Episoder

  • Der bekannte dĂ€nische Philosoph SĂžren Kierkegaard hat einmal geschrieben: „Man kann das Leben nur rĂŒckwĂ€rts verstehen, aber leben muss man es vorwĂ€rts.“ Ein Zitat, dem, neben mir, sicher viele so zustimmen wĂŒrden und das mir immer mal wieder in den Sinn kommt. Doch was wĂ€re, wenn die Möglichkeit bestĂŒnde an einen gewissen Punkt in seinem Leben zurĂŒckzureisen und das mit dem Wissen und den Erkenntnissen, die man in seiner Gegenwart hat? Sicher ein verlockender Gedanke, hat sich vielleicht auch der aus Osaka, Japan stammende Toshikazu Kawaguchi gedacht, als er die Idee zu seinem Buch Bevor der Kaffee kalt wird hatte, welches 2015 im japanischen Original und 2018 auf Deutsch im Knaur Verlag erschien.

    Schauplatz seines Romans ist ein CafĂ©, das den Namen Funiculi Funicula trĂ€gt und gleichzeitig der Titel eines bekannten neapolitanischen Volksliedes ist. Das kleine CafĂ© verfĂŒgt nur ĂŒber drei Tische mit je zwei PlĂ€tzen und einen Tresen mit drei StĂŒhlen. Durch die gedĂ€mpfte Beleuchtung, der Patina an den WĂ€nden und drei alten Uhren, die alle unterschiedliche Zeiten anzeigen, versprĂŒht es einen gewissen Charme und ist im Sommer gleichzeitig angenehm kĂŒhl, obwohl keiner so richtig sagen kann, warum eigentlich. Außerdem rankt sich um das CafĂ© die Legende, dass es hier die Möglichkeit gibt, in die Vergangenheit zurĂŒckzureisen. Und tatsĂ€chlich ist es möglich, doch nur unter Einhaltung einiger strenger Regeln. Die fĂŒnf wichtigsten werden dem Lesenden schon im Prolog des Romans eröffnet und lauten wie folgt: „ 1. Nur diejenigen Menschen kann man in der Vergangenheit treffen, die ebenfalls das CafĂ© besucht haben. 2. Man kann in der Vergangenheit nichts tun, um den Ausgang der Ereignisse in der Gegenwart zu beeinflussen. 3. Wenn ein anderer Gast auf diesem magischen Stuhl sitzt, muss man warten, bis er diesen freigibt. Erst dann kann man sich niederlassen. 4. WĂ€hrend man sich in der Vergangenheit aufhĂ€lt, darf man unter gar keinen UmstĂ€nden aufstehen. 5. Der Aufenthalt in der Vergangenheit ist zeitlich begrenzt. Man muss aus ihr zurĂŒckkehren, bevor der Kaffee kalt geworden ist.“ (S.6/7) Es kommen noch ein bis zwei weitere Schwierigkeiten hinzu, die im Verlauf der Handlung erlĂ€utert werden, die Handelnden aber nicht davon abhalten, den magischen Stuhl zu benutzen und in die Vergangenheit zu reisen. Dabei gliedert Kawaguchi seine Story in vier Kapitel, wobei jedes Kapitel aus einem Paar besteht, dessen Geschichte im Fokus steht. Das sind: Die Liebenden, Das Paar, Die Schwestern und Mutter und Kind.

    Soweit so gut. Zwar ist das Motiv des Zeitreisens nicht neu, aber ich fand die Herangehensweise inklusive des Regelkatalogs – und Regeln braucht es fĂŒr das Zeitreisen, das ist völlig klar – recht interessant. Das Reglement macht ebenfalls von Anfang an deutlich, dass es in diesen vier Episoden nicht darum geht, die Gegenwart durch eine Reise in die Vergangenheit zu Ă€ndern, sondern eher ein LehrstĂŒck zu sein, eine verpasste Gelegenheit zu nutzen, etwas besser zu machen. Ich fand es eine schöne Idee und versprach mir auch Kurzweil – vom als Weltbestseller bezeichneten Werk – war letztlich aber doch recht enttĂ€uscht. Die Sprache und Beschreibungen der Situationen wirkten eher hölzern auf mich, was zum Einen an der Übersetzung liegen kann, vom Englischen ins Deutsche wohlgemerkt, also mit Zwischenschritt, aber dennoch ein Fakt, den ich nicht wirklich beurteilen kann. Zum Anderen könnte es auch der Tatsache geschuldet sein, dass es zunĂ€chst als TheaterstĂŒck aufgefĂŒhrt wurde und erst nach seinem großen Erfolg als solchem zu Kawaguchis literarischem DebĂŒt wurde. Außerdem empfand ich es als störend, dass viele Informationen sehr oft wiederholt werden. Was bei dem Regelwerk fĂŒrs Zeitreisen, zumindest am Anfang, fĂŒr Vergessliche wie mich noch nĂŒtzlich ist, nervt spĂ€testens beim dritten Mal nur noch. Auch die stereotypen Beschreibungen der Protagonist:innen fielen mir regelmĂ€ĂŸig auf und sind etwas, womit ich mich nicht anfreunden kann und will. Sicher ist es nicht mein erster Roman eines japanischen Autoren und die abweichenden Werte- und Moralvorstellungen zu beispielsweise uns EuropĂ€ern wurden auch im Studio B Kollektiv bereits diskutiert. Dennoch waren mir die Beschreibungen oft einfach zu plakativ, die Frauen immer zu schön und wenn sie dann doch mal einen jĂŒngeren Partner haben, hat der natĂŒrlich einen Vollbart und sieht wenigstens 10 Jahre Ă€lter aus als sie, alles andere wĂ€re ja undenkbar.

    Unvorstellbar fĂŒr mich wiederum, dass es mittlerweile sogar noch zwei Fortsetzungen des Romans gibt. Ich sage es mit meinen Worten: Das Buch hat mich einfach nicht abgeholt. Obwohl ich die Idee und Herangehensweise grundsĂ€tzlich gut fand, hat mich die Umsetzung weder berĂŒhrt noch ĂŒberzeugt. Vielleicht ist die alte Was-wĂ€re-wenn – Frage gar nicht so wichtig und Kierkegaard hatte natĂŒrlich recht, im RĂŒckblick kann man viele Dinge besser verstehen, aber ein nach vorn gewandtes Leben ist manchmal oder oft wichtiger. Daher möchte ich mit etwas Positivem enden und an dieser Stelle statt Bevor der Kaffee kalt wird doch lieber die bereits von mir besprochene Sayaka Murata mit ihren herrlich schrĂ€gen Romanen empfehlen, fĂŒr diejenigen, die es nach japanischer LektĂŒre dĂŒrstet.



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  • Stefanie Sargnagel ist eine lustige, 38-jĂ€hrige Schriftstellerin und Karikaturistin aus Wien. Keine dieser Aussagen wĂ€re fĂŒr mich als Freund der Trennung von KĂŒnstlerin und Werk relevant, es sei denn, die Autorin neigt zur Autobiografie - was die Sargnagel tut. Die Benennung geschieht absichts- und respektvoll, wie bei “der Dietrich”, denn die Sargnagel neigt zum Diventum, auch das kaum wertend postuliert, zumal dieses modernst daher kommt - dazu spĂ€ter mehr.

    Dass sie lustig ist, ist mir die liebste Eigenschaft an Frau Sargnagel. Wer sich in diesen Dingen gar nicht auskennt, bemerkt das spĂ€testens bei einer ihrer Lesungen, wenn, wie das in Deutschland Sitte ist, die Mehrzahl der Zuschauer ihre Humorkompetenz durch ĂŒberhĂ€ufiges Lachen zur Schau stellen. Das betreiben professionelle Lesungsbesucherinnen in verschiedenen Sportarten: das laute Juchzen, wenn es ein wissendes LĂ€cheln getan hĂ€tte; das Weiterlachen, wenn alle schon aufgehört haben (im verwirrten Glauben, der Autorin damit einen Extraboost an Zuneigung ĂŒberzuhelfen); die Unart des absichtlich deplazierten Lachens, wenn nichts, weder intendiert noch zufĂ€llig, auch nur ansatzweise lustig war, damit alle denken, sie hĂ€tten was verpasst. Dazu gibt es das, verzeihliche, Lachen, wenn eine Pointe erst zwei SĂ€tze spĂ€ter ankommt. (Wir betreiben hier kein earnest-shaming, you are safe, lieber Leser.) Das Ergebnis dieses Unsinns ist, dass man kaum Zeit findet, der Frau auf der BĂŒhne zu lauschen. Wenigstens zeigt all das bekloppte Affektieren selbst dem stockernstesten Leser, dass diese Stefanie Sargnagel wohl lustig ist, wenn auch fĂŒr den Preis, dass Herr Falschgold zu dieser Folter nicht mehr hin kann.

    Mein Eindruck bei einer dieser Lesungen hier in Dresden vor zwei Jahren war, dass auch Frau Sargnagel diesen Quatsch nicht braucht. Ich bin sicher, dass österreichische Lesungspublikum ist leicht angenehmer, aber halt auch viel zu klein. Als deutschsprachige Autorin muss man den großdeutschen Wirtschaftsraum beackern, sonst kann man sich selbst die legendĂ€r gĂŒnstige Wiener Gemeindewohnung auf Dauer nicht leisten. So dachte sich das, so vermuten wir, Stefanie Sargnagel, erschöpft nach besagter Lesung. Wir hatten den Eindruck, sie schaute zwischen den gelesenen Kapiteln voller Sehnsucht in Richtung bĂŒhnenrechts, mittig, Reihe 20, in der sich eine Insel der sanguinen Humorandacht inmitten des brĂŒllenden FalschgelĂ€chters behauptete, bestehend aus drei Rezensentinnen eines lokalen Literaturnewsletters und -podcast. Anyway, erleichtert zurĂŒck in Wien fand Frau Sargnagel im Briefkasten einen Brief aus Amerika, enthalten die Einladung zu einer Gastprofessur an einem liberalen College im Bundesstaat Iowa. Wow, eine weltweite Karriere war in Aussicht, im reichsten Land der Erde. Gemeindewohnung gerettet!

    War aber zu dem Zeitpunkt schon gar nicht mehr nötig, denn die KĂŒnstlerin hatte damals schon soviel Reichtum angehĂ€uft, dass sie sich leicht verschĂ€mt eine Eigentumswohnung in der österreichischen Hauptstadt gekauft hatte. Das ist kein Richenshaming, es war ihr selbst ein wenig peinlich, es ist auch kein papparazihaftes Stalking, denn, siehe oben, der Sargnagels Ding ist das verschĂ€mt-stolze Divaing, wie sich das heute gehört auf Insta, Millennialstyle FTW.

    Damit haben wir auch die unelegante AlterserwĂ€hnung im ersten Satz begrĂŒndet. Es brauchte diese PrĂ€zision, gibt es nun mal einen Unterschied, wie man Instagram & Co. betreibt, je nach Grad des Fortschreitens der altersbedingten körperlichen und geistigen Entropie - da ist das Baujahr wichtig.

    Vielleicht hatte sich die Sargnagel damals auch nur angemeldet, im Netzwerk der Eitlen, weil ein visuelles soziales Medium einer Zeichnerin nun mal die bessere Plattform bietet als so ein olles Blog. Und ja, ich habe oben Karikaturistin geschrieben, aber ich bin sicher, dass sich Frau Sargnagel selbst eher als “Zeichnerin” sieht. Aber das war mir nicht eindeutig genug im Einleitungssatz. Zeichner können ja auch so leicht unlustige Leute sein wie Picasso, DĂŒrer oder George W. Bush, da wollte ich kurz und leserfreundlich einordnen. Und der Sargnagel Meisterwerke sind nun mal Karikaturen, wie diese hier, welche all meine Zuschreibungen in der Einleitung zusammenfasst: lustig, altersweise und wortgewandt prĂ€sentiert Stefanie Sargnagel diesen BrĂŒller:

    Ick lach mir jedesmal schief, wenn ich mir den Quatsch vorstelle. Er ist ein Kommentar zu den Irren in der Pandemie und damit wird sie einerseits komplett falsch sein im landwirtschaftlichen Redneck-Iowa (USA) und gleichzeitig genau richtig in der Oase des dort mittendrin gelegenen Grinnell College for Liberal Arts. Auf nach Amerika also!

    Davon berichtet uns auf 300 Seiten die berĂŒhmte österreichische KĂŒnstlerin. So wird sie am College immer wieder eingefĂŒhrt, und wer sind wir zu widersprechen. Es entspricht in etwa dem Selbstwert, den sich die Sargnagel selbst zuspricht, natĂŒrlich immer impliziert der RĂŒckzieher: “Ist ja alles nur Ironie”. Damit sich keine Selbstzweifel einschleichen, so ganz alleine in der amerikanischen Pampa, hat sich die Amerikaentdeckerin Begleitung organisiert: auf der Hinreise eine Freundin, auf der RĂŒckreise die Mutter. Da denkt jemand praktisch, wir diggen. (Sagt man das noch?) Die Freundin ist ganz neu in Stefanies Leben, aber schon ganz, ganz lange eine Begleiterin des unseren: die ĂŒbercoole Christiane Rösinger!!! WTF?!1! Lassie Singers, PaarbeziehungsaufklĂ€rerin, coole Socke! Man hat sich gefunden wie so zwei Magnethunde, beschreibt uns die Autorin kurz im ersten Kapitel, und weil die Rösinger (auch eine Diva, nur anders!) selbst ein Buch geschrieben hatte (nur halt schon 2012) darf sie von unten aus den Fußnoten der Steffi den Blödsinn kommentieren. Eine brillante Idee, man sieht die beiden vor sich, wie sie sich ergĂ€nzen, die eine auf dem Sofa, die andere auf dem La-Z-Boy in ihrer TV-zappenden NormalitĂ€t und sich gegenseitig, wie aufgewacht, anstachelnd, wenn sie gemeinsam einen Comedyclub besuchen und “Den S**t können wir doch auch!” rufend, von unten, sich nicht wohl fĂŒhlen inmitten des Fußvolks.

    Wenn es nicht das erste Buch ist, welches man von Stefanie Sargnagel liest, weiß man in etwa, was einen erwartet: reflektierte Kommentare zur Zeit aus der richtigen politischen und genderpolitischen Ecke, unterbrochen von schmerzlosem/-haftem Exhibitionismus. Man will definitiv nicht ihr Freund sein und das Buch lesen mĂŒssen, zu Hause geblieben, eine Kuschelkatze, wird uns berichtet. Er muss lesen, wie die Sargnagel rollig um eine Redneck-Barfly herumsteigt und innermonologisiert, worauf sie so steht in Liebesdingen (BĂ€rte, Behaarung ĂŒberhaupt) und worauf nicht (Vorspiel, Nachspiel). Zum GlĂŒck war er/sie schon zu breit, zumal sie, auch das ohne Filter berichtet, ein Kind haben will, und nicht nur so “haben wollen” sondern sehr, sehr dolle, biologisch-seelisch mĂŒssen-haben-wollen, JETZT. Da darf man nicht peinlich tun als Leser. Wenn die Autorin kein Problem damit hat, werden wir nicht anfangen zu gringen.

    Aber die Welt dreht sich natĂŒrlich nicht nur um die Schriftstellerin, und so gibt sie einen amtlichen Reisebericht ab. Ich war vor ĂŒber 10 Jahren dort, in the USA, (also general area, so 1500 km entfernt) und bin erschrocken, wenn man die aktuelle Situation mal nicht aus Blog-/Zeitungs-/Feed-Sicht beschrieben bekommt. Die USA versinken in Armut, Obdachlosigkeit, Rassismus, Klassismus, und Sargnagels Beschreibung der Szenerie, genauso filterlos vorgetragen wie die ihres Innenlebens, schmerzt. Wie fast unschuldig das Land war, 2011 und wie hoffnungslos es jetzt erscheint.

    Da hilft auch die Mutter nicht, die im letzten Teil des Buches die Tochter besucht. Eine toughe (ehemalige?) Sozialarbeiterin, die gleich mal anzeigt, dass man sich auch vorbereiten kann auf so einen Trip, Stichwort, Datenguthaben und verdient sich die Zuschreibung Cyborg-Mom von der Autorin zur Recht. Aber selbst der Mutter streetworker-toughness bricht im Angesicht des Elends der Obdachlosen von L.A., des Unterschieds zwischen Arm und Reich, der unĂŒberbrĂŒckbar scheint.

    Das lĂ€sst uns ein wenig traurig zurĂŒck, aber das muss manchmal sein und macht ein Buch von einer lustigen Autorin nicht weniger lesenswert. Viel blieb hier unerwĂ€hnt und harrt der fasst spoilerlosen Entdeckung durch die Leserin: crazy Wokerei am liberalen College, kulinarische Überraschungen, architektonische Katstrophen, the Amish, falsche und richtige, der Rösinger Altersweisheiten, der Sargnagel Jugendstil: es ist alles sehr, sehr schön!

    Und wer die Aufmerksamkeitsspanne nicht hat, geht halt zur Lesung und lacht an den falschen Stellen. Das hÀlt die Sargnagel aus.



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  • Manglende episoder?

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  • Das Studio B befindet sich in seinem Wechselmodell-Monat, in dem wir uns die Freiheit nehmen, auch andere Dinge als BĂŒcher zu rezensieren. So ganz komme ich aber vom Thema nicht weg und wĂ€hrend ich ĂŒberlegte, worĂŒber ich unsere Leser- und Hörer:innen diesen Sonntag informieren, ja womit ich sie vielleicht sogar erfreuen könnte, stieß ich zunĂ€chst auf Lou Andreas-SalomĂ©. Der Name der 1861 in St. Petersburg geborenen Schriftstellerin, Essayistin und Psychoanalytikerin aus deutsch-russischer Familie war mir durchaus ein Begriff, jedoch weniger aufgrund ihres Schaffens, sondern eher wegen der Kreise in denen sie gewirkt hat und der namhaften Zeitgenossen wegen, mit denen sie befreundet war. Namen wie Rainer Maria Rilke, Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud finden sich darunter. Da ich diesen ihren Zeitgenossen schon in anderen Rezensionen Aufmerksamkeit gewidmet habe – sei es die Interpretation von Rilkes Gedicht SchlussstĂŒck, Klaus Modicks Konzert ohne Dichter, in dem es ebenfalls autofiktional um Rilke und den Worpsweder KĂŒnstlerkreis geht, oder auch Irvin D. Yaloms Und Nietzsche weinte, unnötig zu sagen, wen wir hier antreffen – möchte ich mich dieses Mal auf Lou Andreas-SalomĂ© konzentrieren, die in zuletzt genanntem Roman ebenfalls eine Rolle spielt. Und wer vergessen hatte oder noch gar nicht wusste, dass es zu den jeweiligen Werken bereits Rezensionen von mir gibt, dem sei natĂŒrlich das Studio B Archiv empfohlen, in dem man diese alle nachhören kann. https://lobundverriss.de/studiob-archiv/

    Grundlage fĂŒr meine Rezension bildet der 2016 erschienene und neulich von mir angesehene Spielfilm von Cordula Kablitz-Post, der den Titel seiner Protagonistin Lou Andreas-SalomĂ© trĂ€gt. In diesem berichtet eine Ă€ltere Lou ĂŒber ihre Kindheit, aber vor allem von ihrem Leben als junge und erwachsene Frau, die weit gereist ist und stets versuchte, sich dem Eindruck ihrer Familie, speziell ihrer Mutter und den Konventionen der Gesellschaft zu entziehen und ihr Leben so zu leben, wie sie es fĂŒr richtig und gut empfand. WĂ€hrend sie – fĂŒr ihre Zeit undenkbar – mit Paul Ree und Friedrich Nietzsche freundschaftlich in einer Arbeitsgemeinschaft zusammenleben wollte, um gemeinsam zu schreiben, zu studieren und zu diskutieren, war ihre Mutter eher bestrebt, sie schnellstmöglich zu verheiraten. Doch die Wunschvorstellung von der „Dreieinigkeit“, wie sie es selbst bezeichnete, ging nicht auf. Beide Herren wollen SalomĂ© in eine Ehe drĂ€ngen, die sie von vornherein ausgeschlossen hat. WĂ€hrend sie mit Paul Ree jedoch trotzdem weiter freundschaftlich verbunden bleibt, fĂŒhrt ihre Weigerung gegen diese Ehe mit Nietzsche zum ZerwĂŒrfnis.

