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  • 14.1. Die moderne Hirnforschung liefert nicht nur anatomische Schnitte, sondern auch elektroenzephalographisch und anderswie gemessene Daten zu neuronalen Aktivitäten im Gehirn. Demzufolge lassen sich schlaftypische neuronale Aktivitätsmuster ausmachen – und auch ein typisches Datenbild dem Traumschlaf zuordnen. Freilich decken solche typischen Messbilder weder die ebenfalls häufigen „untypischen“ Fälle, noch besagen sie viel über die Traumerfahrung selbst, die man eben nicht messen kann – sondern stets „parallel“ erfragen muß, um die Meßdaten überhaupt zuzuordnen. Hirnphysiologie kreist damit bestenfalls einige Begleitumstände des Träumens ein. Eine Erklärung des Träumens gibt sie uns nicht.


  • 13.2. Das philosophische Problem bleibt also bestehen: Wie ist die Differenz des Traumes dimensional faßbar? Und aufgrund welcher Voraussetzungen ist der Traum als Traum kommunizierbar? „In die gemeinsame Welt gelangt der Traum immer nur durch seine Ersetzung.“ (Matthias Fischer) Sei es ersetzt durch Texte, durch die Inszenierung auf der Bühne oder eben: durch Bilder – welche, betrachten wir es historisch, zu ihrer jeweiligen Zeit in vielem durchaus ähnliche Bewegungen unternehmen wie die ihnen zeitgenössischen Texte auch. Auch für die Musik würde wohl das Gleiche gelten.

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  • 12.1. Neben der gesellschaftskritischen Verallgemeinerung der Psychoanalyse gibt es eine zweite, eine eher erkenntnistheoretische und wissenschaftskritische Richtung einer Infragestellung der Psychoanalyse. Sie betrifft nicht die Deutung des manifesten Traums und die Frage, wie man den unbewußten Strukturen unterhalb eines Traumbildes wohl tatsächlich gerecht wird. Sie betrifft vielmehr den Status des manifesten Traumbildes selbst. Mit was für einem Objekt arbeitet die Psychoanalyse eigentlich? Verkennt sie nicht – schon diesseits der Frage unbewußten Strukturen – bereits den ja nur vermeintlich klaren Status ihres Ausgangsobjekts?

    12.2. Zeichentheoretisch betrachtet schwankt Freud hin und her zwischen der Behandlung des manifesten Traumeindrucks als einer Art von Schrift oder aber einer Art von Bild – zum Beispiel der Philosoph und Zeichentheoretiker Jacques Derrida arbeitet das heraus. Sieht man näher hin, so scheitern schon in der Traumdeutung beide Modelle: Der Traum ist weder Schrift noch ein Bild oder eine Sequenz von Bildern. Der Psychoanalyse sei es „niemals gelungen, die Bilder sprechen zu lassen“ heißt es bei Michel Foucault. Gemünzt ist der Satz auf Freud.

    12.3. Foucaults Kritik am Traumverständnis der Psychoanalyse rückt einen kleinen Aufsatz des Psychoanalytikers Ludwig Binswanger ins Licht. Binswanger – wiewohl selbst Psychoanalytiker – löst sich von einer psychologischen Sichtweise der Rolle des Traums in der Therapie. Den letztlich auf eine (an seiner Oberfläche jedenfalls) unproblematische Natur des Traums bezogenen Blick der Freudschen Seeelenwissenschaft (und auch den Realitätsbezug der Psychoanalyse: ein allzu selbstverständlich-naturalistisch „deutenden“ Bezug) ersetzt Binswanger durch eine Perspektive, die das vermeintlich Problem der „Krankheit“ als ein Problem des Weltverhältnisses, der (wie er es nennt) „Daseinsform“ begreift. Der Unterscheid zwischen dem Träumer und dem Wachenden (und dem Kranken irgendwo dazwischen) ist lediglich einer der existentiellen Hinwendung oder Entschlossenheit des Individuums (des „Daseins“) zur Welt.

    12.4. Als Theorie des manifesten Traumes betrachtet weiß die Psychoanalyse im Grunde nicht mehr und nichts qualitativ besser Begründetes über ihr Objekt zu berichten als die Traumtheorien historisch anderer Zeiten – eher weniger. Das betrifft vor allem die Wirklichkeitsfrage. Denn diese wird in der Psychoanalyse auf das Thema des psychischen Widerstandes reduziert, das war die Diagnose Binswangers und Foucaults gewesen: Der Traum verliert in der Psychoanalyse seine Welt-Bedeutung, er wird „psychologisiert“.

