Folgen
-
Aus heutiger Sicht scheint es absurd von einem "Großdeutschland" zu reden. Aber vor noch nicht mal 100 Jahren war das ein Thema. Ein wichtiges sogar. Eines, das über Parteigrenzen hinweg diskutiert wurde. Und bei dem der Grat ins völkisch-nationalistische ziemlich schmal war.
-
Vor über einem Jahr habe ich euch hier im Podcast mit einer Geschichte zurückgelassen, die nach sich nach seiner Rückkehr nach Deutschland abgespielt hat. Zu einer Zeit als seine beiden Eltern - und meine Großeltern - beide im Gefängnis saßen. Meine Oma im Frauengefängnis in Vechta. Und mein Opa im Spionage-Abwehr-Gefängnis in Wilhelmshaven beziehungsweise im Reichssicherheitshauptamt in Berlin.
-
Fehlende Folgen?
-
Heute ist der 21. Februar 2020. Heute wäre mein Vater 89 Jahre alt geworden. Heute ist auch der Tag nach dem rechtsextremen Anschlag auf zwei Shisha-Bars und einen Kiosk im hessischen Hanau bei dem der Attentäter neun Menschen ermordet und sechs weitere verletzt hat. Im Anschluss an die Tat tötete er seine Mutter und sich selbst.
Als ich am Donnerstagmorgen das erste Mal von dem Anschlag höre und lese, habe ich noch keine Worte für das, was passiert ist. Ich kann nicht mehr schreiben als:
"Mir ist es zu früh, um irgendetwas konkretes dazu zu sagen, aber: Es bricht mir das Herz 💔😔 Das ist nicht die Welt, in der ich leben will."
Heute habe ich Worte, vielmehr habe ich eine Geschichte für euch. -
Von all den Texten, die mein Großvater und seine Mitstreiter veröffentlicht haben, taucht einer immer wieder ausführlich auf. Er trägt den Titel: "So wollen wir Deutschland" und erscheint in Heft 12 von "Die Kameradschaft" im Dezember 1938. Darin ist unter anderem folgender Abschnitt enthalten:
"Schwer lastet das Joch der Gewaltherrschaft auf Deutschland. Das deutsche Volk ist durch das totalitäre Hitlersystem seiner Freiheit beraubt, rechtlos und unterdrückt. Die Würde des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes ist durch die Systematisierung der Anträgerei, Verleumdung, des Betruges und der Heuchelei, durch den totalen Terror vernichtet. Durch ihre imperialistische Machtpolitik droht die Hitlerregierung, das deutsche Volk in den Krieg zu stürzen und somit seinen Untergang herbeizuführen."
Welchen Ideen und Visionen für ein friedliches und freies Deutschland die Widerstandsgruppe um Theo Hespers in diesem Text entwickelt und warum ausgerechnet die so gefährlich sind, dass sie sogar im Todeesurteil gegen Theo Hespers ausführlicher besprochen werden, darüber spreche ich in dieser Ausgabe mit dem Historiker Patrick Bormann. -
Wo fängst du an ein Feuer zu löschen, wenn es eigentlich schon überall brennt? Welche Themen setzt du in einer Widerstandszeitschrift, wenn du informieren und aufklären, aber eben auch möchtest, dass deine Leser wütend genug werden, um endlich aufzubegehren? Und was, wenn sich die Gewalt eines Regimes im Prinzip gegen jedes Menschliche, alles Humane richtet?
Seit Stunden blättere ich durch die Artikel, die mein Großvater und seine Mitstreiter Anfang 1939 in der Widerstandszeitschrift "Die Kameradschaft" veröffentlich haben. Ich lese jeden einzelnen, mache mir Notizen. Aber nicht einmal ist die Lage der Juden im Deutschen Reich 1939 ausführlich Thema. Und das, obwohl sich deren Lage dramatisch zuspitzt. Warum? -
"Die ganze Welt ist tief erregt über das, was in Deutschland geschieht. Das Wort 'Pogrom' ist in aller Mund. Man glaubt, damit die Ausschreitungen als besonders barbarisch zu kennzeichnen. Aber man erkennt nicht, dass das, was da geschehen ist, schlimmer ist als ein Pogrom."
So beginnt der Artikel über die Geschehnisse bei den Novemberpogromen vom 9. auf den 10. November 1938. -
Im September 1938 kommen zwei weitere Jugendliche in Amsterdam an. Heinz S.* genannt "Lux" und sein Freund Bruno Ciepiela genannt "Bruzzi". Die beiden jungen Männer sind damals zwischen 17 und 19 Jahre alt. Und zumindest Bruzzi scheint ein ziemlich verschlagenes Kerlchen zu sein ...