    SalomĂ© studierte Philosophie, Religionsgeschichte und Theologie und gilt als eine der ersten deutschen Psychoanalytikerinnen. Zwar musste sie ihr Studium in ZĂŒrich krankheitsbedingt abbrechen, doch ihrem Wissensdurst tat dies keinen Abbruch und so begann sie spĂ€ter, mit 51 Jahren, noch einmal zu studieren und besuchte Vorlesungen Sigmund Freuds, der gleichzeitig zur Vaterfigur fĂŒr sie wurde. Mit ihren wissenschaftlichen AufsĂ€tzen und Essays zur Rolle der Frau in der Gesellschaft und zur weiblichen SexualitĂ€t beeinflusste sie diesen zudem. Trotz der Tatsache, dass sie von ihren Zeitgenossen und darĂŒber hinaus fĂŒr ihren Intellekt, ihren Drang nach Wissen, ihre unkonventionelle Lebensweise und auch ihre Ausstrahlung sehr geschĂ€tzt wurde und in den KĂŒnstlerkreisen ihrer Zeit ein wichtiger Bestandteil war, ist ihr eigentliches Werk doch heutzutage grĂ¶ĂŸtenteils in Vergessenheit geraten oder wird zumindest kaum noch rezipiert. Ich denke, es ist an der Zeit, diesem wieder die nötige Aufmerksamkeit zu schenken.

    Wie es der Zufall so will, hatte ich kĂŒrzlich Besuch von einer guten Freundin, die mir ein kleines Heftchen mit dem Titel Eine Frau geht einen trinken. Alleine. der Autorin Lou Zucker, erschienen im Maro Verlag, schenkte. Schon seit Monaten hĂ€tte sie es fĂŒr mich zu Hause liegen gehabt und nun war endlich die Möglichkeit gekommen, es mir zu schenken. Nicht nur der Titel, auch die Illustration des Covers – eine Anlehnung an Edward Hoppers bekanntes GemĂ€lde Nighthawks, zog mich direkt in seinen Bann. Der Name der Autorin brachte mich – wir sind nicht ĂŒberrascht – auf die Idee, ihr Werk in meine Rezension einzubeziehen. Die 32 Seiten, die es umfasst, waren schnell gelesen und meine anfĂ€nglich Begeisterung bestĂ€tigte sich. Aber worum geht es?

    Die Autorin beschreibt uns zunĂ€chst, wie problematisch es sich einerseits fĂŒr sie als Frau anfĂŒhlt, allein in eine Bar zu gehen und wie selbstverstĂ€ndlich es im Gegenteil fĂŒr MĂ€nner ist. Oft ist es nicht möglich, als Frau einfach nur allein an der Bar zu sitzen und einen Drink zu nehmen. BeĂ€ugende und musternde Blicke von Seiten der MĂ€nner sind ihr dabei oft sicher und meist noch das geringste Übel. Oft werden Frauen, die allein unterwegs sind angesprochen, weil sie, einfach nur aufgrund der Tatsache, dass sie allein sind!, bei MĂ€nnern den Eindruck erwecken, dass sie angesprochen und abgeschleppt werden wollen. Eine andere Möglichkeit scheint völlig ausgeschlossen, weshalb MĂ€nner Frauen mitunter umso hartnĂ€ckiger bedrĂ€ngen, was wiederum zur Folge hat, dass es fĂŒr viele Frauen gar nicht in Frage kommt, allein in eine Bar zu gehen. Wie oft habe ich solche Situationen als Barkeeperin selbst erlebt, in denen ich letztlich auch eingreifen musste. Aber auch von der anderen Seite des Tresen ist mir das Problem durchaus bekannt, manchmal war ich dabei nicht mal allein, sondern habe mit einer Freundin am Tresen gesessen und selbst dann konnten die Typen ganz schön hartnĂ€ckig sein – zum GlĂŒck kann ich ziemlich harsch sein.

    Anhand dieser Problematik analysiert Lou Zucker, wieso das Alleine-Ausgehen bis heute eher MĂ€nnersache ist. Wir erfahren dabei, dass der physische öffentliche Raum, zu dem neben Parks und PlĂ€tzen eben auch Bars gehören, bis heute und vor allem nachts, oft mĂ€nnliches Territorium ist, wohingegen Frauen im privaten angetroffen werden und den Großteil an Pflegearbeiten ĂŒbernehmen. Der private und der öffentliche Raum und seine Entwicklung sind es, an dem uns Lou Zucker exemplarisch vor Augen fĂŒhrt, wie es zu den verschiedensten Abwertungen, Zuschreibungen und Diskriminierungen kommt, wobei sie sich dabei nicht ausschließlich auf Frauen, sondern auch auf FLINTA* bezieht. Thematisch reißt sie dabei sowohl die Hexenverfolgung als auch die Entwicklung des Frauenbilds vom 17. zum 18. Jahrhundert an, es geht um Sexarbeit und deren Stigmatisierung, Kolonialismus, Beispiele aus verschiedenen anderen LĂ€ndern, aber auch grundsĂ€tzliche Probleme in der Erziehung. Nun kommt vielleicht die Frage auf, wie sie das auf so wenigen Seiten schafft, aber sie schafft es. Informativ und nachvollziehbar, mit Belegen und Quellen untermauert und wunderbar illustriert von Josephin Ritschel.

    Was die beiden Lous jedoch unterscheidet ist Folgendes: WĂ€hrend Lou Andreas-SalomĂ© zwar Ă€ußerst bestrebt war, ein selbstbestimmtes Leben zu fĂŒhren, sich den gĂ€ngigen Konventionen nicht zu beugen und sie ebenfalls mit dem Großteil der Frauenrechtlerinnen ihrer Zeit vertraut war, geht es ihr dabei vor allem um ihren persönlichen Anspruch auf SelbststĂ€ndigkeit und Freiheit. In ihrem Werk selbst setzte sie sich jedoch nicht fĂŒr die Emanzipation der Frau ein und generalisiert diesen Anspruch damit nicht. Wohingegen Lou Zucker, wenn es um die Vorurteile und Zuschreibungen um Frauen geht, die allein ausgehen, ganz klar sagt: „Wie kann sich das endlich Ă€ndern? Reclaim the Night!“ Und uns fast ein kleines Handbuch mitgibt, um zu verstehen, wieso manche Dinge so sind, wie sie sind, aber damit auch deutlich macht, dass es schon immer Entwicklungen gegeben hat, alles im Fluss ist und auch wir etwas Ă€ndern können. Eine ganz klare Leseempfehlung.

    Und was Lou Andreas-Salomé angeht und die angesprochene, kaum vorhandene Rezeption ihres Werkes, so möchte ich mit einem ihrer Gedichte enden, welches auch im Film rezitiert wird und an dieser Stelle auch die Auseinandersetzung mit ihrer Person und ihrem Werk ganz klar empfehlen.

    Wolga

    Bist Du auch fern: ich schaue Dich doch an,

    Bist Du auch fern: mir bleibst Du doch gegeben -

    Wie eine Gegenwart, die nicht verblassen kann.

    Wie meine Landschaft, liegst du um mein Leben.

    HĂ€tt ich an deinen Ufern nie geruht:

    Mir ist, als wĂŒĂŸt ich doch um deine Weiten,

    Als landete mich jede Traumesflut

    An deinen ungeheuren Einsamkeiten.



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  • Die Vereinigten Staaten von Amerika haben den Kapitalismus nicht erfunden, aber betrachtet man die grĂ¶ĂŸte Wirtschaftsmacht der Welt, könnte man annehmen, sie hĂ€tten ihn am besten verstanden, weiterentwickelt, verbessert gar, ganz wertungsfrei, in seinen eigenen Parametern. Alles falsch, sie bringen ihn zur Strecke, argumentiert Yanis Varoufakis in seinem jĂŒngsten Buch “Technofeudalismus”. Nun ist es immer ein bisschen schwierig, jemandes Tod vorherzusagen, wenn er noch quicklebendig erscheint, aber so wie meine geriatrische Oma kurz vorm Himmelsflug nochmal nach einem Glas warmen Radeberger verlangte, let’s fly, Baby!, so geht’s “dem Kapitalismus” in den letzten Jahren und speziell Monaten scheinbar so gut wie nie, die Börsen brummen, Dividenden ĂČ le, los noch ein AktienrĂŒckkauf! Nein, so argumentiert Varoufakis, das sieht nur aus wie Kapitalismus, es ist etwas Neues.

    Wir lamentieren seit Jahrzehnten die zunehmende Ungleichheit “in der Welt” und dachten hoffnungsvoll, aber auch ein bisschen dumm, dass sich das nach der 2008er Weltwirtschaftskrise, nach der 2015er Eurokrise, come on, spĂ€testens nach der Pandemie von 2020 doch irgendwie ausgleichen muss - alle mussten leiden, das muss doch einen nivelierenden Effekt haben, die Schere zwischen Arm und Reich kann unmöglich grĂ¶ĂŸer werden - doch, wir haben uns alle getĂ€uscht. Wie gesagt, wir sind alle ein bisschen dumm. Das obere Prozent, Quatsch, die obere Promille fanden Wege, die “Krisen” fĂŒr sich zu nutzen und die gemeinschaftlichen Anstrengungen, meint, neu gedrucktes Geld in die eigene Tasche zu stecken. Die Gelddruckerei, eigentlich gedacht, je nach politischer Ausrichtung, zur “Ankurbelung der Konjunktur”, zur "Stabilisierung der Haushalte” oder einfach nur um f*****g Menschenleben zu retten: die Googles und Apples und Amazons schafften es, den Großteil davon in ihre Börsenkurse umzuleiten.

    Wie das genau passiert ist und was daraus folgt, wird im Buch “Technofeudalism” erklĂ€rt. Nun ist Varoufakis ein Wirtschaftswissenschaftler und damit in meiner persönlichen WertschĂ€tzungsskala theoretisch auf ganz dĂŒnnem Eis, wir sprachen erst letztens drĂŒber. Manche sagen sogar er sei ein Antisemit. Nun gut, wer ist das heute nicht. Aber Varou, wie wir Fanboys ‘n’ Gals ihn nennen, hat in meiner Buchhaltung eine Menge auf der Habenseite. Er war 2015 fĂŒr sechs Monate griechischer Finanzminister, und was er dort geliefert hat, war zu cool. Wie er den europĂ€ischen Finanzministern vorrechnete, wie falsch das ist, was sie da machen, fĂŒr die griechische Volkswirtschaft, aber auch fĂŒr ihre eigenen, und wie die das nicht interessiert hat, weil es ihnen nie um irgendeine Wirtschaft fĂŒrs Volk ging, sondern um eine fĂŒr die der zugrundeliegenden Wirtschaftsart namensgebenden Kapitalisten - es war mir ein inneres EU-Parlament. Das kulminierte in einer Episode, in der Varoufakis den leider viel zu spĂ€t verstorbenen Wolfgang SchĂ€uble mit seiner Fachkompetenz und dem hellenistischen Urglauben an die Demokratie so außer sich brachte, dass sich dieser selbst die pseudodemokratische Maske vom Gesicht riss, mit dem Ausspruch, dass Wahlen nichts Ă€ndern wĂŒrden, es gĂ€be Regeln, Pech gehabt, sie sind tief in den Statuten der EuropĂ€ischen Gemeinschaft verankert versteckt, und halt keine demokratischen, sondern urkapitalistische. Das soll man sich eigentlich nur denken, aber um Gottes Willen nicht laut sagen. Unter SchĂ€ubles FĂŒhrung rĂ€chten sich die nackisch gemachten europĂ€ischen Finanzminister an Varoufakis und raubten stellvertretend seine Landsleute aus. Aber das war eh der Plan. Yanis Varoufakis hielt seine schonungslose Ehrlichkeit ĂŒbrigens bis nach dem Ableben des Minister Stasi 2.0 am Lodern und hackte ordentlich nach. Dass man ĂŒber Tote nichts Schlechtes sagt, ist ohnehin eine vollstĂ€ndig ĂŒberflĂŒssige Regel. Wolfgang SchĂ€uble war als Politiker immer ein rĂŒcksichtsloser Drecksack. So, jetzt ist es raus.

    In seinem neuesten Werk “Technofeudalismus” erklĂ€rt uns Varoufakis also in dem ihm eigenen Stil das Ende vom Kapitalismus. Diesmal schreibt er nicht an seine Tochter, wie in seinem wohl erfolgreichsten Buch, sondern an seinen Vater, der Metallurg war. Diese gelegentlichen persönlichen Anreden im Text schwanken zwischen AufhĂ€nger und RĂŒhrstĂŒck und machen mich eher wirr, aber man kann drĂŒber hinweglesen und die Ideen dennoch verstehen: So wie es in der Antike UmwĂ€lzungen gab, ein halbes Jahrtausend vor Christi Geburt die von der Bronze in die Eisenzeit, beschrieben, oder besser: lamentiert von Hesiod, gibt es diese Paradigmenwechsel auch spĂ€ter. Es gab den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, also von einem System, welches auf der Verpachtung von Grund und Boden, vom König bis hinunter zum Fronbauern reichte, hin zu einem System, in dem man mit dem namensgebenden Kapital und ohne großen Grundbesitz reich werden konnte. Diese Hochzeit des Kapitalismus der reinen Lehre funktionierte bis zu einem Zeitraum in der zweiten HĂ€lfte des 20. Jahrhunderts, den Varoufakis, ĂŒbernommen vom Ökonomen John Kenneth Galbraith etwas steif als “Technostruktur” benennt und im Grunde eine finanzkapitalistische Planwirtschaft war, mit dem Ende des 2. Weltkrieges ausgedacht von und praktiziert zum Vorteil der USA. Ihr einziges Prinzip: der Dollar ist WeltwirtschaftswĂ€hrung. Diese Ära ging in zwei Schritten unter: einmal mit der AufkĂŒndigung der VertrĂ€ge von Bretton Woods und der Goldpreisbindung 1971 durch Richard Nixon und ein zweites Mal mit der Finanzkrise von 2008. In beiden Situationen trennte sich Geld von Kapital, man konnte auf einmal reich werden ohne Kapitalist zu sein. Statt wie frĂŒher mit Schmerbauch, Zylinder und Zigarre im Mundwinkel und einem Sack voll Kapital Sachen erfinden und ausbeutend produzieren zu lassen, damit man sie dann irgendwelchen Deppen verkauft und dabei stinkereich wird, gab es nun neue Wege zur Yacht. Bis 2008 mit der Spekulation mit den mittlerweile allbekannten “Derivaten”, also finanzmathematischen Konstrukten, die mit der RealitĂ€t nichts zu tun haben und dennoch “irgendwie” Geld abwarfen. Seit 2008 wurde das nochmal einfacher. Der weltweite Finanzmarkt war mal wieder nur fast gecrasht und wir alle beobachteten horrorfasziniert, wie der Kapitalismus sich der Schlinge mal wieder entzog, durch das mit "quantitatives Easing" herrlich benannte Drucken von Geld. Diese Gelddruckerei, immer schön verbrĂ€mt als die Rettung der “Wirtschaft” und damit von “uns allen”, you know, real aber natĂŒrlich nur eine Rettung der Banken, wurde nochmals befördert durch die Pandemie. Dieses gedruckte Geld landete jedoch zum allergrĂ¶ĂŸten Teil nie in “der Wirtschaft”, noch nicht mal bei “den Banken” sondern fast ausschließlich in den Aktienkursen weniger Unternehmen, und zwar ausschließlich solchen, die in der Branche tĂ€tig sind, die wir heute “die Cloud” nennen.

    Diese Cloud ist ein immaterielles Land in den Wolken, in dem wir mittlerweile alle tĂ€glich 16 Stunden verbringen. Wir sitzen ohne SchlĂŒpper in der Videokonferenz, und wischen parallel Tiktok, wir versuchen zwischen zwölf Werbebannern die spiegel.de app zu lesen und abends Netflixen und relaxen wir, weil wir vor Stress nicht schlafen können. Diese Cloud - und das ist der Clou und die große Theorie des Buches - hat aber nichts mehr mit dem Markt oder auch nur dem Kapitalismus zu tun. Sie ist wie ein feudales Kaiserreich aufgeteilt zwischen Königen mit Namen wie Musk, Zuckerberg und Bezos. Darunter sitzen deren Vasallen, die ihnen hörig sind, namentlich die Kapitalisten der alten Schule, die noch “Zeug” herstellen: Daimler, Bayer, Nestle, Hakle, die auf die Cloudkönigreiche angewiesen sind um ihre Produkte loszuwerden, den keiner geht mehr einkaufen, alles ist digital. Wir, die Mittellosen, also fast alle, sind in diesem neufeudalistischem Bild nicht nur die Tagelöhner, die den S**t kaufen, sondern gleichzeitig auch Fronbauern. Denn mit unserem permanenten Klicken, Wischen oder einfach nur auf den Screen starren leisten wir Fronarbeit, wir beackern das Land, Ă€h
, die Cloud, und machen sie mit unseren Daten zu dem was sie ist, auf dass die Vasallen und Könige diese Daten abschöpfen können und wissen, welchen Scheiß sie uns oben oder unten reindrĂŒcken sollen. Klingt logisch und wird von Wirtschaftswissenschaftlern wahrscheinlich in genau diesem Augenblick in Grund und Boden zerlegt, wie sie so sind, die Ökonomen, siehe mein letzter Studio B Beitrag.

    Das alles liest sich faszinierend und schlĂŒssig. Aber Theorien mĂŒssen nicht “stimmen”, und selbst ich, der ich mit Geld so gut umgehen kann wie ein schwĂ€bischer Hausmann, der sich im WeinstĂŒble den Frust von der Seele trinkt, weil er gerade als Leiharbeiter bei “Daimler” geschasst wurde, findet ein paar Löcher in Varoufakis Herleitung, aber ich werde mich natĂŒrlich hĂŒten, dem ehemaligen griechischen Finanzminister die Fehler in seinem Buch zu germansplaining!