  • 11.1. Unterscheidet man zwei Pfade oder Richtungen der Traumtheorie nach Freud, so kann man die erste dieser beiden Richtungen (um die es in der heutigen Vorlesung ging) charakterisieren als
    (1) eine gesellschaftstheoretische Kritik an Freud und
    (2) den Versuch einer gesellschaftskritischen, einer historisch-polischen Überschreitung der Freudschen Psychoanalyse.
    Zu nennen sind (neben Jacques Lacan) Autoren wie Karen Horney, Herbert Marcuse, Ernst Bloch, Wilhelm Reich und andere. Die theoretisch maßgeblichen Arbeiten dieser Autoren entstanden (zumeist) im mittleren Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts und sie erlebten insbesondere in den Jahren um 1968 auch eine Phase der politisch-praktischen Aktualität.

    11.2. Die marxistisch inspirierte Traumdeutung kritisiert Freuds Theorie und seine Praxis als zu eingeschränkt: Die Psychoanalyse fragt per se nie nach der Berechtigung einer neurotischen Struktur, sie ignoriert ihre eigene normalisierende Rolle, sie hinterfragt nicht die Machtstrukturen, gegen die der Patient in seinen Träumen rebelliert.

    11.3. Autoren wie Marcuse, Bloch oder Reich fordern eine Parteilichkeit der Analyse nicht für, sondern gegen die herrschende Normalität. Sie nehmen den Traum nicht nur als einen lebensgeschichtlich motivierten Kompromiß zwischen den unbewußten Triebregungen und dem individuellen Überich eines erwachsenen Menschen. Sie sehen vielmehr hinter den anerzogenen Verzichtsstrukturen die entfremdenden Lebensbedingungen der modernen (kapitalistischen) Gesellschaft. Damit wird der Traum zum Politikum: Nicht einfach das Individuum ist krank, sondern die gesellschaftliche Verfassung muß geändert werden, und zwar bis in das familiäre und sexuelle Alltagsleben hinein.

    11.4. Das gesellschaftskritische Ideal der Traumdeutung schwankt damit – plakativ gesprochen – zwischen einerseits der symptomatischen Interpretation des Traums: Er ist eine Art „Schrei der Unterdrückung“; und andererseits einem romantischen Wörtlichnehmen des Traumes: In unseren Traumbildern (bei Bloch: im Wachtraum) entwerfen wie als Opfer von Unterdrückung Utopien davon, wie eine andere und bessere Zukunft auszusehen hätte. Gemäß dieser zweiten Lesart hieße es dann gleichsam: „Phantasie an die Macht!“.

    11.5. Nehmen wir diesen doppelten Wert, diesen sowohl Symptomwert als auch utopischen Wert des Traumes ernst, so erhalten wir eine Spannung: Der Traum spielt eine dialektische Rolle. Er reagiert auf die Widersprüche der Gegenwart und entwirft gleichsam „wissend“ eine Utopie – die durch Veränderungen, die noch ausstehen, zu verwirklichen wäre. Am Leitfaden unserer Frage nach der Differenz von Traum und Wirklichkeit, müssen wir freilich auch registrieren, daß mit dieser „objektiven“ gesellschaftskritischen Bedeutung über Freud hinaus ein neuer, quasi ein zweiter „Realismus“ des Traums in die die Traumtheorie eingezogen ist. Der Traum ist „realistisch“ bezogen auf die Krankheit und er ist „realistisch“ in seiner Gesellschaftskritik. Das nähert sich einer cartesianischen Figur: Der Traum erscheint als eine (nur verborgene) Gestalt der Vernunft.

    11.6. Deutlich anders, nämlich gerade nicht nun auch noch „realistisch“ – in ihrer Freudkritik, aber auch in ihrer gesellschaftspolitischen Vision – setzen die Vertreter einer jüngeren Generation der freudianisch-marxistischen oder vielleicht auch postfreudianisch- postmarxistischen Gesellschaftskritik an. Ich nannte als Beispiele die Namen Gilles Deleuze und Félix Guattari. Waren Marcuse, Bloch und Reich antirepressive Reformisten (oder vielleicht auch – im Zeichen einer sozial wie psychisch repressionsfreien Zukunft – antikapitalistisch und sexualpolitisch „revolutionär“), wollen sie also eine bessere Realität, so argumentieren Deleuze/Guattari anarchisch. Sie attackieren das Realitätsprinzip selbst. Eben deshalb jedoch kann für sie (in diesem Punkt folgen sie dem Freudschen Modell) der paradigmatisch eigentlich interessante Gegenstand jedoch gerade nicht der Traum sein, sondern derjenige der Schizophrenie.