-
Fast 30 Grad im Schatten. Um mich herum wuseln Menschen mit Regenbogenflaggen und wackelnden Penis-Hörnchen-Haarreifen. Sie plappern fröhlich. Ein Mix aus Sprachen. Hinter mir rattert eine Bahn vorbei, Fahrräder, Bromfietsen … mir wird ganz schwindelig, während ich auf das Haus starre, in dem die Widerstandszeitschrift Kameradschaft entstanden ist.
-
Januar 1938. Fünf Jahre ist die Hitler-Regierung bereits an der Macht. Aber das Jahr 1938 wird die Situation vieler Menschen in Deutschland noch einmal verschärfen. Das konnten mein Großvater und seine Mitstreitern natürlich noch nicht wissen als sie im Januar 1938 die dritte Ausgabe der “Kameradschaft” veröffentlichten, aber vielleicht haben sie es geahnt.
-
Sommer 1937. Ein belgischer Pfarrer reist durch Deutschland um sich selbst ein Bild davon zu machen, ob und, wenn ja, wie sehr seine Glaubensbrüder und -schwestern vom NS-Regime unterdrückt werden. Was er erlebt ist subtil und vielleicht gerade deshalb so bedrohlich. Denn aktiven Widerstand erlebt er kaum.
-
Dieser Artikel ist eine Zäsur. Und ich weiß gar nicht so recht, wie oder wo beginnen. Denn einerseits seid ihr schon eine ganze Weile mit mir auf einer sehr persönlichen Reise unterwegs. Andererseits möchte ich euch nicht in Schock oder Trauer versetzen. Wohl wissend, dass ich auf beides keinen Einfluss habe. Nicht so richtig zumindest.
Aber es gehört wohl zur Reise eines jeden Menschen auf diesem Planeten, dass wir Weggefährten verlieren. Und für alle, die es noch nicht in den sozialen Netzwerken gelesen haben oder diesen Blog nur unregelmäßig verfolgen, ist das hier wahrscheinlich neu: Heute vor genau fünf Wochen – am 31. Januar 2018 – ist mein Vater im Alter von 86 Jahren gestorben. -
Eigentlich galt mein Interesse in der ersten Ausgabe der Kameradschaft nur den beiden Artikeln von Plato und meinem Großvater. Aber dann stoße ich auf einen weiteren Artikel: "In der Reichsjugendführung – Bericht eines Engländers". Der Titel hat mich jetzt nicht übermäßig gereizt. Aber der erste Satz hat es wieder rausgerissen:
"In der Zeit zwischen April und September des vorigen Jahres habe ich drei Monate in offizieller Stellung im «Auslandsamt» der «Reichsjugendführung» (RJF) in Berlin gearbeitet."
Bitte was?! Ein Engländer in der Reichsjugendführung in Berlin? 1937? Sorry, aber da musste ich gleich erst mal den Namen googlen. Der Artikel ist mit D. C. Yalden-Thompson unterzeichnet. Es dürfte nicht allzu viele Menschen mit dieser Namenskombination geben. Und tatsächlich finde ich einen David Cron Yalden-Thompson, Philosophie-Professor in den USA an der University of Virginia. 1919 im britischen Dorset geboren, war Yalden-Thompson also grade mal 18 Jahre alt als er den Artikel für die Zeitschrift meines Großvaters schrieb – und als er sich in der Höhle des Löwen befand. Was er allerdings über die Reichsjugendführung schreibt, ist unfassbar entlarvend - und deckt sich mit den Beschreibungen, die ich in der invertito gefunden habe. -
Während sich Plato vor allem mit dem militärischen Teil und den innenpolitischen Querelen des NS-Regimes auseinandersetzt, liegt der Fokus von meinem Großvater ganz klar auf dem, was der katholischen Jugend passiert. Beziehungsweise mit den Leitern der katholischen Jugendgruppen. Sein Artikel beschäftigt sich mit dem Rossaint-Prozess.
-
November 1937 – der erste Versuch der Widerstandsgruppe, sich im niederländischen Exil gegen die Nazis zu verbünden ist gescheitert. Aber mein Großvater Theo und sein Freund Plato alias Dr. Hans Ebeling denken gar nicht daran aufzugeben. Im Gegenteil. Es ist ihnen gelungen, genug Geld aufzutreiben, um eine eigene Zeitschrift zu gründen: “Kameradschaft – Schriften junger Deutscher”.
-
Im Sommer 1937 reist Theo Hespers zu einer katholischen Friedenskonferenz nach Dublin. Im Verhörprotokoll seiner Geliebten, Antonia Verhagen, finde ich die Aussage, dass von dieser Veranstaltung ein Foto existiert - mit meinem Großvater drauf! Das Problem: Ich habe weder eine Ahnung, wie die Veranstaltung hieß, noch wann sie stattgefunden hat. Aber Dank Google werde ich fündig - und stoße auf noch mehr Informationen, die ich so nicht erwartet hätte. Nur das Foto habe ich bis heute nicht gefunden.
