen läuft das Experiment völlig aus dem Ruder.

    Dieser packende und sprachlich überzeugende Debütroman basiert auf Forschungen, die in der DDR-Zeit von westlichen Pharmakonzernen durchgeführt wurden. Yvonne Zitzmann geht der Frage nach: was ist wissenschaftlich und medizinisch noch verantwortbar? Und ist ein Leben, in dem die Erinnerungen an ganze Jahrzehnte plötzlich fehlen, wirklich noch sinnstiftend?

    Buchhinweis:
    Yvonne Zitzmann. Tage des Vergessens. Müry Salzmann Verlag, 2021.

  • Vor den Augen ihrer Verehrer zwickt und quetscht die Verkäuferin Magdalena die Törtchen im Schaufenster der Bäckerei. Ein Sado-Maso-Spiel mit Süssigkeiten? Im Roman «Magdalenas Sünde» der Schweizer Autorin Romana Ganzoni geht es um Begehren, um sexuelle Dominanz und um das Sterben.

    Magdalena hat soeben gierig ihren achten Berliner – das zuckrige, mit Konfitüre gefüllte Gebäck - verschlungen. Magdalena lebt in Zürich. Ihr Name ist symbolbeladen. Wohl nicht zufällig. Magdalena ist eine Ex-Prostituierte. Jetzt arbeitet sie als Verkäuferin in einer Bäckerei und sie steckt in Schwierigkeiten. Sie leider unter der sadomasochistischen Beziehung zu einem älteren und narzisstisch veranlagten Schriftsteller. Zudem liegt ihr Vater im Sterben. Soweit die Ausganglage. Der zweite Roman der Engadiner Autorin Romana Ganzoni ist einerseits eine beklemmende Geschichte über sexuelle Obsessionen, über Scham und Schuld. Andererseits erzählt er von Freundschaft und Fürsorge. Es sind Bilder, Stimmungen und Emotionen, die den Ton in diesem kurzen Roman angeben. Ein Roman, in dem vieles im Ungewissen bleibt, wo die Fantasie die Realität überblendet. Was Romana Ganzoni zu dieser Magdalena-Figur inspiriert hat, erzählt sie in der Sendung «52 Beste Bücher» auf Radio SRF 2 Kultur.

    Buchhinweis:
    Romana Ganzoni. Magdalenas Sünde. Telegramme Verlag, 2021.

  • Weltkrieg, deutsche Teilung, Stasi, Wende: In «Vom Aufstehen» macht die 81-jährige Helga Schubert ein halbes Jahrhundert deutscher Geschichte erfahrbar. Die deutsche Autorin erzählt von quälenden Prägungen und seelischen Verletzungen – und zeigt, dass man trotz allem inneren Frieden finden kann.

    Ihr letztes Buch veröffentlichte Helga Schubert vor knapp 20 Jahren. Im vergangenen Jahr gewann sie mit einem autobiografischen Text über die schmerzhafte Beziehung zu ihrer Mutter den Bachmann-Preis.

    Die preisgekrönte Geschichte erzählt von einer Mutter, die von ihrer 1940 geborenen Tochter Dankbarkeit dafür verlangt, dass sie sie nicht abgetrieben hat. Oder dass sie das Kleinkind in den letzten Kriegswochen, als die Rote Armee näher rückte und die Familie floh, nicht einfach dem Feind überliess.

    Der preisgekrönte Text ist die letzte Erzählung im nun erschienenen Erzählband «Vom Aufstehen». Die Autorin tastet sich darin assoziierend und suchend durch ihr Leben, in das sich die Historie der letzten acht Jahrzehnte eingeschrieben hat.

    Dabei macht Helga Schubert auch die Umstände fassbar, die ganz anders waren als heute. Und sie zeigt, dass «in der Welt der Menschen nichts einfach gut oder böse ist».

    Diese Einsicht, das schildert dieses lebenskluge Buch eindringlich, ist der Anfang davon, Frieden zu finden. Mit sich und mit der Welt – selbst dann, wenn grässliche Erinnerungen es als unmöglich erscheinen lassen.

    Buchhinweis:
    Helga Schubert. Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten. dtv, 2021.