  • 10.1. In seinem frühen Werk Die Traumdeutung plaziert Freud das manifeste Traumbild wie eine Art Schwellenphänomen zwischen einerseits die Realität des archaischen, im Zweifel krankmachenden Begehrens (die Realität des Unbewußten im Modell des psychischen Apparats) und andererseits die Realität der Erfordernisse der Außenwelt (im Modell des psychischen Apparats: die Realität der vorbewußten Zensur). Der manifeste Traum schwebt vor seiner Deutung wie vermittelnd zwischen beiden Instanzen. – Insofern steht der Traum für die Freudsche Traumwissenschaft nicht einfach (wie etwa für die antike Traumkunde Artemidors) für eine „andere“ Wirklichkeit („der Kinder“, „der Neurotiker“), sondern er ist vor seiner Deutung noch ein unklarer Text, nach seiner Deutung aber liegt die „wirkliche“ – und das heißt die medizinisch-objektive – Bedeutung des Traumes offen, die auf gewisse Weise die „kranke“ wie auch die „naive“ Außenansicht des Traumbildes in aufgeklärter Form zusammenbringt.

    10.2. Für das 20. Jahrhundert ist Freuds Traumtheorie an Wirkung unüberboten geblieben (und auch seine Theorie einer Wirklichkeit des Ich als Kompromißbildung zwischen den kollidierenden Realitäten des Begehrens und der Außenwelt). Gleichwohl gibt es zwei interessante Richtungen der Kritik. Beide nehmen Freuds Denken von Traum und Wirklichkeit zwar auf, radikalisieren es aber und arbeiten es erkennbar um.

    10.3. Nur von der ersten dieser Kritik-Richtungen und Neuakzentuierungen war heute die Rede. Sie setzt ein beim Problem der Deutung – und betrachtet sie nicht länger als „Objektivierungsprozeß“, sondern als soziale und auf Heilung angelegte Situation. Nach Jacques Lacan zielt die Psychoanalyse nicht auf das innere Sosein (ein quasi-organisches „Unbewußtes“) des Menschen, sondern auf die Aktualität einer in einem existenziellen Sinne „sprachlichen“ Situation. Das Reden vom Traum hat eine Schlüsselstellung inne in einem machtvollen Ringen um das „volle Sprechen“ des Patienten, an dem der Analytiker wie der Patient auf unterschiedliche Weise beteiligt sind – und das im Gelingensfall mit einem neuen, „freien“ Ichsagen (und Ich-Erfahrenkönnen) des Patienten endet.

    10.4. Das Verhältnis der Psychoanalyse zur Differenz von Traum und Wirklichkeit rückt aus Lacans prozeßbezogener Beziehungs-Sicht der Therapiesituation in ein neues Licht. Der Arzt „entdeckt“ nicht gleichsam unterhalb des manifesten Traumbildes die innere quasi-physische „psychische“ Wirklichkeit des Subjekts, sondern er verweigert die Akzeptanz der Traumerzählungs-Assoziationen des Patienten, bis dieser sich mit einer neuen und „normaleren“ (weil selbst-distanzierteren und daher teilbaren) Sprecherposition identifiziert.

    10.5. Was Freud noch für möglich gehalten hatte: Ein chemisches oder neurologisches Modell als Basiserklärung der unbewußten Vorgänge ist mit der kommunikations- und anerkennungstheoretischen Theorie Lacans vom Tisch. Dafür muß nun die ganze Psychoanalyse (und auch die Traumdeutung) nurmehr als eine Art „Überredung zur Normalität“, eine Durchsetzung von Wirklichkeitsmacht, erscheinen. Die Analogie mit dem ärztlichen Eingriff paßt nicht mehr. Und es stellt sich die Frage, wie man die Psychoanalyse selbst wiederum (z.B. politisch) verantworten will.