    Wie gesagt, Theorien sind richtig oder falsch, who knows. Das Leben braucht keine Anleitung, oft reicht es, wenn dir jemand den Ansatz einer ErklĂ€rung liefert, fĂŒr den S**t, der dir schon lange auffĂ€llt. Dass es nur noch einen Onlineshop gibt, zum Beispiel, eine Suchmaschine, die jeder nimmt, obwohl sie schon lange kaputt ist, zwei Handybetriebssystem, die alles genau so ein bisschen andern machen, dass man nie wirklich wechseln kann und im Kino kommen die immer gleichen Superheldenfilme mit Cliffhangern, wer guckt den Scheiß?! Mit Varoufakis’ Buch haben wir eine ErklĂ€rung, warum das so ist und wir realisieren, wir sollten beginnen zu handeln. Nicht um den Lauf dieser Dinge aufzuhalten, das ist ziemlich zu spĂ€t. Aber so wie sich Bauern kaum gekĂŒmmert haben um den Voigt, bis er zweimal im Jahr kam, die Fron zu kassieren, können auch wir versuchen, ein richtiges Leben im Falschen zu fĂŒhren.

    Man muss zum Beispiel nicht die FAZ abonnieren, um Reportagen zu lesen, wenn man Krautreporter lesen kann, man muss kein Spotify haben, wenn man eine gemeinsame Musiksammlung hat (zumindest solange das alte Recht auf Privatkopie noch gilt). Man muss nicht allein versuchen, seinen nach zwei Jahren obsoleten Staubsaugerroboter zum Laufen zu bekommen, dafĂŒr gibt’s in jeder kleineren und grĂ¶ĂŸeren Stadt einen Ableger des Chaos Computer Club oder auch nur einen alten Mann, der den Mut und den Anschluss nicht verloren hat und dir das Ding irgendwie zum saugen bringt. Und mal echt, wenn man Netflix kĂŒndigt, passiert recht wenig, wenn man Leute kennt, die einem erklĂ€ren, dass das konsumieren von gestreamten Videos nicht strafbar ist, egal, was die Bildzeitung schreibt und dass das mit einem Werbeblocker sogar recht sicher ist und den grandiosen Nebeneffekt hat, dass man dann die Bildzeitung nicht mehr lesen kann.

    Social Media braucht man, klar, man will nicht einsam sterben, aber Social Media ist nicht Twitter, man muss es nur mal ohne probieren. Die erste, gewissermaßen urzeitliche, Theorie, was dieses Internet ermöglichen wird, war doch, dass jeder mit jedem reden können wird, dass man zu einer viel grĂ¶ĂŸeren Anzahl von Menschen Kontakt halten, sich organisieren kann. Social Media heute ist ziemlich das Gegenteil davon. Denn es kamen diese Leute, diese lauten, extrovertierten, deren Lebensziel es ist, von möglichst vielen gehört zu werden und schon bald war vergessen, worum es ging, in diesem Internet: das Miteinander, das Zuhören oder sich Belegen, das streiten und richtig sauer sein, aber es ging nie um das Sprechen zu möglichst vielen auf einmal. Da die Lauten am Ende immer die Erfolgreichen sind, in unserem System also “reicher”, hatten sie bald die Möglichkeit, diese Perversion der Theorie des Miteinander, das Schreien in 140 Worten, in die Praxis umzusetzen. Myspace, Facebook, Twitter und das, was jetzt davon als X dahinvegetiert sind das Ergebnis, wenn man Idioten machen lĂ€sst. Aber die Nerds wachen endlich auf. Die Introvertierten, die keine Millionen Follower brauchen um sich selbst zu bestĂ€tigen, die wussten schon immer, dass das großartige am Internet nicht die Plattform, die endlose Ebene ist, sondern die Nische , die kleine Echokammer, in der man gemeinsam flĂŒstern kann. Warum soll ein Fediverse-Account, der Übersetzungen deutschsprachiger Sagen ins Englische postet 120.000 Follower beschallen wollen? Wenn diesem Account 3000 Leute folgen, reicht das doch völlig aus. Diese 3000 Follower scrollen jeden Tag ĂŒber diese brillanten kleinen Sagenposts ohne sie zu lesen, nur um ab und an hĂ€ngen zu bleiben. Ist das schlimm, dass sie nicht jeden Tag hĂ€ngen bleiben, jeden Post lesen? Das es “nur” 3000 sind? Nein, dem Autor macht es offensichtlich Freude, alte deutsche Sagen zu ĂŒbersetzen, ein paar Lesern Freude das zu lesen, ab und an, wo ist das Problem?

    Unser Literaturmagazin, hier, das hier, was Du gerade liest, erhalten jede Woche 35 Freunde in ihr Postfach und laut todsicher marketinggerecht gefĂ€lschter Statistik öffnen angeblich 50% davon sogar die E-Mail! WĂ€re es schön, wenn es 1000 wĂ€ren? Ich habe das leise GefĂŒhl eher nein. Wir mĂŒssten die Kommentare abschalten, weil Yanis Varoufakis natĂŒrlich kein/natĂŒrlich ein ganz extremer Antisemit ist. Irgendein Idiot oder zwei wĂŒrden sich verpflichtet fĂŒhlen, uns mit Hilfe von Reddit oder 4chan Links zu erklĂ€ren, dass Siri Hustvedt natĂŒrlich bei Paul Auster abschreibt, weiß jeder. Bei einer Million Leserinnen unseres Newsletter wĂŒrden wir dann alle $ in den Augen haben und die neuesten Neuerscheinungen wĂŒrden unsere Kindles zum Überlaufen bringen und wir wĂŒrden nicht mehr das lesen, was wir lesen wollen, alte BĂŒcher, obskure BĂŒcher, amerikanische Novellisten aus dem 19. Jahrhundert und derlei. Aber Ok, 200 Leser, das wĂ€re schön, und ihr könnt gerne dafĂŒr sorgen:

    Aber wenn ihr Besseres zu tun habt, dann halt nicht. Wir werden weiter jede Woche BĂŒcher lesen, rezensieren, es manchmal nicht schaffen und Wiederholungen senden und uns freuen, dass das jetzt elektronisch geht und nicht wie 1985 nur mit einer Thermopapierkopiermaschine, die man nachts heimlich benutzt um damit ein Fanzine zu drucken, was ausserhalb des Postleitzahlbereiches nie jemand sieht.

    Das alles ist kein Widerstand, keine Revolution. Der Kapitalismus ist zu Ende, wir mĂŒssen nicht mehr mitspielen, es gab noch nie was zu gewinnen. Wir sind wieder zurĂŒck im Mittelalter und wenn man den Sagen glauben kann, die JĂŒrgen Hubert sammelt und ins Englische ĂŒbersetzt oder den Rezepten aus dieser Zeit, die Volker Bach ausprobiert, um uns davon zu berichten, hatte man dort etwas mehr Fun, als uns das in Buch, Funk und Fernsehn vermittelt wird. Woran das wohl liegt?!



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  • Fußnoten und Literaturverzeichnisse waren frĂŒher ein klares Erkennungszeichen fĂŒr “ernsthafte” wissenschaftliche Werke. Das hat sich ein bisschen verwĂ€ssert (looking at you, Junot Diaz 👀), aber in den BĂŒchern, die das Kollektiv in dieser Diskussion bespricht, sind die AnhĂ€ngsel weder Klamauk, noch sind es Merkmale furztrockener Dissertationen. Nein, Siri Hustvedts “MĂŒtter, VĂ€ter und TĂ€ter” und David Graeber/David Wengrows “AnfĂ€nge: Eine neue Geschichte der Menschheit” sind faszinierende, lesbare Werke, fĂŒr die man sich Zeit nehmen kann und muss, im letzteren Fall, mit knapp 700 Seiten eher viel. Da waren sich mal alle einig, was fĂŒr eine Harmonie!

    Hört rein!



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  • Entgegen recht verbreiteter Ansichten - damals wie heute - waren Wissenschaftler und ihre Methoden in den UniversitĂ€ten rechts und links des Eisernen Vorhangs nicht so unterschiedlich, wie man denkt. Ein Baum ist ein Baum ist ein Kernreaktor ist ein Plato und so studierten Förster, Physiker, ja sogar Philosophen, durchaus die gleichen Sachen. Sie kamen dabei auf unterschiedliche Ergebnisse, was in der Natur der Wissenschaft und der Weltansichten liegt, aber all das hatte Grenzen; man kann ein Atom nur auf ein paar Art und Weisen spalten und wenn man hinterher darĂŒber berichten möchte, sollte man bei den Berechnungen nur in engen Grenzen auf die Ideologen um einen herum hören.

    Es gab natĂŒrlich eine Ausnahme: Studierte man Wirtschaftswissenschaften an der London School of Economics oder der University of Chicago stritt man sich, sicher, und sicher auch heftig, wie das im Fachgebiet wohl ĂŒblich ist, und ward dennoch als “Wirtschaftswissenschaftler” akzeptiert. Studierte man das Gleiche jedoch an der Frankfurter Uni, also, Frankfurt an der Oder, war man ein “Ökonom” und eine rote Socke und hĂ€tte sich das aus heutiger Sicht eigentlich sparen können.

    Das alles ist weitgehend vergessen. “Wirtschaftswissenschaftler” (also die aus dem Westen) sind immer noch angesehene Akademiker. Keine Nachrichtensendung kommt ohne Zahlen und Prognosen aus der Wirtschaft aus. Wirtschaftsweise machen darin Aussagen zum Wachstum derselben, Institute fĂŒr “Weltwirtschaft”, “Wirtschaftsförderung” oder einfach nur “Wirtschaft” selbst, sehen jedes FrĂŒhjahr einen Stimmungsaufschwung von bis hinters Komma festgelegten Prozenten. Diese werden in Nachrichtensendungen verkĂŒndet, sie begrĂŒnden Hoffnungen und Sorgen “in der Wirtschaft” und Dax-VorstĂ€nde, Politiker und Kommentatoren werden ganz emotional dabei. Im Herbst dann wird berichtet, in derselben Nachrichtensendung, von denselben Weisen, Instituten und Komitees, dass sich Prognosen und Stimmungen verĂ€ndert haben, ach was, und aus IxKommaYpsilon Prozent, Anteil und Betrag werden derer völlig andere IxKommaYpsilons! Wie geht?! Geht!

    Und niemand, wirklich keiner, nie einer (es sind meist MĂ€nner), in einer solchen Nachrichtensendung hat sich je gefragt, ob sie denn wirklich Experten seien, wenn sie ihre Zahlen von vor sechs Monaten doch gerade wieder korrigieren mussten, dass diese Zahlen nie ohne Beiworte wie "entgegen den Erwartungen", und "ĂŒberraschend" oder gar “schockierend” erzĂ€hlt werden. Nie kommt in diesen Sendungen zur Sprache, was unzĂ€hlige BrĂŒcken bauende Ingenieure, Hochhaus-Statiker, Groß- und Kleintierversorgende VeterinĂ€rmediziner oder Seen- und landschaftspflegende BerufsausĂŒbende, lauter als leise, auf der anderen Seite der Glotze flĂŒstern und schreien: “Wenn wir einen solchen Unsinn, ungenauen Blödsinn und reinen Aberglauben produzieren wĂŒrden, wĂ€ret ihr unter Euren HĂ€usern und BrĂŒcken, samt Euren Nutztieren und -pflanzen begraben und zusammen mit dem ganzen verdammte Planeten schon lange tot!!1!”

    Wie kommt es, dass wochentags, direkt vor der Hauptnachrichtensendung des Ersten Deutschen Fernsehens, beste Sendezeit also, fĂŒnf Minuten einem Thema, der Börse, gewidmet werden, welches fĂŒr das Einkommen von 99 % der Zuschauer genauso relevant ist, wie die Sendungen zur gleichen Zeit am Wochenende, die sich um die Lottozahlen kĂŒmmern? (und deren Zahlen unter notarieller Aufsicht so genau und richtig sind, wie es sich die Reporterin in “Börse vor Acht” nur ertrĂ€umen kann)? Warum gibt es mehrseitige Wirtschaftsteile in baumvernichtenden Zeitungen, nur damit ein paar Promille der Bevölkerung in einem Lufthansaflug zwischen Frankfurt und DĂŒsseldorf mit diesen der SekretĂ€rin im Sichtfeld rumfuchteln können? Ein Wahnsinn.

    Wenn man sich um diesen Wahnsinn nicht kĂŒmmern möchte, kann man sich natĂŒrlich mit anderen Sachen beschĂ€ftigen, es gibt ja noch andere Wissenschaften, die einem den Tag vertreiben. Medizin zum Beispiel oder Biologie. Neue, epochale Medikamente werden da erfunden in DĂ€nemark. Doch was wir lesen ist, dass das dĂ€nische Bruttosozialprodukt um 0,4 % gestiegen ist, weil eine Medizinfirma ein Abnehmmittel erfand. Das lesen wir als erstes. Wir lesen nicht, wie es funktioniert, fĂŒr wen es hilfreich ist. Die Nachrichten verkĂŒnden, dass das Zeug viel zu teuer fĂŒr die Krankenkassen sei. Wir lesen nicht ĂŒber die Menschen, denen es hilft. Und vom Fakt, dass es millionenweise Übergewichtigen gelingt mit Hilfe der Droge von Ihrer Fresssucht loszukommen bleibt in den Webspalten ĂŒbrig, dass das der Supermarktkette Walmart den Börsenkurs versaut.

    Ok, das war nix, schauen wir.. wohin mal schnell? Ok, Insektenforschung, Entomologie, wenn man schlau klingen will. Was wird entdeckt, was verschwindet, wie fickt die Biene?! Immer weniger, lernen wir und das bedeutet Ernteausfall, DĂŒrre und damit der Niedergang ganzer Wirtschaftszweige. Ok, zeig mir irgendwas anderes als Wirtschaft, Frau Google! Wir blĂ€ttern und wischen verzweifelt: Modeseiten berichten von Werbung auf Tiktok, Literaturbeilagen berichten von Verlagen gegen Amazon, Musikmagazine vergleichen Spotify und Apple Music. Es geht immer nur um Wirtschaft. Wohin fliehen?

    In die Geschichte! Das ist die Lösung! Den Kapitalismus gibt’s seit drei-, vierhundert Jahren, lesen wir also ĂŒber das Mittelalter - Problem gelöst. Gehen wir kein Risiko ein: Gehen wir an den Anfang der Menschheit zurĂŒck, nehmen wir uns ein dickes Buch, was die Story von Beginn an erzĂ€hlt, als wir alle nackig waren und noch keine Wirtschaft war!

    “AnfĂ€nge: Eine neue Geschichte der Menschheit” heißt dieses Buch auf Deutsch, erschienen ist es im Januar 2022 und es ist so dick und reich und anregend, dass ich immer noch drin lese. “The Dawn of Everything: A New History of Humanity", so haben es im Original die Autoren genannt. Diese sind der brillante, originelle, witzige und leider viel zu frĂŒh verstorbene David Graeber, ein Anthropologist und sein Kollege aus dem Fach ArchĂ€ologie: David Wengrow.

    Die Autoren erklĂ€ren zunĂ€chst, warum sie eine neue Geschichte der Menschheit schreiben und die ErklĂ€rung ist so einleuchtend, wie sie fĂŒr mich ĂŒberraschend war. Sie geht so: Die Geschichtsschreibung, die wir heute in der westlichen Welt lernen und lesen, ist in den grĂ¶ĂŸten Teilen nicht Ă€lter als 100-200 Jahre. Auch ist sie erstaunlich Ă€hnlich, egal ob man sie in den letzten 70 Jahren links oder rechts vom eisernen Vorhang gelehrt bekommen hat. Ok, die Prognose wer am Ende gewinnen wird, war leicht unterschiedlich, aber die Stories die erzĂ€hlt wurden, von der FrĂŒhzeit bis zum unweigerlichen Sieg der kommunistischen oder eben marktwirtschaftlichen “Freiheit” Ă€hnelten sich doch sehr. Das liegt daran, dass in den letzten paar hundert Jahren die Welt im Westen (zu dem wir hier auch den Osten Europas zĂ€hlen) materialistische und paternalistische Grundideologien hatte, und genauso materialistisch und paternalistisch wurde jede Quelle, jede Ausgrabung, jedes Mosaik und jedes gefundenen Höhlenbild interpretiert und in die eigene Weltsicht eingepasst. Damit zementierte man diese Weltsicht und verhinderte eine andere und das behindert nicht nur das Sehen eines vielschichtigen und am Ende wahrscheinlichen Bildes der Geschichte der Menschheit, es verhindert auch die Sicht auf eine vielfĂ€ltige und offene Zukunft ebendieser.

    Das macht Wengrow und vor allem den selbsternannten Anarchisten Graeber Ă€ußerst wĂŒtend. Man könnte von Wissenschaftlern erwarten, dass sie in Werken, in denen sie andere solche kritisieren, fĂŒr diese ein gewisses VerstĂ€ndnis aufbringen, fĂŒr deren UmstĂ€nde, in denen Theorien und Werke entstanden, man selbst kann als Wissenschafter ja unmöglich fehlerfrei sein. Nicht so die beiden Davids, sie ziehen vom Leder, es ist eine Freude. Das macht das Buch wohltuend zu lesen fĂŒr den Laien, der sich auf ihrer politischen Seite wĂ€hnt (also idealistische Feministen wie mich). Die andere Seite, die alten Bewahrer der Welt (m), die ihre Reputation zerstört sehen durch die +600 Seiten an alternativen Interpretationen, alternativen Theorien, alternativen Blicken auf die gleichen Quellen, Ausgrabungen und Zeitzeugen, diese gehen sicher hart ins Gericht mit dem Buch. Ich bin auch diesmal meiner Regel treu geblieben, keine Rezensionen zu Werken zu lesen, bevor die meine nicht veröffentlicht ist. Aber das Buch ist so voll von Kritik am bestehenden materialisitisch-patriarchalen Geschichtsbild, dass die Bingokarte recht schnell voll ist mit garantiert in Rezensionen auftauchenden Worten: “woke”, “social justice” oder “feminist history” werden dabei sein. Ich hole schon mal den Bingostempel.