  • Im Roman «Über Menschen» hält Juli Zeh als erste deutsche Literatin der coronageplagten Gesellschaft den Spiegel vor: Sie zeigt, wie unterschiedlich Leute auf Ausnahmesituationen reagieren. Luzia Stettler spricht mit Juli Zeh über militante Klimaschützer und naive Stadtflüchtige.

    Robert hat in Greta Thunberg eine Ikone gefunden: der Umwelt-Aktivist wird zunehmend militant. Als dann Corona kommt und die meisten Berufstätigen ins Homeoffice zwingt, hält es Freundin Dora mit diesem selbstgerechten Besserwisser unter einem Dach kaum noch aus. Genervt verlässt sie die gemeinsame Wohnung in Berlin-Kreuzberg und flieht aufs Land.

    In Brandenburg hat sie schon vor dem Lockdown ein verlottertes Anwesen gekauft. Und während sie einerseits ihren Job als Werbetexterin erfüllt und ihre originellen Ideen via Zoom-Konferenzen darlegt, versucht sie andererseits, den verwilderten Garten mit der Hacke zu domestizieren. Aber das Unkraut ist nicht das einzige Übel, mit dem sie da in der Provinz draussen fertig werden muss.

    Mit präziser Beobachtungsgabe und grossem psychologischem Gespür zeigt Juli Zeh, was die Verunsicherung in Pandemie-Zeiten mit Menschen macht. Die Stärke ihres Romans besteht genau darin, dass sie dabei voll der Kraft des Erzählens vertraut und nicht der Versuchung erliegt, eigene Meinungen abzugeben. Im Gegenteil: Ihr Buch macht Mut, Vorurteile loszulassen.

    Buchhinweis:
    Juli Zeh. Über Menschen. Luchterhand Verlag, 2021.

  • In ihrem neuen Roman «Die nicht sterben» holt Dana Grigorcea Graf Dracula aus der Gruft und entdeckt allerlei Vamprisches im postkommunistischen Rumänien.

    Dana Grigorcea ist eines der «Kommunistenkinder», von denen in ihrem neuen Roman «Die nicht sterben» die Rede ist. 1979 in Bukarest geboren, fiel ihre Kindheit noch in die bleierne Endzeit des Ceausescu-Regimes. Die damalige Sprach- und Geschichtslosigkeit verschwand nicht einfach mit der politischen Wende.

    Auch der Vampirismus verschwand nicht mit dem Ende des blutrünstigen Diktators Nicolae Ceausescu, der sein Volk ausgesaugt hatte. Neue politische Vampire traten auf, die sich als gute Patrioten sahen und krampfhaft versuchten, grosse Traditionen und mythische Gestalten auszugraben. Unter anderem auch den mit Transsilvanien verbundenen Dracula-Mythos. Der Tourismusminister höchstpersönlich plante einen gigantischen Dracula-Park, der mit viel Korruption und zwielichtigem Geschäftsgebaren realisiert werden sollte, aber schliesslich am Widerstand aus der Bevölkerung scheiterte.

    Von diesem Vampirismus und dem Weiterleben der vielen Untoten in Rumänien erzählt der Roman «Die nicht sterben» von Dana Grigorcea sehr spannungsvoll und mit poetischer Kraft. Sie zeigt, was mit einer Gesellschaft geschieht, die lieber schlechte Geister der Vergangenheit weckt, als sich der Gegenwart zu stellen. Insofern ist es ein Roman, der weit über Rumänien hinaus aktuell ist.

    Buchhinweis:
    Dana Grigorcea. Die nicht sterben. Penguin Verlag, 2021.

  • Als Donald Trump gewählt wurde, schrieb die Philosophin und Publizistin Carolin Emcke zum ersten Mal Tagebuch. Als Corona ausbrach, nahm sie den Faden wieder auf. «Journal. Tagebuch in Zeiten der Pandemie» ist berührender Rückblick auf ein bewegtes Jahr und Denkanstoss für eine ungewisse Zukunft.

    Wird uns das Virus in ein dystopisches Dasein stürzen? Oder wird es uns anspornen, das Beste aus uns herausholen? Wird sich unser Blick auf die Welt weiten? Oder igeln wir uns noch mehr ein? Werden wir zu mehr Verantwortung finden? Oder werden wir, «wenn das da vorbei ist», hedonistischer und rücksichtsloser leben denn je?