-
In den Gestapo-Akten ist immer wieder von der DJF, der "Deutschen Jugendfront" die Rede. Dass es diesen Zusammenschluss wirklich gab, ist fraglich. Aber er war in Planung. Für die offiziellen Vertreter der deutschen Jugend im Dritten Reich waren diese Bestrebungen lebensgefährlich. Denn viele von ihnen führten ein Doppelleben - weil sie homosexuell waren. Und während die DJF an einem Komplott aus Berlin scheitert, tritt eine neue Hauptfigur in die Reihen der Widerstandskämpfer: Die Unternehmerin Selma Meyer.
-
"Invertito - Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten" steht auf dem Cover des Buches, in dem wohl die umfangreichsten Informationen über das Widerstandsnetzwerk meines Großvaters stehen. Ein guter Freund meines Vaters hat das Buch gefunden. Aber nicht, weil er den Inhalt kannte. Nein. Auf dem Schwarzweiß-Cover des Taschenbuchformats ist neben vielen anderen Fotos unten rechts die Titelseite eines Buches abgedruckt, das er sehr gut kannte. Zu sehen ist der Titel von „Die Kameradschaft“ - das ist die Widerstandszeitschrift, die mein Großvater im niederländischen Exil zusammen mit seinem Freund Plato herausgegeben hat.
Quellenangaben, Links und Fotos findet ihr im zugehörigen Blog-Artikel: http://www.die-anachronistin.de/en/30-organisierter-widerstand-und-der-paragraf-175/
Musik: Anja Arnold | http://www.klangbuedchen.de
Sprecher: Klaus Jansen und Benjamin Weber
Sprecherin: Rebekka Endler -
Die Mitarbeit an dieser Zeitschrift war meinem Großvater aus zweierlei Gründen wichtig: Zum einen konnte er so natürlich zum Widerstand aufrufen und zumindest die katholische Gemeinde darauf aufmerksam machen, dass der katholische Glaube mit dem Nationalsozialismus nicht vereinbar ist (Stichwort Nächstenliebe). Zum anderen brauchte er aber auch das Geld. Schließlich wurde er von einem katholischen Flüchtlingskomitee unterstützt. Es gab da nur einen klitzekleinen Haken. Mein Großvater war zwar gläubig und tief überzeugt von der Richtigkeit der christlichen Werte. Der Kirche als Institution stand er allerdings mehr als kritisch gegenüber. Wenn also Pater Muckermann zu Besuch kam, musste also ein bisschen Theater her. Und das sind die Geschichten, an die sich mein Vater mehr als gerne erinnert.
Musik: Anja Arnold | http://www.klangbuedchen.de -
Mein Großvater hat als Journalist in den Niederlanden gearbeitet - auch wenn er das rein rechtlich gesehen gar nicht durfte, denn Emigranten oder Flüchtlinge aus Deutschland durften sich nicht politisch engagieren, geschweige denn arbeiten. Trotzdem hat da in den Niederlanden kein Hahn nach gekräht. Nur ein paar Kilometer weiter hinter der Grenze - in Deutschland - hätte er dafür im Knast gesessen. Und nicht nur das, sie hätten ihn zum Tode verurteilt, weil er aus den Niederlanden heraus die deutsche Regierung kritisiert hat. Und Deniz Yücel? Sitzt in der Türkei im Gefängnis, weil er in seiner Funktion als Journalist die türkische Regierung kritisiert hat. Aus Deutschland heraus, aber auch in der Türkei. Wäre er hier in Deutschland geblieben, hätte er sich mit Hass-Kommentaren und Morddrohungen auseinandersetzen müssen. Aber er wäre ein freier Mann. Die deutsche Regierung hätte ihn dafür nicht bestraft.
Musik:
Anja Arnold | http://www.klangbuedchen.de
Stimmen:
Sebastian Sonntag | http://www.sebastiansonntag.de
Anna Kohn -
Kennt ihr die Theorie von der wellenförmigen Bewegung, die Zivilisationen durchlaufen? Wir entwickeln uns, erreichen ein zivilisatorisches Hoch gekennzeichnet durch schnelle Entwicklung, Reichtum und Frieden, und dann geht’s wieder eine Runde abwärts. Menschen werden ärmer, die Entwicklung stagniert und statt friedlich miteinander zu leben, brechen wir einen Krieg vom Zaun, nur um in der Folge erneut aus Schutt und Asche aufzuerstehen und dann den nächsten Entwicklungsschritt zu machen...
- Mehr anzeigen