    Nun stehe ich der Geschichtswissenschaft mit einer gewissen Grundskepsis gegenĂŒber, die man frĂŒher Ă€ußern konnte, ohne in den Verdacht des Schwurbler- und Querdenkertums zu geraten. Sie ist in vielem unberechtigt, aber so tief verwurzelt, dass ich sie schwer los werde. In der DDR in die Schule gegangen, in der die WeltlĂ€ufte nicht immer allzu zusammenhĂ€ngend ĂŒbermittelt wurden, bekam ich ein paar Jahre spĂ€ter die Stasi-Akten meiner Familie auf den Tisch, also Quellen aus allererster Hand, deren Inhalt wir als direkte Zeitzeuge auf Richtigkeit ĂŒberprĂŒfen konnten. Wir haben selten so gelacht. So viel war falsch, ja lĂ€cherlich. Anderen ging es Ă€hnlich, so zwischen drei und fĂŒnf Millionen Menschen, schĂ€tzt man, hatten Ă€hnliche Erfahrungen und haben dennoch jeden Scheiß geglaubt, den sich der Spiegel ĂŒber, sagen wir: Manfred Stolpe, aus dessen Stasiakten zusammenreimte. Aus solchen Artikeln wurden irgendwann BĂŒcher und diese werden aktuell und in Zukunft in Schulen gelehrt. Was dabei in kĂŒnftigen Generationenköpfen entsteht, werden Geschichten sein, aber nicht “die Geschichte”. Extrapoliert man diese minimale Episode an “falscher Geschichte” hoch bis in die PrĂ€historie, bleibt einfach nicht viel ĂŒbrig, von dem, was wir ĂŒber uns zu wissen meinen. Das Thema sprechen David Graeber und David Wengrow an, sie erlĂ€utern ihre Meinung dazu (eine andere als die meine, logisch, es ist ihr Job) und können aber natĂŒrlich ihre neue Geschichte nicht ohne die Worte “könnte”, “hĂ€tte” oder “wĂ€re” schreiben. Sie weisen, wie es sich gehört, darauf hin, dass alles auch ganz anders gewesen sein könnte, aber was geschrieben ist, erhĂ€lt deklaratorischen Wert, der einschrĂ€nkende Halbsatz ist schnell vergessen.

    So berichten Graeber und Wengrow von neuen Erkenntnissen in der ArchĂ€ologie: diese entstehen nicht nur durch den technischen Fortschritt in Altersbestimmung, Radiologie oder DNA-Sequenzierung sondern auch, weil das Feld nicht mehr nur von schnauzbĂ€rtigen MĂ€nnern mit HĂŒten betrieben wird sondern von Frauen oder Wissenschaftlern, die nicht unbedingt dem Okzident entstammen. Wenn diese auf ihre Entdeckungen schauen, tun sie das nicht mehr durch die koloniale Brille von Eroberung und Ressourcenextraktion. Wir erfahren von nordamerikanischen Tribes, die in fast gleichen LebensrĂ€umen völlig unterschiedliche Arten des Zusammenlebens praktizierten. Es gab natĂŒrlich die expansiven Apache und Comanche, parallel aber eben zu Tribes die sich am Ende der Ernte zum potlatch trafen und diese gerecht verteilten. Über erstere schreiben sich die besseren Stories, wenn man die Jugend mit der eigenen raubmordenden Kolonialisierung versöhnen möchte, fĂŒr eine Welt, die noch ein paar hundert Jahre halten soll, sind die Berichte von kommunalen Praktiken der Tlingit, Haida oder der Chinook wichtiger - und dass der Leser von diesen drei wahrscheinlich nur eine kennt, sagt alles ĂŒber den Zustand unserer Welt.

    Wir erfahren, in einer der fĂŒr mich interessantesten Aspekten der modernen Anthropologie, dass auch unser zeitlicher Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen beengt zu sein scheint. Gesellschaftliche Strukturen sehen wir aus moderner Sicht in Jahren, Jahrzehnten oder Jahrhunderten. Viel wichtiger, ja, ist auf einmal logisch, sind Jahreszeiten. Wir lernen ĂŒber, Bingo, Amazonastribes, die in der Trockenzeit in streng hierarchischen Gruppen jagen, mit brutalen FĂŒhrern und unterdrĂŒcktem Fussvolk. In der Regenzeit sind diese FĂŒhrer dann ganz normale Mitglieder der Gemeinde und fĂŒhren ohne jeden Ansehensverlust die “niederen” TĂ€tigkeiten aus, die dann nötig sind. Und nun stellen wir uns Friedrich Merz vor, wie er bei Netto an der Kasse sitzt.

    Man sollte nicht erwarten, am Ende des Buches die “richtige” und “wahre” Geschichte der Menschheit zu kennen. Speziell der unermĂŒdlich progressive und nochmal etwas politischere der beiden Davids, nĂ€mlich David Graeber, hat dieses, sein letztes Buch, wohl auch als Zukunfts- denn als Geschichtsbuch geschrieben. Denn wenn man die scheinbare Vorherbestimmtheit unserer aktuellen materialistischen Money-Money-Welt nicht hinnehmen will, reicht es nicht, den Leuten zu erzĂ€hlen, dass alles, was sie ĂŒber diese Welt wissen, aus dieser Weltsicht heraus vermittelt wurde. Man muss ihnen die alternativen Geschichten und deren Quellen aufzeigen. Und das passiert auf ganz wunderbare, verstĂ€ndliche und ausfĂŒhrliche Art und Weise in diesem Buch. Es liest sich wie der spannendste Geschichtsunterricht, den man nie hatte, es fliegt mit Dir durch die Zeiten und ĂŒber Kontinente. Das Buch ist ein Almanach und ein Kneipenquizlexikon und am Ende hast Du das seltsam gleichzeitige GefĂŒhl mehr zu wissen und viel weniger. Denn Dir ist die Gewissheit abhanden gekommen zu wissen, woher wir kommen und damit die, dass alles so kommen wird, wie Dir jeden Tag in “Börse vor Acht” erzĂ€hlt wird. Oder wie es David Graeber 2015 in einem anderen Buch mit seinem Wohl bekanntesten Zitat zusammenfasste:

    “Die ultimative, geheimste Wahrheit unserer Welt ist, dass sie etwas ist, das wir erschaffen, und genauso gut anders erschaffen können.”

    Damit wir das nicht vergessen, sollten wir dieses Buch lesen.



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  • Siri Hustvedts Arbeiten zu rezensieren, stellt fĂŒr mich ein ums andere Mal eine Herausforderung dar. Das liegt zum einen daran, dass ich sie fĂŒr eine Ă€ußerst intelligente Frau halte und ich ihr mit dem, was ich ĂŒber sie schreibe, gerecht werden möchte. Zum anderen bin ich fasziniert von dem breiten thematischen Spektrum, mit dem sie sich befasst und den interdisziplinĂ€ren VerknĂŒpfungen, die sie herstellt.

    Bekanntheit erlangte die amerikanische Literaturwissenschaftlerin zunĂ€chst durch ihre Romane, zu denen unter anderem Was ich liebte zĂ€hlt und 2003 in Deutschland veröffentlicht wurde. LĂ€ngst ist sie jedoch auch fĂŒr ihre Essays bekannt und hat ihr wissenschaftliches Feld um Neurowissenschaften und Psychiatrie erweitert, wobei sie fĂŒr zweiteres auch einen Lehrauftrag an der Cornell University hat. 2018 erschien im Rowohlt Verlag ihr Essayband Die Illusion der Gewissheit – ebenfalls von mir rezensiert – und im vergangenen Jahr, also 2023, ihr aktueller Essayband MĂŒtter, VĂ€ter und TĂ€ter, der im Original bereits 2021 unter dem Titel Mother, father and other erschien. Es ist mir einmal mehr rĂ€tselhaft, wie ein deutscher Verlag von other auf TĂ€ter kommt und erinnert mich an einen Roman der britischen Autorin Bernardine Evaristo mit dem Titel Girl, women, other – ebenfalls im Studio B rezensiert – der in Deutschland unter dem Titel MĂ€dchen, Frau etc. veröffentlicht wurde. Aus other wird also einmal etc. und einmal TĂ€ter. In unterschiedlichen Verlagen wohlgemerkt. Ich lasse das an dieser Stelle so stehen.

    20 Essays umfasst ihr neuer Band, wobei der frĂŒheste aus dem Jahr 2011 stammt und die Ă€ltesten 2020 geschrieben wurden. Der Großteil bewegt sich irgendwo dazwischen. Anhand ihrer eigenen Biografie und Familienhistorie kreist sie verschiedene Themen ein. Am Beispiel ihrer Großmutter stellt sie die Frage, wie wir Dinge und Geschehnisse erinnern und wie diese Erinnerung sich im Laufe der Zeit verĂ€ndert. Dabei fĂ€llt ihr beispielsweise auf, dass die IdentitĂ€t ihres Vaters vor allem vom Erinnern und seinen Nachforschungen ĂŒber die vĂ€terliche Linie geprĂ€gt war, wĂ€hrend er die mĂŒtterliche Linie völlig außer Acht ließ. DarĂŒber stellt sie folgende Beobachtung an:

    „Erst als Erwachsene war ich imstande, ĂŒber das Problem der Auslassung nachzudenken – eher darĂŒber, was fehlt, als darĂŒber, was da ist – und allmĂ€hlich zu verstehen, dass das Ungesagte ebenso laut spricht wie das Gesagte.“ (S. 11)

    Eine Feststellung, die simpel anmutet und doch ertappe ich mich dabei – wĂ€hrend ich es lese – dass auch ich sie bisher gar nicht so konkret in meinen Reflexionen ĂŒber meine eigene Familie beachtet habe. Auch Gedanken zum Tod spielen in verschiedenen Kontexten eine Rolle, sei es, wenn es um ihre Eltern oder ihre eigene Sterblichkeit geht, aber auch allgemein, wie in verschiedenen Kulturkreisen der Tod auf unterschiedlichste Weise zelebriert und die Toten geehrt werden. In einem spĂ€teren Essay vom 23. April 2020, also dem Beginn der Corona Pandemie, erscheint das Thema Tod noch einmal in einem ganz anderen Licht, denn es ist verknĂŒpft mit politischen Entscheidungen – oder Fehlentscheidungen – politischer Rhetorik und damit einhergehendem, bereits vorhandenem oder geschĂŒrtem Rassismus, oder „virale[n] Redefiguren“. Dabei stellt sie fest:

    „Der menschliche Körper ist ein Ökosystem, das von den Ökosystemen seiner Umgebung abhĂ€ngt. Und wir sind soziale Tiere, die zum Überleben in hohem Maße von anderen unserer Art abhĂ€ngen.“ (S. 136)

    Gleichfalls lernen wir, dass der Ausdruck social distancing bereits 2003 entstanden ist und – das ist uns weniger neu – ein Privileg ist, wie sich wĂ€hrend der Pandemie gezeigt hat. Auch dem Stellenwert von Lesen wĂ€hrend der Pandemie widmet sie einen Essay, in dem gleich zu Beginn deutlich wird, welch intimes und freiheitliches Erlebnis die LektĂŒre ist und ich möchte hinzufĂŒgen, dass sie das natĂŒrlich auch außerhalb von Seuchen ist.

    Siri Hustvedt befasst sich in ihren Essays mit einer Vielzahl unterschiedlicher und komplexer Themen, deren aufmerksame LektĂŒre dazu fĂŒhren kann, den Zusammenhang vermeintlich gar nicht miteinander in Verbindung stehender Gedanken und Fragen zu begreifen. Abgesehen von den bereits genannten Thematiken geht es auch immer um zwischenmenschliche Beziehungen und Wahrnehmung. Dabei gelangt sie zu so vermeintlich schlichten wie treffenden Erkenntnissen, wie der, dass, wie ich einen anderen wahrnehme und sehe, auch immer davon abhĂ€ngig ist, wie ich mich selbst sehe. Aber sie stellt auch die Frage, was Weiblichkeit eigentlich ist; wie sie sich definiert. In einem, bereits 2019 verfassten Essay, befasst sie sich mit dem Ursprung und Diskursen zum Thema Misogynie, ein Thema, das leider keineswegs neu ist, uns aber dieser Tage, auch aufgrund von social media, immer mehr beschĂ€ftigt und immer neue, erschreckende Ausmaße annimmt.

    Es soll sicher nicht das Ziel dieser Rezension sein, sĂ€mtliche Themen ihres Essaybandes MĂŒtter, VĂ€ter und TĂ€ter darzulegen, aber das kurze Anreissen, zumindest einiger Themen, soll verdeutlichen, wie breit sie thematisch aufgestellt ist. Dadurch ermöglicht sie der Leserin sich mit jedem neuen Essay auch gedanklich in eine neue Materie einzudenken, etwas Neues zu erfahren, ihre eigenen Ansichten zu prĂŒfen, zu hinterfragen oder neu zu ĂŒberdenken und zu erweitern. Dabei sind ihre Essays stets von ihrer feministischen Perspektive geprĂ€gt, durch die sie uns vor Augen fĂŒhrt, wie Frauen ĂŒber die Jahrhunderte hinweg benachteiligt wurden und immernoch werden und Schlimmeres. Mit teilweise sehr persönlichen Texten, in denen wir lernen, dass Wut auch etwas Gutes sein kann und anderen sehr komplexen Texten, die sich thematisch beispielsweise mit Kunst, Neurowissenschaften, Literatur oder Politik befassen, schafft sie ein weites Feld, dass dem Lesenden DenkanstĂ¶ĂŸe ermöglicht – ja geradezu aufdrĂ€ngt – und ihm dadurch die Möglichkeit eröffnet, seinen eigenen Horizont zu erweitern. Eine unbedingte Empfehlung!



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  • Was macht eigentlich Siri Hustvedt? Schon seit lĂ€ngerem ist sie meiner Aufmerksamkeit entgangen und nur durch Zufall bekam ich mit, dass sie bereits im letzten Jahr ein neues Werk veröffentlicht hat, das den Titel MĂŒtter, VĂ€ter, TĂ€ter trĂ€gt und eine Sammlung von Essays beinhaltet. Bevor ich dieses in meiner nĂ€chsten Rezension besprechen möchte, gibt es heute als Studio B Klassiker eine Rezension aus dem Jahr 2018, in der ich mich ebenfalls mit Siri Hustvedt und ihrem Essayband Die Illusion der Gewissheit befasse.

    Es gibt eine Vielzahl an Sprichwörtern und vor allem Redensarten, die aus unserem tĂ€glichen Sprachgebrauch zwar nicht mehr wegzudenken sind, von denen wir uns aber lĂ€ngst nicht mehr die MĂŒhe machen, sie zu hinterfragen oder zu verstehen, worin deren Sinn liegt. Das kann einem schon ganz schön auf den Geist gehen, es sei denn, man hat plötzlich einen Geistesblitz. Was ich damit sagen will? Dass sich Siri Hustvedts kĂŒrzlich im Rowohlt Verlag erschienener Essay Die Illusion der Gewissheit, oder The Delusions of Certainty, wie er im englischen Original heißt, genau mit diesem Thema befasst. NĂ€mlich der Frage nach dem Geist. Was hat es mit diesem Begriff, den wir so leichthin benutzen, auf sich? Und was verstehen wir eigentlich unter Geist bzw. was ist die Beziehung zwischen Geist und Körper?

    Die Frage ist nicht neu, doch fĂŒr Siri Hustvedt viel zu spannend, um sich nicht mit ihr zu beschĂ€ftigen. Dies tut sie, indem sie dem Leser bekannte Fragestellungen und Theorien vorstellt und sich auf verschiedene Fachbereiche wie Genetik, Psychologie, Sprache oder die Evolutionstheorie bezieht. Sehr gut recherchiert und stets mit Beispielen und Gegenbeispielen belegt, fĂŒhrt sie dem Leser vor, wie Annahmen einfach ĂŒber die Jahre hinweg ĂŒbernommen wurden, ohne hinterfragt zu werden und damit eine gewisse AllgemeingĂŒltigkeit erlangt haben, was sie fĂŒr die meisten Menschen ĂŒber jeden Zweifel erhebt. Doch Siri Hustvedt will „fĂŒr den Zweifel und die Vieldeutigkeit plĂ€dieren, und zwar nicht etwa, weil wir nichts wissen können, sondern weil wir unsere Überzeugung stets prĂŒfen sollten und hinterfragen, woher sie kommen.“ (S. 30)

    Ein zentraler Aspekt ihres Essays ist die Unterscheidung zwischen angeborenen und erworbenen Eigenschaften, kurz gesagt: Natur versus Kultur. Unter ihrem Gliederungspunkt „Frauen können keine Physik“, wird, wie auch im restlichen Essay, deutlich, welch große Rolle auch der Feminismus in ihrem Werk spielt. Es geht dabei um die immer wiederkehrende Behauptung, dass Frauen MĂ€nnern von Natur aus unterlegen sind und angeblich, aufgrund ihrer Biologie, in einigen Bereichen schlechter sind als diese – anhand des Untertitels wird deutlich, auf welche Bereiche sie hier anspielt. Um dies zu widerlegen, wird sie nicht mĂŒde, die verschiedensten Studien ins Feld zu fĂŒhren, die sowohl fĂŒr als auch gegen diese Tatsache sprechen und wie diese unterschiedlichen Ergebnisse zustande kommen. Und es ist wunderbar einfach zu verstehen, wenn man sich nur einmal kurz die Zeit nimmt, darĂŒber nachzudenken.

    Ein weiteres, kurzes Beispiel dafĂŒr, womit sich ihr Essay auseinandersetzt, ist die Frage, wie sehr ein Wunsch körperliche Auswirkungen mit sich bringen kann. Deutlich gemacht wird dies anhand der Scheinschwangerschaft. Die Vorstellung, schwanger zu sein, kann durchaus sichtbare und objektiv nachweisbare Schwangerschaftsmerkmale erzeugen. Dabei ist aber nicht die Frage, ob der Wunsch nach der Schwangerschaft zu VerĂ€nderungen des Hormonspiegels fĂŒhrt, sondern vielmehr, wie stark der Inhalt dieses Wunsches, also dieses Gedanken, den unser Geist produziert, sein kann, dass er zu physischen Auswirkungen fĂŒhrt. Hierzu ein Zitat:

    „Wie können Vorstellungen, Überzeugungen, WĂŒnsche und Ängste den Körper verĂ€ndern? Steht der Geist ĂŒber der Materie? Haben wir es hier mit einem Zusammenspiel von psychologischen und physiologischen Faktoren zu tun? Wenn man die Tatsache akzeptiert, dass Vorstellungen Körper verĂ€ndern können, was hat das dann im Hinblick auf das Körper-Geist-Problem zu bedeuten?“ (S. 134)

    Hustvedt verweist darauf, dass es eine LĂŒcke zwischen Körper und Geist gibt, die der Grund dafĂŒr ist, dass wir zwar das Gehirn mit all seinen Synapsen, Neuronen und chemischen Eigenschaften irgendwann in GĂ€nze erklĂ€ren können, doch es bleibt die Frage, wie sinnvoll es ist, Dinge wie gerade genannte WĂŒnsche, aber auch Hoffnungen, TrĂ€ume und Gedanken ausschließlich als neuronale Prozesse zu bezeichnen?

    Was ist nun also die Illusion der Gewissheit? Ich denke, die Frage ist gleichzeitig die Antwort. Es wird immer Dinge geben, die fĂŒr uns Menschen nicht greifbar sind: Was ist der Geist? Was ist der Verstand und wie unterscheidet er sich vom Körper? Und es gibt die Illusion, dass wir diese Frage mit Gewissheit beantworten können. Das wirklich interessante ist aber, zumindest fĂŒr mich, die Frage und nicht ihre Antwort. Denn solange es Menschen gibt, werden diese sich wohl mit dieser Thematik beschĂ€ftigen und genau dieses – sich-damit-beschĂ€ftigen – treibt uns an und bringt uns voran. Genau das ist auch das Wundervolle an Siri Hustvedts Essay. Sie regt uns an und fordert uns auf, Dinge nicht als gegeben und feststehend hinzunehmen, sondern zu hinterfragen. Dabei rĂ€umt sie, fĂŒr mein Empfinden, manchmal fast etwas wĂŒtend mit gĂ€ngigen Vorurteilen und deren Erschaffern auf.