  • 9.1. Der Traum ist Wunscherfüllung – diese Grundformel läßt sich mit Freud noch konkreter explizieren. Das Traummaterial besteht aus erinnerten Tagesresten, diese Tagesreste bilden den manifesten Trauminhalt. An diesen manifesten Elementen des Traums hängt aber weitere, verborgene Vergangenheit. Bestimmte latente Wünsche und – wie Freud es nennt – „Traumgedanken“. Diese lassen sich mithilfe des Assoziationsverfahrens Stück für Stück entziffern.

    9.2. Zum Verständnis der Traumgedanken gelangt man nicht reibungslos, denn der Traum ist Resultat einer Kompromißbildung zwischen verborgenem Begehren und den Belangen einer rigiden Zensur, welche die Schwelle zum Bewußtsein bewacht.

    9.3. Freud unterscheidet vier Mechanismen der „Traumarbeit“, also der inneren (kompromißbildenden) „Arbeit“, deren Resultat der Traum ist: Die Verschiebung von Bedeutung von brisanten auf weniger brisant erscheinende Elemente, die Verdichtung: das Überladen der wenigen Einzelbestandteile eines manifesten Traums mit vielfachen Bedeutung (auch: die „Überdetermination“ des einzelnen Elements); dann die symbolische Vertauschung, eine Form der Verschiebung, in der ein harmloseres Traumelement ein anderes (brisantes) regelrecht ersetzt; und schließlich die sekundäre Bearbeitung – also die unwillkürliche Ergänzung und nachträgliche Anreicherung des Traumes im Moment des Aufwachens und der Fixierung des Traums. In diesem letzten Fall handelt es sich um wachtraumartige Zusätze, die den Trauminhalt zusätzlich entstellen und ebenfalls der Zensur gehorchen.

    9.4. Freud faßt die an der Traumbildung beteiligten Instanzen zu einem quasi-räumlichen Modell der Psyche zusammen, einem modellhaften psychischen Apparat. In dessen Zentrum steht das Unbewußte, das „System UbW“, das alle Eindrücke durchqueren – das aber auch unser Gedächtnis verwaltet – und zwar jenseits des bewußten Erinnerungsakts. Das „System VbW“ wird kontrolliert durch eine „Zensur“ (eine Instanz, die Freud später „Über-Ich“ nennen wird).

    9.5. Denkt man die verschiedenen Funktionen des psychischen Apparates zusammen, so arbeitet das Bewußtsein (oder „Ich“) im Wachen wie im Schlaf gleichsam mit gefiltertem Material – was aber vor allem im Schlaf (in dem keine realitätsgebundenen Aktivitäten stattfinden und die psychische Energie in der Erinnerung regressiv zurückfließt) gleichsam zu „autonomen“ Wahrnehmungen unter massiver Beteiligung des System UbW (wie auch des Zensurdrucks) zu führen scheint. Eben dem Traum.

    9.6. Der Traum wiederum ist „Wächter“ des Schlafs. Im Regelfall kann er verhindern, daß wir aufwachen – und so verhindert er auch, daß wir an den herandrängenden Eindrücken und dem Begehren einer (aus der Sicht des Unbewußten: stets unvergangenen) Vergangenheit krank werden. Sprich: die Selbstkontrolle und den Realitätsbezug verlieren.

  • 8.1. In Freuds Traumdeutung wird das Phänomen Traum in einem ersten Anlauf bestimmt als Erinnern, als „Reproduktion von Erlebtem“, wobei diese Reproduktion, die Traumkonstruktion, nicht strikt zufällig erfolgt, sondern ihren eigenen, verborgenen Regeln gehorcht.

    8.2. Sofern der Traum aus der Fülle des Materials der erlebten Eindrücke eine Auswahl trifft, muß man ihn als einen psychischen Akt betrachten. Dieser Akt hat seinen vollwertigen Platz in einer „Kette“ der anderen Handlungen des Individuums. Im Falle einer psychischen Erkrankung haben nicht nur viele Handlungen des Kranken, sondern auch diese Akte des Träumens symptomatischen Charakter. Aus diesem Grund postuliert Freud, daß die Träume in vollem wissenschaftlichen Wortsinn deutbar sind. Mit diesem Schritt – Träume sind nicht nur Anzeichen, sondern wie Texte lesbar – stellt sich Freud gegen die empirisch-objektivistische Sichtder Naturwissenschaften seiner Zeit. Er tut dies jedoch ohne seinen medizinisch-naturwissenschaftlichen Anspruch aufzugeben.