    Carolin Emcke veröffentlichte ihr Tagebuch zuerst in Form von Kolumnen in der Süddeutschen Zeitung, vom 23. März bis zum 29. Mai 2020. Im November 2020 versah sie es mit einem ausführlichen Postskriptum. Zusammengenommen bilden die Einträge einen Fundus an Fragen, die uns noch lange beschäftigen werden.

    Carolin Emcke im Gespräch mit Franziska Hirsbrunner im Rahmen des SRF-Kultur-Programmschwerpunkts «Mutig in die Zukunft – Geschichten vom Gelingen».

    Buchhinweis:
    Carolin Emcke. Journal. Tagebuch in Zeiten der Pandemie. S. Fischer Verlag, 2021.

  • Im Roman «Die Eroberung Amerikas» begibt sich Franzobel auf die Spuren des erfolglosesten Konquistadors überhaupt: Hernando de Soto, dessen Florida-Expedition ein einziges Debakel war. Ein Gespräch mit dem österreichischen Autor über europäische Eroberung, indigenes Leid und deren Folgen.

    Am Schluss bleibt nur noch Depression. Der spanische Eroberer Hernando de Soto sitzt in seinem Zelt am Mississippi und versinkt in Eifersucht wegen einer Frau, die er nie geliebt hat. Seine Mannschaft, einst achthundert gut ausgerüsteter spanischer Haudegen, ist auf ein Viertel geschrumpft, und das, was davon übrig ist, befindet sich in erbärmlichem Zustand. Kaiser Karl des Fünften Florida-Expedition, dessen Anführer der stolze und mächtige Hernando de Soto gewesen und dessen Ziel das legendäre Eldorado gewesen ist, ist gescheitert. Zurück bleibt eine Spur der Verwüstung und die Leichen unzähliger indigener Menschen im Gebiet der heutigen Südstaaten.

    Auf 550 Seiten erzählt der österreichische Schriftsteller Franzobel vom Scheitern de Sotos und von der Epoche des 16. Jahrhunderts, die er als die brutalste und blutigste überhaupt betrachtet. Er verbindet die Zeit der Eroberungen mit der heutigen Zeit, indem er einen Erzählstil entwickelt, der immer vom Heute ausgeht. Und er wandelt dabei auf dem schmalen Grat zwischen beissendem Humor und abgrundtiefen Entsetzen über eine Brutalität und Menschenverachtung, die in der langen und blutigen Menschheitsgeschichte seinesgleichen sucht.

    Buchhinweis:
    Franzobel. Die Eroberung Amerikas. Zsolnay Verlag, 2021.

  • Freundschaft, Liebe, Tod – in «Hard Land» erzählt der deutsch-schweizerische Autor Benedict Wells subtil von einem Teenager, der während eines Sommers geballt mit der Wucht des Lebens konfrontiert wird. Und dadurch mit sich selbst. Der Erfolgsautor ist zu Gast bei Felix Münger.

    Benedict Wells letzter Roman «Vom Ende der Einsamkeit» stand über lange Zeit auf den Bestsellerlisten. Wells nunmehr fünfter Roman «Hard Land» erzählt erneut von existenziellen Erfahrungen, und wie diese uns prägen.

    Im Zentrum steht der Mitte der 1980er Jahre in einem verschlafenen Nest in Missouri lebende fünfzehnjährige Sam. Er erzählt, wie er während «des schönsten und schrecklichsten Sommers» seines Lebens erstmals echte Freunde findet, sich verliebt und gleichzeitig die Erfahrung des Todes macht.

    In diesem gekonnt erzählten Coming-of-Age-Roman macht sich Benedict Wells auf die Suche nach dem Lebensgefühl der 1980er. Gleichzeitig zeichnet er feinfühlig die zeitlose emotionale Ambivalenz des Erwachsenwerdens nach.

    Im Gespräch erzählt Benedict Wells, was ihn am Genre des Coming-of-Age-Romans gereizt hat. Und warum er 36 werden musste, um sich der Pubertät literarisch zu nähern.

    Buchhinweis:
    Benedict Wells. Hard Land. Diogenes, 2021.