    Wer Die Illusion der Gewissheit auf deutsch liest, dem sei gesagt, dass die studierte Literatur- und Sprachwissenschaftlerin (also eine Geisteswissenschaftlerin, haha) Bettina Seifried hier eine großartige Übersetzung geleistet hat. Die Gliederung des Essays hĂ€tte, fĂŒr meinen Geschmack, hier und da noch etwas gebĂŒndelter sein können. Nichts desto trotz ist der Text sehr verstĂ€ndlich und hĂ€lt sich nicht damit auf, sich einer allzu wissenschaftlichen Sprache zu bedienen. Eine sehr geistreiche Arbeit und absolut empfehlenswert.



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  • Der Jahreswechsel steht an. Es scheint sich ein gewisser Pessimismus breit zu machen. Ob das AlterstrĂŒbsinn ist und ich einfach nicht genug junge Leute kenne - kann sein. Aber auch junge Leute scheinen im Angesicht von Klimakatastrophen nicht unbedingt froh in die Zukunft zu schauen, denkt man sich. Das kann ein falscher Eindruck sein, ich kenne nicht genug junge Leute, s.o. Vielleicht kleben ja nicht alle von denen permanent mit der Hand an der Straße, sondern auch ein paar mit derselben am Bierglas, in der Fankurve und haben dort immensen Spaß, weil die Mannschaft auf einem Aufstiegsplatz ĂŒberwintert - es sei ihnen gegönnt. FrĂŒher, also sagen wir 2006, hĂ€tte man sich die aktuellen Umfragen von Infratest dimap und Allensbach gegoogelt, fĂŒr ein bisschen rechts/links Bias adjustiert und wĂŒsste ziemlich genau Bescheid, ob die sich breitmachende Depression nur selbstgefĂŒhlt ist oder sich mit den Stimmungsbildern im Land deckt. Dass ich das gar nicht mehr versuche, bedeutet, dass sich in den letzten zwei Jahrzehnten etwas verĂ€ndert hat. Nur was?

    Jemand, der das erklÀren kann, klingt so:

    In leicht verschliffenem Oxford-Englisch erzĂ€hlt der 50-JĂ€hrige Dokumentarfilmer Adam Curtis Geschichten und man hat stĂ€ndig das GefĂŒhl man erfahre etwas Neues, Ungehörtes, ja Unerhörtes und wenn nicht das, dann wenigstens, dass man einen Zusammenhang aufgezeigt bekommt, den man bisher noch nicht gesehen hatte, wo er doch so verdammt offensichtlich ist.

    Die Bildsprache der Dokumentationen von Adam Curtis ergibt sich zu 100% aus dem verwendeten Material: Adam Curtis hat Zugriff auf das komplette Archiv der BBC und nutzt es in GĂ€nze aus. Was dabei entsteht als “Collagen” zu bezeichnen ist sicher nicht ganz falsch, klingt aber zu “artsy”, zu unverstĂ€ndlich, und die Dokumentationen sind vieles, aber nicht das. Das gesamte Oeuvre von Curtis hat nur ein Ziel: zu verstehen.

    Wir sehen, oft zunĂ€chst unkommentiert, historische Aufnahmen, die nicht den BBC-News oder einer BBC-Reportage entstammen, sondern offensichtlich “Abfall” sind, Take-Outs, zufĂ€llige Aufnahmen vor oder nach dem eigentlichen Event. Dazu erklingt Musik, gerne “ahistorisch”, also nicht der Zeit im Filmmaterial entsprechend: vielleicht die Doors zu einer Stummfilmaufnahme eines Metallurgiebetriebes in der Sowjetunion im Jahr 1934 oder die Sex Pistols zu einer chinesischen Oper. ObendrĂŒber erzĂ€hlt Adam Curtis, ruhig, sonor in einfacher Sprache, eine Geschichte, die selten dort endet, wo man das vermutet.

    Die Dokumentationen sind endlang, es sind oft fĂŒnf bis sechs 90-MinĂŒter. Die erste Vermutung ist, dass sich Adam Curtis ob der kolossalen Menge an Material in einem TV-Archiv nicht entscheiden kann und uns einen Dia-Abend in Familie zumutet, wo Onkel Jochen den Taj Mahal schon aus allen vier Himmelsrichtungen gezeigt hat, und jetzt nochmal aus dem Flugzeug. Falsch vermutet. Die Dokumentationen haben eine ĂŒbergreifende Idee und diese soll nicht erklĂ€rt werden - Adam Curtis will sie erzĂ€hlen, wir sollen sie erfahren. Also pickt er sich Persönlichkeiten und Events, teils berĂŒhmt, teils ĂŒberraschend unbekannt und fast immer weit voneinander entfernt. Er erzĂ€hlt uns alles, was wir ĂŒber Person A wissen mĂŒssen und springt dann zu Event B. Der wohl meistgehörte Satz in Adam Curtis-Filmen ist “And in this exact moment..” gefolgt von einem Schnitt zum Ereignis auf der anderen Seite der Welt. Wir folgen als Zuschauer dem Rhythmus und erfahren audiovisuell, dass Alles miteinander zusammenhĂ€ngt.

    Thematisch ist Curtis immer das kleine Quentchen seiner Zeit voraus, dass man, wenn man sich seine Werke ein paar Jahre spĂ€ter anschaut, um so ehrfĂŒrchtiger wird. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die Produktionen ja eine Menge Vorlauf haben. So beschreibt Curtis in "Hyper Normalisation", wie Propaganda heute funktioniert. Nicht mehr durch das DurchprĂŒgeln dubioser “Wahrheiten” (oder gleich von LĂŒgen), sondern durch das FĂŒllen des Kommunikationsraumes mit wahllosen Informationen, richtigen oder falschen, bis der Rezipient ĂŒberladen ist und aufgibt: “Es weiß ja keiner mehr irgendwas.”. Das Überraschende ist dann, das “HyperNormalisation” bereits im Jahr 2016 erschienen ist, also in dem Jahr, als Donald Trump eben diese Taktik im Wahlkampf angewendet hatte, unterstĂŒtzt von russischen Trollfabriken, die auf das unterspĂŒlen des Informationsraumes mit “Fakenews” spezialisiert waren. Und an welchem Beispiel hatte Adam Curtis maßgeblich die “HyperNormalisation” im Film erklĂ€rt: Anhand der Geschichte der Desinformation in Russland von 1991 bis 2016!

    Nun ist derselbe orange Wahnsinn 8 Jahre spĂ€ter wieder auf dem Weg ins Weiße Haus, dazu gibt es Wahlen in Europa, das sich aktuell auch nicht gerade auf der linken Fahrspur hĂ€lt. SpĂ€testens im Sommer werden wir erfahren, ob die krassen weltweiten TemperaturausschlĂ€ge im letzten Jahr ein El Niño-Ausreißer waren oder unser Ende eingelĂ€utet haben. Wer sich diesen Gedanken nicht entziehen kann, aber auch nicht in Eskapismus fliehen möchte, der findet in Adam Curtis einen Begleiter, der mit ruhiger Stimme, Geduld und einem unendlichen Vorrat an Geschichten die eigene Zeit ins VerhĂ€ltnis setzt, die eigenen Gedanken und Theorien hinterfragt und aus dessen Filmen man immer klĂŒger, erstaunt und, in meinem Fall, im Allgemeinen beruhigt herausgeht. Das Leben war schon immer kompliziert, es gab die grĂ¶ĂŸten Schurken, absurde Probleme, ein ewiges sich Verrennen schon immer in Zeiten und PlĂ€tzen - deine eigenen sind nicht die schlimmsten.

    SĂ€mtliche Adam Curtis-Dokus und es sind sehr, sehr viele, der Mann macht das seit den Neunzigern, sind in der BBC-Mediathek abrufbar. Leider geht das so richtig nur mit einem VPN. Deshalb findet Ihr unten eine kurze Anleitung, wie das geht und auf unserem Mastodon-Account posten wir ein paar aktuelle Links zu Adam-Curtis-Videos auf YouTube, die aber aus CopyrightgrĂŒnden nicht ewig abrufbar sein werden. Wir danken dem Kapitalismus! Ist er nicht wonnig?

    Wie man sich BBC-Dokus anschaut

    * Mache Dir einen Account bei diesem VPN-Anbieter, der ist seriös (und fĂŒr die Nerds, nein, das ist technisch kein VPN, aber funktioniert genauso, nur besser). Mit ein paar Fake-Emails kann man da auch mehrmals 14 Tage kotenlos kiecken.

    * Folge den Anweisungen und richte das auf dem Rechner oder gleich im Router ein.

    * Gehe auf https://www.bbc.co.uk/iplayer und mache Dir ein Konto mit einer beliebigen Emailadresse. Als Adresse suche Dir ein Hotel in London, dann stimmt die Postleitzahl.

    * Suche nach Adam Curtis.

    Ansonsten, schaut hier, da kommen dann ein paar Youtubelinks.



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  • Graham William Walker, geboren in einem Vorort von Dublin und aufgewachsen im SĂŒden Irlands, heute besser bekannt unter seinem KĂŒnstlernamen Graham Norton, zĂ€hlt zu den erfolgreichsten Talkmastern der englischsprachigen Welt, ist aber gleichzeitig auch Comedian und Schauspieler und vielfach ausgezeichnet. Aber nicht nur das, seit 2016 ist er auch als Autor bekannt und gefeiert, denn in diesem Jahr veröffentlichte er seinen ersten Roman Holding, der ein Jahr spĂ€ter auch auf Deutsch unter dem Titel Ein irischer Dorfpolizist erschien und sofort zum Erfolg wurde. Er erhielt noch im selben Jahr die Ehrung Irish Book Award als bester Roman. Seinen dritten Roman – der diese Auszeichnung ebenfalls erhielt – veröffentlichte er vier Jahre spĂ€ter, also 2020, unter dem Titel Home Stretch. Unter Heimweh, so der deutsche Titel, wurde er 2021 im Rowohlt Verlag veröffentlicht.

    „Es gibt Momente im Leben, die man wertschĂ€tzen muss, aber nur manchmal erkennt man sie, wĂ€hrend man sie erlebt.“ (S. 303) Es ist dieses LebensgefĂŒhl, dass fĂŒnf junge Menschen zu Beginn des Romans an einem unbeschwerten Sommertag vereint. Das sind Bernie und David, deren Hochzeit am nĂ€chsten Tag bevorsteht, sowie die Schwestern Linda und Carmel und Martin, der seine Freunde mit dem Auto zu einem Ausflug an den Strand abholt. Hinzu kommt schließlich noch Connor, der eigentlich nicht zu der Gruppe gehört, aber von Martin eingeladen wird, sich ihnen anzuschließen. Es ist ein Nachmittag der harmlos beginnt und schließlich in einem UnglĂŒck endet, der das Leben von Linda, Connor und Martin grundlegend verĂ€ndert und die Leben von Bernie, David und Carmel beendet.

    Es ist ein harter Einstieg in den Roman, den Graham Norton wĂ€hlt. Die Leichtigkeit und Unbeschwertheit der Jugendlichen wird jĂ€h durch einen Autounfall zerstört und fĂŒhrt dem Lesenden gleich zu Beginn die FragilitĂ€t des Augenblicks vor. Connor, der sich bekennt, den Wagen gefahren zu haben, wird in Folge dessen der Prozess gemacht. BewĂ€hrung lautet das Urteil, welches geradezu milde erscheint, gegenĂŒber der Ausgrenzung, die Connor – ohnehin schon ein Außenseiter – und seine Familie durch die ĂŒbrigen Dorfbewohner erfahren. Der Pub seiner Eltern bleibt grĂ¶ĂŸtenteils verwaist und selbst seine Schwester Ellen, die in einem Baumarkt arbeitet, wird in ein BĂŒro versetzt, in dem sie keinen Kontakt mehr mit Kunden hat. Um allen Beteiligten das Leben leichter zu machen, vielleicht auch aus Angst vor permanenter Konfrontation und um Connor einen Neuanfang zu ermöglichen, wird er von seinen Eltern aus seinem Heimatdorf Mullinmore, in Irland, nach Liverpool in England geschickt. Ein Wendepunkt, ab dem der Fortgang der Geschichte in zwei StrĂ€nge geteilt ist, die parallel verlaufen und einerseits Connors Leben, andererseits das Leben seiner Schwester Ellen und ihrer Eltern beschreibt. Dabei gibt es sowohl immer wieder ZeitsprĂŒnge in der Handlung nach vorn als auch RĂŒckblicke in das Jahr des Unfalls, wodurch sich dem Lesenden weitere Details eröffnen und sich so langsam ein Gesamtbild ergibt.

    Connors Aufenthalt in Liverpool ist jedoch nur von kurzer Dauer, da er nach einer Konfrontation mit einem Kollegen und Mitbewohner die Stadt verlĂ€sst. In seine Heimat kehrt er jedoch nicht zurĂŒck, was ein zentrales Motiv des Romans ist. Er ist immer auf der Suche nach einem Ort, an dem er möglichst unauffĂ€llig leben kann, was, wie sich schnell herausstellt, weniger an seiner Vergangenheit liegt, sondern viel mehr an der Tatsache, dass er homosexuell ist. Der Umstand, dass er nicht mehr in der Kleinstadt leben muss, aus der er stammt, befreit ihn gleichzeitig von der Scham und der Verachtung der Menschen, derer er sich dort ausgesetzt sieht. Der Liebe seiner Eltern könnte er sich ebenfalls nicht mehr sicher sein, was er sich anhand von Aussagen derer ĂŒber Homosexuelle erschließt.

    Auch wenn er schließlich in New York lebt und sesshaft wird, heftet ihm die meiste Zeit eine Rastlosigkeit an, die er nicht abschĂŒtteln kann. Als schließlich seine langjĂ€hrige Beziehung scheitert, wird er auf sich selbst zurĂŒckgeworfen und begreift allmĂ€hlich, dass er auch in dieser Verbindung nicht er selbst gewesen ist. Es ist auch das Ende jener Beziehung, das ihn eines Abends in eine Bar fĂŒhrt, in der seine Vergangenheit und Gegenwart schließlich wieder zusammengefĂŒhrt werden.

    Das Leben seiner Schwester, die sich vom Weggang ihres Bruders eine Verbesserung ihrer Lage erhofft hatte, lĂ€uft unterdessen ebenfalls nicht erwartungsgemĂ€ĂŸ. Das unverhoffte Werben Martins um sie, lĂ€sst sie zunĂ€chst hoffen, dass das GlĂŒck nun endlich auf ihrer Seite ist und es kommt tatsĂ€chlich so weit, dass die beiden heiraten. Doch eine Verbesserung von Ellens Leben fĂŒhrt dies nicht herbei, im Gegenteil, es stellt eher den Beginn von jahrelangem UnglĂŒck dar:

    „In einer Ehe, so schien es Ellen, ging es gar nicht darum, glĂŒcklich zu sein oder jemand anderen glĂŒcklich zu machen. Anscheinend war es vor allem wichtig zu entscheiden, wessen UnglĂŒck sich leichter ertragen ließ. Und das war ihr eigenes. Ihr UnglĂŒck schien ein angemessener Preis dafĂŒr zu sein, nicht mit Martins UnglĂŒck leben zu mĂŒssen.“ (S.111)

    Ob oder wie es die Protagonisten schaffen, ihr Leben noch zum Besseren zu wandeln, soll an dieser Stelle noch fĂŒr alle offen bleiben, die diesen Roman gern lesen möchten.

    Es ist eine lange und emotionale Reise, die man als Lesende mit den Protagonisten zusammen antritt, aber Graham Norton versteht es ziemlich gut, den Spannungsbogen zu halten und diverse Wendungen einzubauen, die zwar manchmal, aber oft nicht vorhersehbar sind. Thematisch bewegt er sich dabei in einem Feld, in dem es viel um die Themen IdentitĂ€t, SexualitĂ€t und Heimat geht, die auch eng miteinander verknĂŒpft sind. Es ist dramatisch, wie ein Ereignis ein oder mehrere Leben auf einen Schlag verĂ€ndert. FĂŒr Connor bedeutet der Unfall den Verlust seiner Heimat und damit den Verlust seiner gewohnten Umgebung, seiner Familie, ja sogar seiner gewohnten Sprache. Sein Weggang markiert den Anfangspunkt einer Suche nach IdentitĂ€t. Da diese losgelöst von seinem bisherigen Lebensumfeld geschieht, ist es ihm aber auch möglich, seine SexualitĂ€t ohne Scham ausleben zu können. Welche Tragweite diese Scham dabei fĂŒr die Entwicklung der kompletten Story hat, erschließt sich dem Lesenden zwar nur allmĂ€hlich, macht aber schließlich umso deutlicher, wie unterschiedlich die Leben der Protagonisten hĂ€tten verlaufen können. Wobei Graham Norton sich nicht mit dem klassischen Was wĂ€re, wenn Gedankenspiel aufhĂ€lt, sondern seine Figuren vorantreibt, sie leiden lĂ€sst und sie, wie im echten Leben ja auch unausweichlich, sich entwickeln lĂ€sst. FĂŒr mich war es definitiv ein Pageturner und ist damit eine eindeutige Leseempfehlung. Oft ging mir wĂ€hrend der LektĂŒre eine Strophe aus Mascha KalĂ©kos Emigrantenmonolog durch den Sinn, mit der ich nun enden möchte:

    „Mir ist zuweilen so als ob

    Das Herz in mir zerbrach

    Ich habe manchmal Heimweh

    Ich weiß nur nicht, wonach...“



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  • “Fantasy als literarisches Genre ist so alt wie die Menschheit!”, antwortete ich letztens sinngemĂ€ĂŸ auf eine entsprechende Frage - und lag damit ein paar zigtausend Jahre daneben. Aber man muss solche SĂ€tze nur selbstbewusst vortragen.

    “Wann ist denn der erste Fantasy Roman erschienen?”, wurde hilfreich nachgehakt und ich musste feststellen, dass ich die MĂ€rchen der GebrĂŒdern Grimm oder auch die Fabeln von Äsop in einen Topf geworfen hatte mit der doch recht spezifischen literarischen Gattung “Fantasy”. Und sicherlich hat J.R.R. Tolkien im “Herr der Ringe”, seinem genrebegrĂŒndenden Werk, EinflĂŒsse ĂŒbernommen aus ein paar tausend Jahren MenschheitserzĂ€hlung, Homers Odyssee fĂ€llt einem als Erstes ein, sicher auch Beowulf, eine altenglische Heldensaga, die Tolkien in seiner akademischen Karriere ĂŒbersetzt hatte. Aber das, was wir als das Genre der Fantasy kennen, ist tatsĂ€chlich erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts mit ebendiesem “Lord of the Rings” entstanden.