    8.3. Zum Zweck der Traumdeutung liefert der Patient (im Buch ist dies hilfsweise Freud selbst: er analysiert seine eigenen Träume) in einer eigens erlernten Einstellung freischwebender Aufmerksamkeit das möglichst ungefilterte Traummaterial – und zu diesem Traummaterial seine ebenso ungefilterten Eingebungen, Assoziationen und Gedanken. Die erzählende Auseinandersetzung mit diesen „Einfällen“ zum Traum macht die eigentliche Traumarbeit aus – in der freilich nicht nur das breitwillig Erzählte, sondern gerade auch die Widerstände gegen Eingebungen und Aspekte der Deutung die Richtung zum „Sinn“ der Traumdetails und zum „Sinn“ des Traumes weisen.

    8.4. Neben dem konkreten lebensgeschichtlichen Sinn des Traums als „Akt“ eines mehr oder
    weniger therapiebedürftigen Menschen ist hinter dem Träumen ein Grundmotiv erkennbar: Im Traum geben wir unterschwelligen Wünschen nach. Zitat Freud: „Nach vollendeter Deutungsarbeit läßt sich der Traum als Wunscherfüllung erkennen.“ (Traumdeutung, Kap. II,
    letzter Satz)


  • 7.1. Drei Grundzüge des romantischen Denkens bleiben als feste Bestandteile des
    naturwissenschaftlichen Denkens durch das ganze 19. Jahrhundert erhalten: Das romantische Wissenschaftsverständnis hat erstens einen holistischen Zug: Es denkt die überhaupt nur möglichen und die wirklichen Aspekte der Welt als einen einziges prozeßförmig-bewegtes Kontinuum zusammen. Es verlegt zweitens sein Erkenntnisinteresse auf Latenzphänomene –
    Phänomene unterhalb dessen, was „positiv“ meßbar oder sonstwie evident zutage liegen: In den Blick genommen werde verborgene – „unbewußte“ – Kräfte, die dem (Selbst)Bewußtsein nur in Grenzerfahrungen bzw. nur als Grenzerfahrung gegeben sind. Das romantische Wissenschaftsverständnis sorgte drittens für eine ästhetische Distanz und eine Ent-Zeitlichung der Sicht auf die aktuelle Realität: Unterhalb der aktuellen Wirklichkeit eröffnet sich im Untergrund unserer Erfahrung ein weiter, von ganz anderen als den aktuell wirksamen „äußeren“ Kräften regierter Raum. Hier spielen Größen wie der „Wille“, das „Leben“ oder „Lebenskräfte“ eine entscheidende Rolle. Solche existentiellen Mächte lassen potentiell Traum, Wirklichkeit, Begehren und Erinnerung ineinander gleiten.

    7.2. Holismus, Latenz eines „Unbewußten“, Ent-Zeitlichung des einfachen Zeitpfeils der
    historischen Realität – sofern auch die Traumtheorie Freuds von diesen drei Merkmalen geprägt ist, kann man sie als einen Nachfahren der romantischen Wissenschaftsverständnisses betrachten.

    7.3. Ziehen wir diese Linie (Romantik – Psychoanalyse), so bietet die nachromantische Theorie von Arthur Schopenhauer eine Art Übergangsfigur. Jedenfalls metaphorisch hat Schopenhauer die Träume zu „lesbaren“ Seiten im Buch nicht „der Welt“, sondern unseres „Lebens“ erklärt. In den Träumen tobt unser Wille: derselbe Wille, der als verborgene Urkraft auch im wachen Leben unsere Vorstellungen formt.

    7.4. Nicht etwa nur Schopenhauer nimmt das Träumen ernst, in der zweiten Hälfte des 19.
    Jahrhunderts tut dies vielmehr auch die naturwissenschaftliche Forschung: Die aufblühenden Disziplinen der empirischen Anthropologie – Psychologie, Physiologie, Neurologie, Völkerkunde – entdecken das Thema. Eine Fülle von Literatur erscheint, bringt allerdings in hohem Maße uneinheitliche Thesen und widersprüchliche Ergebnisse hervor.