    Als Connaisseur der literarischen Form ist mir bewusst, dass die starre Struktur, der immergleiche Cast und das absehbare Ende nichts fĂŒr die allgemeininteressierte Leserin ist und empfehle es entsprechend selten. Andererseits - was ist an ein bisschen Formalismus nicht zu mögen, gerade in unseren formlosen Zeiten. Ein Hauptheld, eine Reise und ein Happy End - mehr braucht es nicht um den S**t um dich herum zu vergessen. Das Ganze in einem Buch voll von moralischen Entscheidungen und man kann fast auf die Idee kommen, ein paar Hundert Seiten voller Orks, Gnome und blonder, muskulöser, heterosexueller Sixpacks mit kantigem Gesicht zum Bildungsroman zu erklĂ€ren. Was am Ende kontraproduktiv wĂ€re. Ist Fantasy doch explizit ein Produkt fĂŒr Menschen, die mal nichts Neues lernen wollen, keinen Bock auf die inneren Konflikte graubĂ€rtiger, mittfĂŒnfziger Skandinavier haben, und die einfach dem Alltag entfliehen wollen.

    Das Wort “Produkt” steht hier bewusst nicht in AnfĂŒhrungszeichen, denn Fantasy ist buchstĂ€blich als solches konzipiert worden, einzig um verkauft zu werden. Nachdem in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts im kapitalistischsten aller LĂ€nder die Mittelschicht boomte, weil der Spitzensteuersatz in den US of A bei 70% lag und sich eine vierköpfige Familie von einem Monatsgehalt locker ein Haus in der Vorstadt leisten konnte, verödeten die InnenstĂ€dte zugunsten der Malls an den Ausfallstraßen, weil, es kann ja nie mal irgendwie alles perfekt sein. Neben den ĂŒblichen Mom & Pop-Stores und Diners war damit auch das Ende der kleinen BuchlĂ€den besiegelt und folgerichtig das der kleinen Verlage. BĂŒcher wurden nun in supermarktgroßen BuchlĂ€den in den Malls verkauft, und dort ging es nicht um Quali-, sondern um QuantitĂ€t. Verlage hatten quartalsweise Umsatzsteigerungen vorzuweisen oder sie wurden zugemacht. ProduktivitĂ€tssteigerung, so weiß das jeder BWL-Erstsemestler, erreicht man durch Standardisierung. Das funktioniert durchaus auch im Literaturbetrieb, Stichwort Groschenroman oder Pulp Fiction. Den Arztroman, bei dem es der Hausfrau so wohlig warm im Schoss wird wie dem Schlosser beim Lesen des Landserheftes, gab es schließlich schon seit ein paar Jahrzehnten.

    Eine Zielgruppe fĂŒr literarische Massenware kam in den Sechzigern und Siebzigern hinzu: der Nerd. WĂ€hrend man das Aufweichen des Konformismus der miefigen FĂŒnfziger durch die aufkommenden Jugendkulturen von Hippies ĂŒber Mods bis zu den Punks durchaus begrĂŒĂŸte, gab es auch hier Verlierer: Die, die in gar keiner Gruppe sein wollten, die sich ihren eigenen Kopf machten. So was befreit natĂŒrlich ungemein, intellektuell und so, aber, die Rache der verschworenen Gemeinschaften derer mit den langen Haaren oder den kurzen oder den bunten kann dir gewiss sein. Also bleibt der Nerd zu Hause, das neugebaute Haus der Eltern hat zum GlĂŒck einen Hobbykeller, und spielt Dungeons and Dragons mit den paar Kumpels, die, wie er selbst, zu viel Fantasie haben.

    In diesem Rollenbrettspiel findet sich stets eine Gruppe von Helden mit unterschiedlichsten Charakteren, sie unternehmen eine Reise durch die Unterwelt, um zum Schluss einen Endgegner zu besiegen oder dabei zu sterben. Was ein Zufall aber auch: das ist genau die Story von “Herr der Ringe”. Zwar kann man dieses Meisterwerk mehr als einmal lesen, und mit den fĂŒnfzehnhundert Seiten, die es hat, braucht man dafĂŒr auch eine Weile, aber irgendwann wird es langweilig. Warum also das Werk nicht als Vorlage formulieren: “Man nehme einen mĂ€nnlichen Haupthelden, stelle ihm Begleiter zur Seite auf dem Weg ein großes Böses per Magie zu besiegen.” So Ă€hnlich formulierte das ein gewisser Lester del Rey im Jahr 1975. Er war ein findiger GeschĂ€ftsmann, der zufĂ€lligerweise zur genau richtigen Zeit in 4. Ehe mit einer Lektorin verheiratet war. Er stieg ins Business ein, beauftragte den damals mit einem fast dreisten “Herr der Ringe”-Abklatsch namens “The Sword of Shannara” berĂŒhmt gewordenen Terry Brooks, sein DebĂŒtwerk zu einer Serie zu entwickeln. Gleichzeitig suchte er aktiv nach anderen Autoren, die im Prinzip dieselbe Story, jeweils ein bisschen anders, wieder und wieder erzĂ€hlen sollten. Denn das geht schnell und damit billig und der ausgestoßene Nerd findet Inspirationen fĂŒr seine Dungeons and Dragons Sessions und kann sich beim Lesen sicher sein, dass am Ende das Gute gewinnt.

    An dieser Formel hat sich dann 50 Jahre lang wenig verĂ€ndert und wie es sich fĂŒr ein Kulturgut gehört, werden auch hier jedes Jahr Preise vergeben, der wichtigste: Der Hugo Award. Die PreistrĂ€ger bis in die 2010er hinein lesen sich wie das personifizierte white male privilege, und so wie jeder Industrie von Film ĂŒber Computerspiele bis zum Kleingartenspartenverein flog auch der Sci-Fi- und Fantasybranche diese Praxis um die Ohren. Traf es bei diesen geldschweren Branchen im Allgemeinen die Richtigen, kann man in den bescheideneren Fantasy-Kreisen ein klein wenig das Argument machen, dass es etwas zu viel verlangt sei von Nerds, die ĂŒber Jahrzehnte im Keller saßen und froh waren, dass sie mit keiner Frau reden mussten, druckreife Statements zu gesellschaftspolitischen Themen abzugeben und sei es auch nur, eine Frau zum Gewinner des Hugo-Awards zu wĂ€hlen. Denn, der Preis ist ein Publikumspreis, er wird auf einem seit Mitte des 20. Jahrhundert jĂ€hrlich stattfindenden Treffen von Science Fiction- und Fantasyfans ermittelt, uh.. man riecht den Saal bis hierhin. Aber die Aufregung ist weitestgehend vorbei, die Wellen haben sich geglĂ€ttet, mit dem Ergebnis einer dem Genre absolut zugutekommende Diversifizierung durch Autorinnen wie N. K. Jemisin, im Studio B schon besprochen oder nicht-westlichen PreistrĂ€gern wie Cixin Liu mit “The Three-Body Problem” das gerade von Netflix verfilmt wird.

    Und so ist es auch in diesem Jahr eine Autorin, genauer die US-Amerikanerin Ursula Vernon alias T. Kingfisher, die zur Siegerin in der Rubrik “Roman” gewĂ€hlt wurde. Und zwar mit einem Buch, welches oberflĂ€chlich sehr standardisiert und formularhaft daherkommt und doch ein in sich geschlossenes Kleinod der Fantasy ist. Es heißt “Nettle & Bone” und kriegt im Deutschen den Titel “Wie man einen Prinzen tötet”. Was es ziemlich gut zusammenfasst und kein wirkliches Spoilern ist, denn dass der Prinz weg muss, wird sehr frĂŒh im Roman klar.

    WĂ€hrend herkömmliche ĂŒber mehrere BĂ€nde erzĂ€hlte Fantasystories normalerweise mit umfangreichem Kartenmaterial aufwarten in dem wir meist einen Kontinent sehen der im Norden von StĂ€dten und Landschaften beherrscht wird, die der Autor sich als skandinavisch vorstellt bis in den SĂŒden, in dem eindeutig Griechenland oder gar der Orient Pate standen, kommt “Nettle and Bone” ohne diesen Schnickschnack aus. Fast ein bisschen artsy gibt es namenlos das “Nördliche Königreich”, das “SĂŒdliche Königreich” und eine kleine Dynastie in der Mitte, die sich ob ihre geographischen Lage als Tiefseehafen seit Jahrhunderten hĂ€lt. NatĂŒrlich lĂ€uft so ein kleines FĂŒrstentum permanent Gefahr, von den viel grĂ¶ĂŸeren Nachbarn ĂŒberrannt zu werden. Das verhindert man in einem ordentlichen feudalen System durch Heiraten und so werden die drei Töchter des mittleren Königreiches von klein auf vorbereitet, einem Prinzen an die Hand gegeben zu werden. Aktuell soll das der im Norden sein. Er ist ein rechtes Arschloch, und wie sehr er das ist, erkennt man, siehe oben, an dem kaum gespoilerten Untertitel der deutschen Ausgabe. Unsere Hauptheldin, die jĂŒngste der drei Töchter, wird sich nach nicht allzu langer Zeit im Buch entscheiden, dass der Typ weg gehört.

    Die Prinzessin heißt Marra und macht sich auf den Weg, ganz genregerecht, mit einer kleinen Gruppe an aufrechten KĂ€mpfern. Allein deren Zusammensetzung zeigt uns, dass die Zeit von Lester del Reys Fantasyformel insofern vorbei ist, als dass nicht nur die Heldin eine Frau ist, sondern dass im ganzen Buch nur zwei MĂ€nner vorkommen. Ein sixpacktragender, wenn auch schon ĂŒber 50-jĂ€hriger Muskelprotz, wird aus einer fiebertraumatischen Unterwelt befreit, und der umzulegende Prinz ist natĂŒrlich auch einer. Der Rest sind Frauen, keine davon entspricht dem aktuellen Tiktok-Schönheitsideal und keine ist unter 30. Das klingt ein bisschen superwoke, ist es natĂŒrlich auch, aber T. Kingfisher schafft es die Langeweile der letzten 70 Jahre Fantasy mit ihren kantigen blonden Helden und braunhaarigen grĂŒnĂ€ugigen Elfen nicht durch gegenteilige und damit genauso langweilige Pendants zu ersetzen. Wenn man schon die Chance hat ein Klischee zu brechen, dann sollte man diese nutzen, denkt sich Kingfisher: lustig und lehrreich sollen die Heldinnen sein, ein wenig unsicher, aber bestimmt, nicht schön, aber eindrucksvoll. Das Buch balanciert dabei stĂ€ndig kurz vor dem Fantasyklischee nur um es, wenn man sich so richtig wohlfĂŒhlt, zu brechen. Ob das unterirdische GĂ€nge sind, in denen die Truppe kĂ€mpft, um auf einmal von einem menschlichen Rad aus GrabplĂŒnderern ĂŒberfahren zu werden, ein Bild, welches Computerspielern sofort bekannt vorkommen sollte. FĂŒr den Cineasten sind es Szenerien, die an die Filme von Guillermo del Toro erinnern und Nur-Leserinnen beeindruckt der fast reduktionistische Stil des gesamten Buches: es ist mal kein ausschweifendes 1000-Seiten-Werk mit drei selbst ausgedachten Sprachen, sondern eine fast mĂ€rchenhafte BeschrĂ€nkung auf ein Gut gegen Böse, No-Means-No, Kopf-Ab dem F****r.

    So ergibt sich etwas, was als Fantasy beginnt, sich seltsam subversiv auf vielen Ebenen entwickelt und am Ende ein wirkliches Kunstwerk ist. Dazu ist es in sich abgeschlossen und nicht ĂŒberlang, so dass es mir vor allem als Einstieg in eine Genre gilt, das einen, s.o. durchaus zurecht schlechten Ruf hat. Aber, wie hier erklĂ€rt, haben wir es in der Sci-Fi- und Fantasyszene zur Abwechslung mal mit einem popkulturelles PhĂ€nomen zu tun, in dem vieles, man glaubt es kaum, besser wird. Das sollte man sich nicht entgehen lassen, da sollte man mal reinschauen, und der beste Einstieg aktuell ist “Nettle & Bone” von T. Kingfisher.



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  • Kurz und knackig gibt das Studio-B-Kollektiv folgende Empfehlungen fĂŒr den Gabentisch:

    Herr Falschgold

    * Patrick Stewart -Making It So: A Memoir / Making it so: Mein Leben

    * Newsletter von Substack, SteadyHQ o.a.

    * David Graeber - B******t Jobs “Vom wahren Sinn der Arbeit”

    Irmgard Lumpini

    * Richters Buchhandlung

    * Buchhandlung Walther König

    * Brigitte Reimann - Ich bedaure nichts und Alles schmeckt nach Abschied: TagebĂŒcher 1955-1970

    * Diaty Diallo - Zwei Sekunden brennende Luft

    * Zeichen und Symbole: Ihre Geschichte und Bedeutung

    Anne Findeisen

    * Claire Keegan - Liebe im hohen Gras: Gesammelte ErzÀhlungen

    * Jens Andersen - Tove Ditlevsen: Ihr Leben

    * Irene SolĂ  - Singe ich, tanzen die Berge

    * Elizabeth Strout



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  • Nachdem ich im Alter von 12 Jahren meine Stadtbezirksbibliothek “ausgelesen” hatte (natĂŒrlich nicht die komplette, fĂŒr mich zĂ€hlte nur das utopische Regal!), stolperte ich in dem, was man in der DDR so Feuilleton nannte, ĂŒber den gerade erschienenen Roman “Der fremde Freund” von Christoph Hein. Den Zeitpunkt kann ich deshalb so genau bestimmen, weil ich jetzt, in meinem fĂŒnften Lebensjahrzent, so langsam passabel Kopfrechnen kann und mir Wikipedia das Erscheinungsdatum des Romans mit 1982 angibt. Dass ich ein Buch von Christoph Hein gelesen hatte und enorm fasziniert von dessen Sprache war, hatte ich noch im Hinterkopf, aber mein fortlaufender Erinnerungshorizont von exakt sieben Jahren verwehrt mir, mich zu erinnern, worum es konkret ging. Auch hier hilft mir die FreiwilligenenzyklopĂ€die auf die SprĂŒnge und die Synopsis von “Der fremde Freund” lĂ€sst mir gleichzeitig die Erinnerungssynapsen knallen als auch mich kopfschĂŒttelnd zurĂŒck: was ein wunderlicher Teenager ich gewesen sein muss!

    Im Buch, geschrieben aus der Ich-Perspektive einer 30-jĂ€hrigen Ärztin, geht es um Liebe und Entfremdung und um Fotografie. Die Liebe war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht untergekommen, die Entfremdung als Wort kein Begriff, aber retrospektiv und kĂŒchenpsychologisch macht das alles Sinn. Das Einzige im Buch, womit ich wirklich, und zwar richtig was am Hut hatte, war die Photographie. Und so wie die Protagonistin im Buch, Claudia, ob ihrer Entfremdung von den ihr seltsam vorkommenden Menschen nur leblosen Kram fotografiert, praktizierte ich die Kunst auch und erkannte ich mich wohl ziemlich wieder.

    Wie gesagt, all das reime ich mir elektronisch unterstĂŒtzt zusammen, denn das Einzige, woran ich mich wirklich erinnere, war die seltsam unprĂ€tentiöse, klare, unaufgeregte Sprache Christoph Heins, die mich in ihrer Sparsamkeit, ihrer Affektlosigkeit an Kafka erinnerte. Sicher ein bisschen zu hoch gegriffen, aber ich war ein Ă€ußerlich gestörter und innerlich begeisterbarer Teenager.

    Es sollte das letzte Buch bleiben, was ich von Christoph Hein gelesen habe. Die zwei, drei noch in der DDR erschienen Werke blieben unter meinem Radar und danach gab’s WestbĂŒcher. Doch irgendetwas spĂŒlte mir kĂŒrzlich Heins jĂŒngstes Werk in den Sichtkreis und es schloss sich ein solcher. Es heißt “Unterm Staub der Zeit” und wieder ist es ein Buch, welches mich sujettechnisch nicht wirklich interessieren sollte. Und auch hier ist es die Sprache, ĂŒber die es wenig mehr zu sagen gibt, als dass sie “exakt” ist, “unaufgeregt” und “genau”, die mich, und ich weiß zum Teufel nicht warum, fasziniert.

    Der Inhalt des Romans ist die Geschichte des 13-jĂ€hrigen Daniel aus der Ostzone, wie er 1958 von seinem Vater ins Internat eines Westberliner Gymnasiums gebracht wird. In der DDR wurde ihm die Erweiterte Oberschule verweigert, also wurde er wie viele talentierte Teenager von seinen Eltern in den Westen geschickt, um ein Abitur zu bekommen. Das passierte so hĂ€ufig, dass die Westberliner Gymnasien spezielle “C-Klassen” hatten, die den LehrplĂ€nen in den Schulen in der Ostzone Rechnung trugen um die neuen SchĂŒler an das Abitur heranzufĂŒhren.

    FĂŒr die jĂŒngeren Leser: 1958 ist vier Jahre vor dem Bau der Berliner Mauer und so folgen wir auf den 200 Seiten im Buch Daniel zunĂ€chst bis zu diesem 13. August 1961. Die DDR versuchte schon vor dem Bau der Mauer den Strom von Unzufriedenen in die BRD zu stoppen: mit Kontrollen, Entzug von Ausweisen und dem Erteilen von Anweisungen, den Wohnort nicht zu verlassen. Und so waren die quasigeflĂŒchteten Jugendlichen in einem seltsamen Limbo, in dem sie zwar jederzeit nach Ostberlin fahren konnten, schon weil dort mit Ostmark alles um den Faktor 5 billiger war, sie aber Gefahr liefen, geschnappt zu werden und damit ihr Abitur und ihre Zukunft zu verspielen.

    Das der ErzĂ€hler im Buch, Daniel, Christoph Hein im real life ist, wird nicht explizit erwĂ€hnt, aber ich Fresse einen Besen wenn nicht. Das macht das Buch zu einem “Opa erzĂ€hlt vom Krieg” eines 79-jĂ€hrigen Schriftsteller. Was will man mehr? Und wenn man mehr will, dann lest euren Actionquatsch - das hier ist das wahre Leben und es wird genauso berichtet, wie man es sich von einem ernsten, guten ErzĂ€hler ohne Kapriolen wĂŒnscht. Hein berichtet Episoden aus einer Jugend in einer Zeit, die ein bisschen uninteressant sein mag. Nicht weit genug von der Gegenwart entfernt, nicht besonders aufregend, verglichen mit einem 2. Weltkrieg, der damals auch schon lang vorbei war. Über den kann man was erzĂ€hlen: Gewalt, Heldentum, Befreiung! Die Ende der FĂŒnfziger Jahre in Berlin waren sicher spannend, aber der grĂ¶ĂŸte Gewaltausbruch im Buch ist eine PrĂŒgelei beim BillHaley-Konzert im Sportpalast und das Heldenhafteste der Schmuggel von Musikinstrumenten aus dem Osten in den Westen for fun and profit. Und Befreiung: not so much. Im Gegenteil. WĂ€hrend die, ein bisschen belanglosen, Anekdoten des etwas nerdigen, theaterbegeisterten Daniel dahin plĂ€tschern, verĂ€ndert sich die Weltpolitik. Dass ihr Abitur prekĂ€r ist und an ihrer FĂ€higkeit hĂ€ngt, die poröse Grenze zwischen Ost- und Westberlin unauffĂ€llig und möglichst selten zu ĂŒberqueren, wissen die SchĂŒler. Was sie nicht ahnen ist, dass ein US-Senator im fernen Washington den Russen durch eine verhĂ€ngnisvolle Rede, das Signal gibt, dass es ok sei, die sowjetische Zone von denen der westlichen SiegermĂ€chte abzuschneiden.