    7.5. Im Jahr 1900 publiziert Sigmund Freud sein umfangreiches Werk über Die
    Traumdeutung. Das Buch geht aufs Ganze. Wenngleich Freud sich im Namen der Medizin geradezu demonstrativ vom Traumdiskurs seiner Zeit absetzt (er will allein als Mediziner schreiben, „den Umkreis neuropathologischer Interessen“ nicht überschreiten) geht sein Ansatz weit über medizinische Hypothesenbildung hinaus. Freud stellt den Traum vor als den
    Schlüssel zur Erklärung und zur Therapie der Nervenkrankheiten und auch zum Verständnis von Erfahrungsverarbeitung im Seelenleben überhaupt. Der Traum hat, so Freud, einen „theoretischen Wert als Paradigma“ Damit wird eine neue Form von Wissen und eigentlich eine neue Wissenschaft gestiftet: eine, die den Traum nicht allein ‚erklärt‘, sondern ihn zum
    Modell erklärt.

  • 6.1. Die Funktionen des Traumes in der schönen Literatur korrespondieren durchaus mit den philosophischen Traumtheorien der jeweiligen Epoche.

    6.2. Die klassische Literatur spätestens seit der Aufklärung und jedenfalls danach variiert des Thema Traum vielfältig und bunt. Der Traum hat eine problematisierende Funktion: Er zielt gegen einfache, eindeutige Wahrheits- und auch Wirklichkeitsvorstellungen. Der Traum kann verwirren, fehlleiten, hilfreich sein oder Wahrheiten künden – und zumeist hat er Folgen, die nicht einfach zu bewältigen sind. Als Medium der Vorausdeutungen, der Intrigen und Tricks und der Sehnsucht firmiert er in Komödie und Tragödie, Lyrik und Roman. Dabei bleibt er jedoch cum grano salis bis zur Romantik auf die Frage der Komplexität und erst allmählichen Entflechtung von Irrtum und Wahrheit bezogen.

    6.3. Das romantische Projekt der „Universalpoesie“ hatte seine direkte Entsprechung in einer Literatur, in welcher der Traum nicht länger lediglich präsentiert wird als eine unter mehren typischen Figurationen des (mehr oder weniger folgenschweren) Irrtums, des Rätsels, der Illusion. Wie die romantische Philosophie macht sich die romantische Literatur die Form des Traums zu eigen – und konfrontiert auf diese Weise nicht nur die Ansichten oder die Meinungen ihrer Leser, sondern die individuelle Wirklichkeitserfahrung des Lesers mit einer
    Irritation.

    6.4. Wie die Philosophie verkörpert auch die Literatur der Romantik nicht nur eine Infrage-
    stellung der Wirklichkeit. Sie praktiziert vielmehr auf Dauer (und man könnte auch sagen: Sie feiert) ihre eigene Gegenstellung zur Welt. Literarische Texte lösen die von ihnen selbst aufgerissene Problematik möglicher verborgener Abgründe in der Welt und in unserer Seele selbst gerade nicht mehr auf. Die Kunst verkörpert so exemplarisch, daß es ein Drittes geben kann, für das die „reale“ Grenze zwischen Traum und Realität leibhaftig nicht mehr gilt.

    6.5. Die Auswirkungen des romantischen Denkens und der romantischen Bewegung in Kunst und Literatur sind für die Folgezeit (und für das ganze 19. Jahrhundert) überaus prägend gewesen, und zwar sowohl was die Sujets anbetrifft – Natur, Rätsel und Geheimnis, Liebe, Tod, das Geschlechterverhältnis – als auch abstrakter, was das Wirklichkeitsverhältnis angeht. Das 19. Jahrhundert wird mobilisiert durch einen neuen Sinn fürs Untergründige, für die verborgenen, die „latenten“ Seiten der sichtbaren und wissenschaftlich schon erschlossenen Seiten der Welt. Man kann die „idealistische“ politischen Philosophien des 19. Jahrhunderts als „romantisch“ bezeichnet. Es ist aber nicht zuletzt die Naturforschung, die jenes Interesse am Verborgenen und jenen neuen Traum-Sinn der Romantik beerbt.

  • Romantisierungen

    5.1. In der romantischen Philosophie – die sich der Philosophie Kants entgegenstellt, gegen alle Systemzwänge rebelliert und stattdessen „dichterisch“ sein will und „poetisch“ schreiben – gewinnen die Nacht, der Schlaf und namentlich der Traum an Bedeutung. Das Träumen wird zum Urbild der freien, von der Wirklichkeit losgebundenen Schöpfung: einer Schöpfung, die bewußt „irrationale“ Extreme (Begeisterung, Liebesleidenschaft, Wahn und Tod) nicht fürchtet.

    5.2. Neben der – etwa bei Novalis pathetisch gefeierten – symbolischen Aufwertung von Traum und Nacht (oder auch des Tagtraums) kann man die von den romantischen Autoren praktizierte „magische“ Gesprächskultur und auch die bewußt bruchstückhafte Schreibweise des Fragments als Konstruktionsprinzipien betrachten, die das Denken dem Träumen näherbringen. Etwa die Texte (und die theoretischen Thesen) Friedrich Schlegels spielen mit der „polemischen“ Verkreuzung von „Wirk“-lichkeiten, die in sich stimmig, aber untereinander radikal verschieden sind (und wirken).

    5.3. Novalis favorisiert die Nacht und den Tod, Schlegel eher die Tagphantasie und das Leben. Im Prinzip steht die Wachwirklichkeit in der Romantik dem Traum gleichwohl letztlich „symmetrisch“ entgegen, das heißt: ohne ein Vorrecht des einen gegenüber dem anderen. Der ideale Punkt des romantischen Denkens liegt auf der Schwelle dazwischen, im Übergang. So wie wir am Tage reflektieren können (und uns dieser Schwelle annähern), gibt es auch (wiederum in der Theorie strikt symmetrisch) eine Reflexivität des Traums: Wenn wir träumen zu träumen, nähern wir uns dem Übergang zum Wachen an.

    5.4. Eine Verschärfung erfährt der ausbalancierte „polemische“ Kontrast von
    Wachwirklichkeit und Traum, wo romantische Autoren – wie etwa Jean Paul – die Form des Traums ironisch gegen die Wirklichkeit ausspielen, um so der gesamten Form der Wirklichkeit wirksam einen Spiegel vorzuhalten. In der Ironie verwandelt sich die Wirklichkeit des Traums zu einer Spitze gegen die Realität – womit freilich der Traum selbst nicht mehr bloß „Phantasie“ bleibt. Eher steht er gleichsam als neuen (bessere? schlechtere?) Gegen-Wirklichkeit im Raum. Im ironischen Traum schießen literarische Einbildung, politische Parodie wie auch politische Utopie“ zusammen. Aus dem gegen die Wachwirklichkeit arbeitenden Traum wird der Traum als eine Gegenwirklichkeit, die dafür arbeitet, daß die Wachwirklichkeit anders wird.

  • Vorlesung 4 am 17. November: „Der Schlaf der Vernunft gebiert...?“

    4.1. Bei Immanuel Kant finden sich zwischen 1766 und 1798 mehrfach Aussagen, aus denen sich eine Art Anthropologie (und Vernunftpragmatik) des Traums ergibt: In physiologischer Hinsicht greift Kant in vielem die aristotelische Sicht der Dinge wieder auf: Nachts von Wahrnehmungen unbehelligt, spielt in der Seele die Einbildungskraft „wild“ mit den Resten vom Tag. In erkenntnistheoretische Hinsicht folgt Kant Descartes: Es gibt nur eine Wirklichkeit – diejenige, die in der man – wach! – sofort weiß, daß man den Traum nur geträumt hat und ihn als das, was er ist erkennt: eine Täuschung durch Fehlen von Wachsein.

    4.2. Trotz des Täuschungscharakters gibt es einen physiologischen Sinn des Träumens, der sich nicht auf die Frage der Vernunfterkenntnis (wahr/bezweifelbar, falsch) und auch nicht auf die Unterscheidung von Wachen und Schlafen bezieht, sondern auf den Unterschied zwischen „lebendig“ und „tot“: Der Traum unterbricht den Schlaf, träumend sorgen die Lebenskräfte dafür, daß im Tiefschlaf nicht der Tod eintritt.

    4.3. Die Differenz zwischen Traum und Realität hat den Charakter eines gestuften
    Unterschieds mit nur einem Wert: der positiven Realität der Wachwelt. Wir sind auch im Traum noch ein bißchen wach, und wenn wir nicht träumen, merken wir es eindeutig am Grad der Konsistenz unserer Vorstellungen, an deren Klarheit.