    Die Nachricht davon erreicht Daniel in den Sommerferien, ausgerechnet in Dresden (Lob- und Verriss wird von dort ausgestrahlt, wem das nicht klar ist..) und er eilt nach Berlin zurĂŒck. Dort sieht es noch ein paar Tage lang so aus, als wĂ€re das ein zeitweilige Maßnahme. Es gibt doch hunderte Straßen und Kilometer GrĂŒn um Westberlin, all das abzusperren erscheint unvorstellbar. Doch innerhalb von Wochen ist genau das passiert. Ein paar verstĂ€ndnisvolle Beamte im Ostteil, die den SchĂŒlern Hoffnung machen, ihr Abitur fortsetzen zu können, werden von Hardlinern abgelöst und zum Schulbeginn im September ‘61 ist Daniel und seinem zwei Jahre Ă€lteren Bruder, mit dem er auf dem Gymnasium war, klar, dass sie sich eine Lehre im Osten suchen mĂŒssen.

    Ganz Christoph Hein erzĂ€hlt er diese dramatisch und traumatisch klingenden Ereignisse mit stoischer Gelassenheit, dass man sich die Frage stellt, ob das so angebracht sei? Immerhin verĂ€ndert sich durch den Mauerbau das Leben von ein paar Millionen Menschen, beispielhaft vertreten durch die zwei Teenager, grundlegend und nach allgemeinem Konsens zum Negativen. Ja, die GesprĂ€che mit den neu eingesetzten linientreuen Kaderschmieden die dem jungen Daniel, dem “WestflĂŒchtling”, dem “Intellektuellen” das Leben schwer machen, sind frustrierend und machen jemandem, der den Scheiß dreißig Jahre spĂ€ter mitgemacht hat immer noch wĂŒtend. Doch Daniel fĂŒgt sich mit der FlexibilitĂ€t, die nur ein Jugendlicher hat ein. Er passt sich nicht an, Weiß Gott nicht, er ist ein paar Monate lang sogar Fluchthelfer, aber er bleibt in der DDR, aus GrĂŒnden. Er lernt BuchhĂ€ndler und aus dem kleinen Daniel wird ein großer Christoph Hein. Dieser verweigert, zumindest in diesem Buch, die Bitterkeit ob eines Lebens, das er nicht gelebt hat. Ob des Faktes, dass er sie nicht spĂŒrt oder dass sie in diesem Werk keinen Platz hat, darĂŒber nachzudenken lĂ€dt die kleine Nouvelle “Unterm Staub der Zeit” ein und, wichtiger, dazu, das Lebenswerk von Christoph Hein, jetzt wo es fast komplett ist, nochmal von vorn zu lesen.



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  • Bevor Ihr die aktuelle Lob & Verriss Diskussion hört, ein kurzer Hinweis: Die Rezension von Stephen Kings “Holly”, die wir heute besprechen, verfasst von Irmgard Lumpini, ist aus seltsamsten technischen GrĂŒnden noch nicht erschienen. Wie können wir trotzdem darĂŒber diskutieren? Magic - ganz einfach: Magic! Die Rezension wird natĂŒrlich nachgereicht, versprochen!

    Wir sprechen ĂŒber die BĂŒcher der letzten drei Studio B Episoden als da wĂ€ren: Daniel Kehlmanns “Lichtspiel” rezensiert von Herrn Falschgold, “Frau Komachi empfiehlt ein Buch” geschrieben von Michiko Aoyama und rezensiert von Anne Findeisen und Stephen Kings aktueller Thriller “Holly” (bald) rezensiert von Irmgard Lumpini.



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  • Nachdem ich mich in diesem Jahr verstĂ€rkt der LektĂŒre japanischer Autorinnen und Autoren gewidmet habe, war es nicht sehr verwunderlich, dass mir mein Kindle unter der Rubrik Basierend auf deinen Lesegewohnheiten auch den kĂŒrzlich auf Deutsch, im Rowohlt Verlag erschienenen Roman von Michiko Aoyama Frau Komachi empfiehlt ein Buch vorschlug. Selbiger, mittlerweile zum Bestseller avanciert und in ĂŒber zwanzig LĂ€ndern erschienen, wurde bereits 2020 im Original in Japan veröffentlicht. Über die 1970 in Japan geborene Autorin Michiko Aoyama ist bekannt, dass sie zunĂ€chst in einem Tokioter Verlag als Redakteurin tĂ€tig war, bevor sie sich ganz dem literarischen Schreiben widmete. Die deutsche Übersetzung stammt – wir sind wenig verwundert, aber sehr erfreut – von Sabine Mangold, die fĂŒr ihre zahlreichen Übersetzungen aus dem Japanischen, beispielsweise von Romanen Haruki Murakamis, nicht nur bekannt ist, sondern auch ausgezeichnet wurde.

    Der Roman umfasst fĂŒnf Geschichten, die das Leben fĂŒnf verschiedener Protagonisten in relativ kurzer Form erzĂ€hlen, die sowohl in Alter, Geschlecht als auch Beruf unterschiedlich sind. Es eint sie jedoch die Unzufriedenheit mit ihrem Leben bzw. ihrem beruflichen Werdegang und die Tatsache, dass sie alle die selbe Bibliothek aufsuchen. Diese ist an ein Gemeindezentrum angeschlossen und hat als Bibliothekarin, wir ahnen es bereits, Frau Komachi. Sie ist zwar die titelgebende Figur, nimmt in den einzelnen Geschichten, wenn auch eine wichtige, aber nur eine Nebenrolle ein. Sie ist eine Art Initiatorin, die durch ihre, zunĂ€chst merkwĂŒrdig anmutenden, Buchempfehlungen, den sprichwörtlichen Stein ins Rollen bringt und dadurch das Leben der Protagonisten, die ihren Empfehlungen folgen, verĂ€ndert.

    Stets fragt sie die Menschen, die zu ihr kommen, weil sie nach einem bestimmten Buch suchen: „Wonach suchen sie?“ Eine Fragestellung, die, ohne Kontext gesehen, ja ganz allgemein verstanden werden kann, was natĂŒrlich auch das Ziel der gewieften Frau Komachi ist. So erspĂŒrt sie deren WĂŒnsche und SehnsĂŒchte, derer sie sich zwar meist selbst schon bewusst sind, aber noch keinen Weg gefunden haben, ihr Leben aus eigener Kraft zu verĂ€ndern. Mit ihrer jeweiligen Buchempfehlung, die sie den eigentlich gesuchten BĂŒchern zum Schluss noch hinzufĂŒgt und einem kleinen Filzobjekt, die sie selbst herstellt und die immer unterschiedlich sind, entlĂ€sst sie ihre Besucher.

    Die Arbeitswelt bzw. das Berufsleben der Protagonisten ist letztlich das bestimmende Thema der fĂŒnf Geschichten. Jeder ist auf seine Weise auf der Suche nach BestĂ€tigung, Selbstverwirklichung oder auch VerĂ€nderung. Dies hat zur Folge, dass die Geschichten alle nach dem selben Schema aufgebaut sind und ablaufen, welches sich dem Lesenden spĂ€testens ab der zweiten Geschichte erschließt und zur Folge hat, dass die Stories doch recht vorhersehbar sind. Letztlich finden sie alle Rat bei Frau Komachi und können ihr Leben zum Besseren verĂ€ndern. Das mag der ein oder andere als positiv und berĂŒhrend empfinden, auch als Anstoß, dass es doch oft nur kleine Dinge erfordert, um seinem Leben eine neue Richtung zu geben, ich fand es jedoch eher fad und auch ein wenig zu plakativ.

    Das sich die japanische Arbeitswelt doch sehr von unserer westlichen unterscheidet – sei es beispielsweise in Bezug auf IntensitĂ€t oder auch Urlaubstage – hat sicher jeder schon auf die ein oder andere Weise mitbekommen, doch wird dies im Buch, vielleicht auch ein wenig unfreiwillig, noch einmal sehr deutlich.

    „Obwohl ihm eigentlich ein anderer Beruf vorschwebte, hatte er eine Anstellung gefunden, bei der er genug fĂŒr seinen Lebensunterhalt verdiente. Parallel dazu arbeitete er hart, um seinen Traum zu verwirklichen. Er war sowohl ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft als auch jemand, der sein eigentliches Ziel hartnĂ€ckig verfolgte.“ (S. 195)

    Eine Passage die in mir, allein durch die Formulierung „vollwertiges Mitglied der Gesellschaft“, durchaus Befremden hervorgerufen hat, hier aber ganz ernsthaft verwendet wird und einen Einblick in die japanische (Arbeits-)MentalitĂ€t gibt, die einen sehr hohen Stellenwert hat und in der es sogar einen Begriff fĂŒr den Tod durch Überarbeitung gibt (Karoshi).

    Alles in allem bin ich mit diesem Buch nicht so recht warm geworden. Es hat nicht wehgetan es zu lesen, hat in mir aber auch keine BegeisterungsstĂŒrme hervorgerufen, da ich es doch sehr vorhersehbar fand und letztlich ein und dasselbe Thema in fĂŒnf verschiedenen Geschichten einfach nur immer wieder variiert wird, um letztlich immer zum selben Ergebnis zu kommen. Schade, aber dieses Mal leider keine Empfehlung von mir.



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  • Daniel Kehlmanns diese Woche erschienener Roman “Lichtspiel” ist zum grĂ¶ĂŸten Teil angesiedelt im Kinobetrieb der dreißiger und vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Ein Betrieb der TĂ€uschung und Intrige, der Eitelkeiten und Verletzungen. Aber ein Filmdreh ist auch eine Unternehmung, die den Kompromiss fordert, zu viele bewegliche Teile sind voneinander abhĂ€ngig, zu viel kann schief gehen und was schiefgehen kann, geht es im Allgemeinen auch. Und es sind die dreißiger und vierziger Jahre. Im Deutschen Reich. Nazideutschland.

    Doch im ersten Kapitel befinden wir uns zunĂ€chst in Wien, in den 1960er Jahren. Wir begleiten den offenbar dementen ehemaligen Kameramann Franz Wilzek zu einer TV-Show, live im österreichischen Fernsehen. Wilzek namedroppt die Regisseure, Schauspieler und Produktionen seiner nun hinter ihm liegenden Schaffenszeit und ich, der ich weniger Cineast und schon gar nicht Filmhistoriker bin als viel mehr durchschnittlicher Freund der gepflegten Kinounterhaltung, habe so das GefĂŒhl, es sind keine ausgedachten Titel und Namen. Peter Alexander gab es definitiv (wie mir die Ariola-Schlagerschallplattensammlung meiner Großmutter beigebracht hat), die Filme “Die BĂŒchse der Pandora” und “Paracelsus” sagen mir etwas und auch von Georg Wilhelm Pabst, dem Regisseur, habe ich schon gehört. Kehlmann arbeitet also wieder reale Begebenheiten und Personen in eine fiktive Geschichte ein (wie u.a. schon im von uns rezensierten Tyll). So vermute ich es und bin’s zufrieden. Zumal ich kaum Zeit habe darĂŒber zu urteilen. Zu atemlos und begeistert bin ich von Kehlmanns virtuoser Komposition: Gedanken, Worte, Situation, die ein Dementer sieht, denkt und zu erfahren glaubt - gebrochen von der tatsĂ€chlichen Handlung um ihn herum. Wir schlĂŒpfen in den Protagonisten und sind gleich selbst ganz wirr. Es ist brillant. Kehlmann ist aktuell einfach der beste deutschsprachige Autor. Dieser Rhythmus, die Sprache - es ist eine Kunst!

    ZurĂŒck zur Handlung: das mehr schlecht als recht ablaufende Interview ist ein Set-Up im doppelten Sinne. Der joviale Moderator der Sonntagvormittagsshow liest nur die Fragen ab, die ihm sein Regieassistent, ein gewisser Rosenzweig, auf die Karteikarten schreibt und somit stellt er Wilzek eine Frage zum Film “Der Fall Molander”, bei der er dem weltberĂŒhmten Regisseur G.W. Pabst als Regieassistent doch zur Seite gestanden habe, nicht wahr? Wir bekommen aus dem Kopf von Franz Wilzek plötzlich ein paar Filmbilder. Eine opulente Konzertszene mit hunderten Komparsen, einem Geiger - und Soldaten? Irgendetwas stimmt nicht; mit der Szene, mit Wilzek, seinem Kopf, der Welt. Der Film ist real und irreal gleichzeitig, bis Wilzek in anscheinender Verwirrung stottert, dass der Film nie gedreht worden wĂ€re: “Gibt es nicht!” - entgegen dem, was der Herr Moderator da auf der Karte stehen habe, “Nicht gedreht!” wiederholt er immer und immer wieder. Es ist ein Set-Up fĂŒr die kommenden 480 Seiten bester deutschsprachiger Literatur, erschreckender Literatur, notwendiger Literatur, zeitgemĂ€ĂŸer Literatur.

    Und so befinden wir uns plötzlich in Kapitel 2 im Jahr 1934. Der weltberĂŒhmte Regisseur G.W. Pabst ist in Hollywood und radebrecht sich durch ein GesprĂ€ch mit einem Produzenten, und der Plot erscheint uns nun vorhersehbar: gab es den Film “Der Fall Molander” oder gab es ihn nicht und was ist bis zu seinem vorgeblichen Dreh geschehen? Man muss kein Cineast sein um zu wissen, was aus der deutschen Filmindustrie in der Zeit des Nationalsozialismus geworden ist, wie viele jĂŒdische (und nicht-jĂŒdische) Filmschaffende geflohen sind oder es nicht geschafft haben. Die Story steht fest und somit wird die Sprache und das Szenische, nicht der Plot, die Hauptlast im Roman zu tragen haben. Wir meinen schon frĂŒh zu erkennen, worauf es hinauslĂ€uft. Es wird darum gehen, wie die vom verwirrten Wilzek erinnerten Personen sich ins verhĂ€ngnisvolle Jahr 1945 finden. Und im Groben wird das so passieren, es wird die Handlung sein im Buch, mitunter beklemmend, ja schmerzhaft, denn wie man denkt, man weiß, was kommt: der Horror der Nazizeit, liest man wie er kommt, der Horror, und Kehlmanns mĂ€chtige Sprache macht, dass man das GefĂŒhl hat, man erlebe ihn selbst, den Horror. “Horror” nicht in seinem popkulturellen, modernen Sinn, sondern im archaischem, zerebralen. Einer Qual ob der QuĂ€lerei, nur sehr schwer auszuhalten und er beginnt, als G.W. Pabst mit seiner Familie ein paar Tage vor Kriegsausbruch - wie dumm, man schreit beim lesen “Nein!!” - nach Österreich, jetzt Ostmark genannt, zurĂŒckkehrt, und nicht mehr rauskommen wird. Ein Horror.

    Und es wird eine Geschichte ĂŒber die mögliche Niedertracht in uns allen werden. Ob es der kunstsinnige Sohn G.W. Pabsts ist oder der hilfsbereite Verwalter des kleinen Schlosses, welches sich der Regisseur von seinen ersten Filmerfolgen gekauft hat. Der eine wird von einem malenden Kind zum begeisterten Hitlerjungen, der andere vom geachteten “Mann fĂŒr Alles” im Dorf zum Chef der NSDAP Ortsgruppe. Nur der Spitzel Kuno KrĂ€mer, der G.W. Pabst schon in L. A. “Heim ins Reich” locken möchte, ĂŒberrascht nicht, als er seinen Hund einschlĂ€fern lĂ€sst, weil er ihn nicht mit nach Deutschland nehmen kann. Ein armes, dummes Schwein.

    G.W. Pabst wird in Deutschland bleiben und Filme drehen, und somit kann und wird das Buch wohl so gelesen werden, als ob es um das gehe, was das Feuilleton mit den Fragen “Was hĂ€tte ich getan? Wie weit wĂ€re ich gegangen?” beschreibt. Aber wer nur das sich fragt, hat sich die Antwort in seiner Ignoranz schon gegeben. Kehlmann verweigert sich dieser Nabelschau, im Buch geht es fast immer um die Opfer. Zum Beispiel, handlungsbedingt vornehmlich im ersten Teil, DRAUSSEN betitelt und vor dem Krieg spielend: um FlĂŒchtende. Wie sie manchmal gut, oft weniger so aufgenommen werden. In den 1930ern waren das Deutsche. Heute sind es Syrier, Ukrainer, Leute aus Myanmar oder Gaza. Wer sich nur fragt, wie er DRINNEN ĂŒberlebt hĂ€tte, fragt sich offensichtlich nicht, wie die FlĂŒchtlinge das in ihrem DRAUSSEN tun. Wer das “nur” weglĂ€sst und beides im Blick halten kann, ist auf der richtigen Spur. Denn wie es Fliehende gibt, die um ihr Leben rennen gibt es LĂ€nder, wo sich KĂŒnstler exakt heute die exakt gleichen Fragen stellen mĂŒssen wie G.W. Pabst und Co damals im Dritten Reich. KĂŒnstler, Aktivisten, die bleiben oder bleiben mĂŒssen. Und wie man mit diesen Gehaltenen und Gespaltenen umgeht, das ist die Frage, die wir DRAUSSEN uns beim Latte Macchiato stellen mĂŒssen. Verurteilt man radikal jeden, der Kompromisse im eigenen, unterdrĂŒckten Land macht, der versucht sich von den Gefahren einer Diktatur fernzuhalten, als MitlĂ€ufer und Opportunisten und fordert damit von jedem DRINNEN in einer Diktatur das volle Pussy Riot commitment? Das sind die fĂŒr mich interessanteren und praktischeren Fragen, die “Lichtspiel” aufwirft. Die egozentrische Nabelschaufrage: “HĂ€tten wir mitgemacht?” ist sinnlos, weil gleichzeitg hypothetisch und eindeutig zu beantworten: natĂŒrlich hĂ€tten wir alle mitgemacht. “Wir” als Menschen sind heute nicht besser als vor achtzig Jahren, ein Blick auf die Wahlergebnisse von Wisconsin bis Warschau zeigt uns das. Warum sollten wir kompromissloser gewesen sein? Warum “besser”? B******t.

    Das “Warum” - warum wir mitgemacht hĂ€tten - ist die interessantere Frage. DafĂŒr geht Kehlmann, wie G.W. Pabst, dicht ran an seine Subjekte. Das tut weh, denn man kann sich nicht mit zwei Metern Abstand zum Fernseher eine kluge BBC-Doku reinziehen, die erklĂ€rt, was alles schief gelaufen ist, damals. Man ist selbst Pabst, man ist selbst sein Sohn Jakob, seine Frau Trude. FĂŒr ein paar Seiten kommt man nicht raus aus Deutschland und auf den Straßen marschiert die SS.

    Oft kann Pabst nur in Gedanken rebellieren, mit Genuss beurteilt er innerlich Leni Riefenstahls Unvermögen. Der Leser freut sich ĂŒber diese paar Minuten der Freiheit. Und wenn die Leni dann den Mund aufmacht, denn Pabst ist beim Dreh und muss ihr einen Film retten, wollen wir ihr einfach nur die Fresse polieren. Pabst trinkt statt dessen noch ein zweites Bier zum Mittagessen. Und ein drittes hinterher. Und hĂ€lt die FĂ€uste still unterm Tisch. Da mĂŒssen wir durch. Doch dankbar sind wir, wenn wir in diesen Situationen wenigstens kurze Momente der Entspannung finden, wenn Kehlmann seinen Protagonisten und uns Gedanken in den Kopf legt, die unserem Hass auf Leni Riefenstahl und ihr ganz Faschistenpack Ausdruck verleihen. Ein paar Momente des Outlets in einem Buch ĂŒber das Grauen.

    Die meisten Szenen und Situationen im Buch sind fĂŒr Nicht-Cineasten erschreckender als fĂŒr den Auskenner: denn, fast immer wenn ich eine Person, die ich auf Anhieb nicht kenne, auf ihre RealitĂ€t oder Fiktion ĂŒberprĂŒfe, erfahre ich, dass immer das Grausamste stimmt: wenn es um TĂ€ter geht, war ihre Niedertracht genauso wie beschrieben; wenn es um Opfer geht, ihr Ende genauso brutal und sinnlos. Irgendwann traut man sich nicht mehr, die Wikipedia aufzumachen.

    Der SchlĂŒsselsatz des Romanes ist wohl dieser: “Die Zeiten sind immer seltsam. Kunst ist immer unpassend. Immer unnötig, wenn sie entsteht. Und spĂ€ter, wenn man zurĂŒckblickt, ist sie das Einzige, was wichtig war.” Kehlmann legt ihn Georg Wilhelm Pabst zum Ende des Krieges, wie des Romanes, in den Mund. Ein so weiser Satz, jeder unterschreibt ihn sofort. Nur - stimmt er nicht. Nicht im Angesicht von Krieg und von Zwangsarbeit und Genozid. Da wird Kunst absolut unnötig, sie bleibt auch nicht das Einzige, was wichtig war. Es bleiben Leichen und Horror und Generationen von Traumata. Was verschwindet sind Filme, wie “Der Fall Molander” und wenn sie irgendwie ĂŒberleben, dann will sie keiner sehen, solange das Trauma noch existiert.

    “Aber, Herr Falschgold, was ist mit den Streichquartetten in Auschwitz?”

    “Really?!”

    Kehlmann hat uns in den ersten Kapiteln sanft eingefĂŒhrt in die Kunst, in seine Protagonisten zu schlĂŒpfen, als Leser. Ein dementer alter Mann, ein schlecht englisch sprechender Deutscher. Wie aus dem Nichts nehmen wir so im Laufe des Romans immer wieder die 1. Person ein, das Vertigo eines Kindes beim Abstieg in einen tiefen Keller, die Panik des Regisseurs bei einer Audienz bei Göbbels. Diese Technik kulminiert in der vollstĂ€ndigen Auflösung von Zeit und Raum im Angesicht des Grauens des Holocaust. In diesem Augenblick erlöst Kehlmann seine Protagonisten: er nimmt ihnen (kurz) den Verstand. G.W. Pabst sieht die Welt nur noch als Film. SchĂŒsse, Explosionen, Flucht als Abfolge von Schnitten, Einstellungen und Kamerfahrten. Nur wir, die Leser, haben alle diese Filme schon gesehen, sie sind unser “Kriegserlebnis”, alles setzt sich fĂŒr uns wieder zur “RealitĂ€t” zusammen und ist nicht auszuschalten, nicht auszuhalten. Das ist stilistisch stark und greift mich tief an.

    Ich hĂ€tte nicht gedacht, dass mich ein Roman ĂŒber den Nationalsozialismus noch mal so kriegt. Kehlmann hat achtzig Jahre nach dem Grauen den Horror nochmal zum Leben erweckt und ich möchte vermuten, nicht nur wegen des faszinierenden Stoffes ĂŒber einen gedrehten und verschollenen Film, und der dieser Story inneliegenden moralischen Parabeln. Ich möchte glauben, es ist ein erneuter Aufruf Daniel Kehlmanns, den AnfĂ€ngen zu wehren und dass das, achtzig f*****g Jahre spĂ€ter, wieder nötig ist, ist der eigentliche, unser Horror.

    “Lichtspiel” von Daniel Kehlmann ist ein antifaschistischer Roman - er kommt zur richtigen Zeit.



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  • Am Ende waren alle sehr schnell des Streitens mĂŒde, ob Herr Falschgold des Satzbaus mit “wie” mĂ€chtiger sei als Anne Findeisen oder andersrum und lauschten den Geschichten aus dem Dresdner Großen Garten, erzĂ€hlt von Irmgard Lumpini. Harmonie kann so einfach sein.



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  • Was HĂ€nschen nicht lernt...

    ...lernt Hans nimmermehr, so lautet eine gĂ€ngige Redewendung, die darauf verweist, dass Wissen, welches man sich nicht schon in jungen Jahren angeeigent hat, man sich auch im Alter eher schlecht noch aneignen wird. Dies ist keine Pauschalverurteilung, denn schließlich macht ja Übung den Meister und selbige fallen auch nicht vom Himmel, dennoch ist etwas Wahres dran. Nehmen wir als Beispiel das Erlernen von Sprache und deren Regeln und hier im Konkreten die Verwendung der Wörter als und wie. In Herrn Falschgolds letztem Beitrag haben wir erfahren, dass er so seine Schwierigkeiten mit der regelgerechten Verwendung dieser Begriffe hat und damit ist er nicht der Einzige. Dabei ist es simpel, vor allem wenn man die beiden Wörter in Vergleichen benutzt. Möchte ich ausdrĂŒcken, dass etwas gleich ist, verwende ich wie, möchte ich jedoch zwei Dinge gegenĂŒberstellen, die ungleich sind, verwende ich als. Als Beispiel: Jemand ist grĂ¶ĂŸer als jemand anderes, aber genauso gut im Rechnen wie der Andere. Es ist also keine Raketenwissenschaft und erst Recht braucht man kein Chat GPT fĂŒr die korrekte Anwendung von als und wie, denn es handelt sich hierbei um ganz einfaches Schulwissen, wo wir wieder bei HĂ€nschen wĂ€ren...Sich ein bisschen MĂŒhe zu geben und seiner Sprache nicht völlig ignorant gegenĂŒberzustehen, kann sicher auch zu einem guten Stil verhelfen. Dieser zeichnet sich fĂŒr mich auch dadurch aus, dass bestimmte Formulierungen immer gemeinsam benutzt werden. Beispielsweise sowohl...als auch, zum einen...zum anderen oder weder...noch.

    Aber in Zeiten, in denen vor allem Vokabeln aus der englischen Sprache immer mehr Einzug in unseren Sprachgebrauch halten, wirkt diese Diskussion vielleicht fast schon ein wenig altbacken und man muss stĂ€ndig am Ball bleiben, um die Weiterentwicklungen nicht zu verpassen. Ob man diese VerĂ€nderungen mit offenen Armen begrĂŒĂŸt oder ihnen eher skeptisch entgegensteht, steht auf einem anderen Blatt. Fakt ist aber, dass eine lebendige Sprache, wie es die deutsche nunmal ist, stĂ€ndig gesprochen wird und dadurch einem Wandel und stĂ€ndiger Entwicklung unterliegt. Wer hĂ€tte heutzutage auch noch große Lust mittelhochdeutsch zu sprechen? Not me. Dass es bei Begrifflichkeiten und Formulierungen die aus anderen Sprachen entlehnt werden auch zu Fehlern in der Übersetzung kommen kann, die dann im Deutschen ihren Lauf nehmen, ist den allermeisten spĂ€testens seit dem berĂŒhmten Beispiel it makes sense im Deutschen gern mit es macht Sinn ĂŒbersetzt, weil es, Achtung false friend ist und eigentlich korrekt es ergibt Sinn heißen mĂŒsste. Aber in lebendigen Sprachen verhĂ€lt es sich offensichtlich so, dass auch eine falsche Formulierung, so sie denn nur oft genug und von ausreichend Menschen benutzt wird, irgendwann auch als richtig in den Duden aufgenommen werden kann. VerĂ€nderung und Wandel heißt ja schließlich nicht immer automatisch zum Besseren und wer sagt eigentlich, dass man den Duden nicht mal anzweifeln kann?

    Wie dem auch sei. Sprache ist einfach etwas zu Schönes und Wertvolles, als dass man jegliche Verhunzungen durch beispielsweise Zeitschriftenartikelschreibende oder auch Politiker einfach durchgehen lassen sollte. Die Vielfalt der Sprache ist so wunderbar, dass sie uns nicht nur zum Zweck des Austauschs von Informationen und zur stupiden Kommunikation dient – auf die sie heutzutage dank diverser Nachrichtenportale ohnehin oft immer weiter reduziert und vereinfacht wird – nein, sie ist das Mittel mit dem wir uns und unsere Gedanken und GefĂŒhle Ă€ußern können, wir haben die verschiedensten Stilmittel, Metaphern und Redewendungen, die wir mit Lust gebrauchen können, um uns auszudrĂŒcken. Selbst Witze zeigen, wie vielfĂ€ltig Sprache eingesetzt werden und Freude bringen kann. Doch allen, die keine Freunde von großen Worten sind, gebe ich noch eine Strophe aus Mascha KalĂ©kos Gedicht Kleine Zwischenbilanz mit auf den Weg:

    Es ist und bleibt das gleiche allerorten –

    Man sagt am Ende nichts, in vielen Worten.

    Zum Reden hat sogar der Feige Mut;

    Doch Schweigen klingt in jeder Sprache gut.



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  • Wir sprechen ĂŒber die BĂŒcher und Rezensionen der letzten drei Wochen, als da wĂ€ren: “Der gefrorene Rabbi” von Steve Stern, rezensiert von Herrn Falschgold, “Gentleman ĂŒber Bord” von Herbert Clyde Lewis behandelte die Rezension von Anne Findeisen und Irmgard Lumpini hatte spoilerfrei um “Miami Punk” von Juan S. Guse herumbesprochen.

    DiskussionswĂŒrdig war dabei alles: angefangen von der Sicht auf den Inhalt eines Buches, dessen Perfektionsgrad und nicht zuletzt die Vermarktung des Werkes. Drei Rezensenten hatten vier Meinungen, mindestens, und haben dafĂŒr extrem zivil diskutiert. Wir sind stolz.



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  • Liebe Leserinnen und Leser,

    meist schaffe ich es, wenig bis gar nichts ĂŒber die Handlung des vorgestellten Werkes zu verraten. Das ist diesmal leider nicht möglich, deshalb das Fazit zuerst:

    “Miami Punk” wurde im deutschen Feuilleton hoch- und runter gelobt. Wenn ihr also wisst, dass ihr euch demnĂ€chst auf einer Vernissage einfinden werdet, auf der so etwas Thema sein könnte oder sollte oder ihr euch prinzipiell dafĂŒr interessiert, was in den ElfenbeintĂŒrmen der Literaturkritik so besprochen und hoch gehandelt wird: dieses Buch ist fĂŒr euch! Das 2. Werk des mit dem Ingeborg-Bachmann-Preises ausgezeichneten Juan S. Guse hat eine sehr starke, dystopische, und leider auch nicht ganz unrealistische Grundidee, die fast im Alleingang den Roman zu einer Empfehlung macht. Also: lest “Miami Punk”, es ist keine verschwendete Lebenszeit.

    Und? Wie fandet ihr es? Welche GefĂŒhle, Reflektionen und Reaktionen hat die LektĂŒre von “Miami Punk” in euch ausgelöst?

    Wir können jetzt aber auch mit dem Vernissagenquatsch aufhören und einfach ĂŒber das Buch schreiben (ich) und lesen (ihr).

    Das Ausgangsszenario ist eine gute Idee: Über Nacht hat sich der Atlantik zurĂŒckgezogen, Miami ist nicht lĂ€nger die Stadt am Ozean, an der schöne Menschen ihre Körper am Strand stĂ€hlen und dann in der Dauerwerbeindustrie verkaufen, tausende Touristen Margaritas schlĂŒrfen und der Hafen einer der wichtigsten Arbeitgeber ist, wĂ€hrend drunter der sumpfige Morast wartet und an allem schiebt und zieht.

    Wie wir zu unserer LektĂŒre gelangen: In meinen jungen Jahren, als ich den damals geltenden Kanon verschlang und ĂŒber die Nennung von Namen diverser Schriftsteller (nicht gegendert, MĂ€nner verwiesen auf MĂ€nner) von den 1920er bis zu den 1960er Jahren hĂŒpfte, hatte ich:

    * die dafĂŒr erforderliche Zeit und(

    * eine noch sehr hohe Toleranzschwelle sowie ein ausgeprĂ€gtes PflichtgefĂŒhl.

    Letztgenanntes zwang mich, jedes angefangene Werk zu Ende zu lesen (oder mindestens zu ĂŒberfliegen), dafĂŒr brauchte es die Toleranzschwelle.

    Etwas schamvoll muss ich gestehen, dass es mir gar nicht in den Sinn kam, ein Buch NICHT zu Ende zu lesen, bevor ich las, dass so etwas möglich ist. Wenn einen das Buch nicht langweilt, kann ein sehr anspruchsvolles Buch wenigstens mit Staunen und Wundern belohnen.

    Wenn man heute googelt, ob das in Ordnung ist, sind die nĂ€chsten Fragen: “Ist es ungesund zu viel zu lesen?” oder “Welche Nachteile hat das Lesen?”

    Ihr mĂŒsst nicht nachschauen: Die letzte Frage behandelt den Genuss von AudiobĂŒchern, nicht das “Lesen” an sich (es gibt keine Nachteile - außer natĂŒrlich die falschen BĂŒcher).

    ZurĂŒck zur Art der Empfehlung: sich ĂŒber Quellen- und Querverweise von LektĂŒre zu LektĂŒre zu hangeln, erschließt leider nur die Welten Ă€hnlicher Gleichgesinnter, weil sich ja alle kennen oder zumindest in denselben Kreisen angesiedelt sind, die die anderen Autoren jeweils akzeptabel oder gar dufte finden.

    Irgendwann, als ich auch nicht mehr Zeit hatte alles zu lesen, was mir irgendwie angespĂŒlt wurde, entdeckte ich das deutsche Feuilleton und seine Empfehlungen.

    Blöde nur, wenn man dann merkt, dass das enorm abhÀngig von der Marktstellung des jeweiligen Verlages und des verwendeten Marketingbudgets abhÀngt.

    Gut, in AusnahmefÀllen schafft es auch mal ein Buch aus einem Indie-Verlag, einen Bestseller zu landen, aber das passiert nicht allzu oft.

    Heutzutage versuchen die unabhĂ€ngigen Verlage entgegenzusteuern, es gibt zahllose Buchempfehlungs- und Literaturblogs, die gefĂŒhlt alles “sehr spannend” finden, uff.

    Nichtsdestotrotz mag ich Buchempfehlungslisten, gerne nach Jahreszeit und vermutetem Anlass (StrandlektĂŒre!) oder direkt nach Autor.

    Noch besser wird es, wenn Menschen (Schriftsteller oder Konsumenten) ihre Vorlieben offenlegen, da sind dann auch mal grĂ¶ĂŸere Überraschungen dabei.

    All das bewegt sich aber immer noch ganz schön im eigenen Dunstkreis, weil Zeitschriften ja ihre Leserschaft analysieren und den Teufel tun werden etwas zu empfehlen, was ihre Fans (lies: Abonnenten) ĂŒberfordern wĂŒrde.

    HierfĂŒr war in den letzten Jahren Twitter eine gute Quelle, weil sich Menschen die Zeit nahmen, bei großen Ereignissen oder verachtungswĂŒrdigen Scheußlichkeiten ein paar Buchempfehlungen fĂŒr diejenigen zu hinterlassen, die nach ErklĂ€rungen oder VerstĂ€ndnis suchen. Was aus Twitter geworden ist, wisst ihr sicher selbst.

    Ein nicht unbedeutendes Mittel der Buchempfehlungen sind die auf den Werken selbst (entweder auf der RĂŒckseite oder als eigenstĂ€ndiger Teil des Buches direkt am Anfang) aufgedruckten Lobpreisungen anderer Schriftsteller*innen oder Medien (sprich Zeitungen, Websites u.Ă€.), wenn man in der Buchhandlung seines Vertrauens neuen Stoff sucht. War das frĂŒher etwas, woran man sich tatsĂ€chlich langhangeln konnte, ist auch das ein lĂ€ngst ein Millionen-Business.

    So abstoßend, dass mir wahrscheinlich spannende LektĂŒre entgangen ist, weil ich dann einfach bockig werde. Richtig aufgefallen und -gestoßen ist mir das bei Don Winslow, von dem wir ja bekanntermaßen Fans sind.

    Und nun der Kreisschluss zum heute empfohlenen Werk: Auf der Verlagsseite findet sich nicht nur eine ins Englische ĂŒbersetzte Passage, sondern auch eine Vielzahl von geradezu ekstatischen Lobpreisungen: “[...] ein wunderbar schwer verdaulicher Roman. Das macht ‘Miami Punk’ zu einem der derzeit ungewöhnlichsten BĂŒcher auf dem deutschen Markt. Ein Werk mit magischer QualitĂ€t.”

    Wunderbar schwer verdaulich? Sowas kann nur jemand schreiben, der nie unter Verstopfung und Schmerzen gelitten hat. Und das “derzeit” ist ein geradezu genial eingebauter kleiner Schritt zurĂŒck - als ob BĂŒcher nicht lĂ€nger als ihren Veröffentlichungsmonat existieren wĂŒrden (BĂŒcherei von Alexandria anyone?). Und “magische QualitĂ€t”? Jesseshergottnochmal.

    Oder hier: “‘Miami Punk’ ist der vorlĂ€ufige Höhepunkt der neuen, ebenso ironischen wie politischen Endzeitliteratur.” Boah: “vorlĂ€ufig, ironisch wie politisch”. Das bekommt man nur sehr schwer ausgeatmet, da muss man direkt “Krieg der Welten” einschalten.

    Weiter in den Lobpreisungen fĂŒr “Miami Punk”: “...Zeug zum Kultroman
ist ein ebenso grĂ¶ĂŸenwahnsinniger wie genialer Roman
so brutal, gelungen und unerwartet wie ein Schnipsel der Musikrichtung, von der der Roman die HĂ€lfte seines Namens hat. 
ist in erster Linie ein Gesellschaftsroman ĂŒber das 21. Jahrhundert
recht unĂŒblicher Referenzraum aus Trash, Nerdculture und Pop
”

    Ich denke, es reicht.

    Gestoßen bin ich auf “Miami Punk” ĂŒbrigens, weil ein Bekannter es auf dem Kindle hatte und der eine Woche bei mir in der KĂŒche lag (Der Kinde, nicht der Bekannte!). Wenn ich die Lobpreisungen vorher gelesen hĂ€tte, wĂ€re es liegen geblieben. So hatte ich eine unterhaltsame Zeit. Und all die, die das Buch nicht direkt nach der Empfehlung gelesen haben, wurden nicht ĂŒber die 1. Romanseite hinaus gespoilert 🙂



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