    4.4. In „pragmatischer Hinsicht“ ist der Traum als unwillkürliches (und körperlich
    funktionales) Phänomen vernünftigerweise hinnehmbar. Er ist auch harmlos, so lange man ihn nicht inhaltlich ernst nimmt. Tut man dies aber, so tut man es wider bessere
    Einsichtsmöglichkeit: Unser Verstand ist sehr wohl in der Lage, den Zusammenhang der
    Wachwelt von den allenfalls scheinbaren Kohärenzen der Traumwelt zu unterscheiden.

    4.5. Wie Descartes setzt Kant die Trennung zwischen Realität und Nicht-Realität im Grunde schon voraus, wenn er das Wesen des Traums charakterisiert. Das Träumen erscheint allein als die „täuschende“ oder „fehlende“ Fassung einer nur im Wachen gegebenen Wirklichkeit.
    Freilich ist das Träumen physiologisch nützlich – mit dieser funktionalen Komponente behält der Traum einen (auf die „Lebenskräfte“ bezogenen) anthropologischen Sinn.

  • „Glaube und Vernunft“

    3.1. Schon im Frühmittelalter werden die antiken Traumlehren christianisiert – und das heißt vor allem, daß sich im Verhältnis von Traumgesicht, Träumendem und Traumdeutung die Machtfrage verschiebt. Jenseits der Macht des Traums (oder auch der Traumkunde) erscheint die (Über)Macht einer äußeren Autorität, die den Individuen ihre Träume eingibt. Da Träume
    von guten oder bösen Mächten gesandt werden können, bedarf es einer weiteren Autorität, um den Christenmenschen in Sachen Traum zu schützen: Das kirchliche Dogma entscheidet daher über die mögliche spirituelle Bedeutung von Träumen. Die profane Traumdeutung gilt als Aberglauben.
    3.2. In den Meditationen des Descartes taucht der Traum in einer neuen Rolle auf: Das Argument, das vermeintlich Wahrgenommene könne auch geträumt sein, genauer: man könne sich das vermeintlich Wahrgenommene auch als geträumt denken und es also bezweifeln,
    dient als Zwischenschritt auf dem systematischen Weg einer Vernunftphilosophie, die sich selbst (ihr eigenes „Denken“) als Gewißheitsform identifiziert.
    3.3. Descartes argumentiert nicht nur mit dem Traum, er definiert den Traum: als Mangel an Klarheit. Auch das letzte Argument des Descartes, sein „Gottesbeweis“, mobilisiert daher im Grunde mit der Figur des Traums: Die Welt könne nicht von einem genius malignus, einem bösen Geist, geschaffen sein, denn unsere Wahrnehmung von ihr und vor allem unsere Erkenntnis des Cogito (im Denken, im cogitare) seien „klar“.
    3.4. Mit seiner methodischen Widerlegung der Geträumtheit der Welt hat Descartes dem Traum gleichsam ein rein negatives Wesen zugewiesen: Er ist das bloßen Fehlen von Etwas, von Vernunftsicherheit und -klarheit. Seine Traumdefinition liegt genau auf der selben Linie wie der Einsatz des Traumarguments. Wenn nicht alles ein Traum ist (eine Täuschung des
    genius malignus, des bösen Geistes), dann ist eigentlich nichts wirklich anderes als die Vernunft denkbar – es gibt nur noch den Mangel an Vernunft.
    3.5. Mit der cartesischen Wendung entsteht eine Traumtheorie, die der Wirklichkeit den Traum nur noch als Leerfall oder Ausfallserscheinung gegenüberstellt. Der Vernunft fremd ist der Traum nicht mehr. Er ist einfach unwirklich – während alles, was vom Cogito her einen vernünftigen Zusammenhang bildet, wirklich ist.

  • „Antike“

    2.1. Die antike Philosophie behandelt den Traum keineswegs als Sprachrohr der Götter. Aristoteles bietet vielmehr eine physiologische, eine geradezu ‚positivistische‘ Erklärung des Traums (Nachwirbel der Wahrnehmung im Schlaf).
    2.2. Der Deutbarkeit von Traumvorstellungen sind nach Aristoteles enge Grenzen gesetzt, sichere Zukunftsaussagen hält er für unmöglich. An sich jedoch gehört die Analyse der eigenen Träume zum antiken Alltag. Aus der Sicht des Traumbuchs des Artemidoros von Daldis lassen sich Zustands- bzw. Bedürfnisträume ohne Zukunftsbezug (enhypnia) und zukunftsbezogene Traumgesichte (oneiroi) zuverlässig unterscheiden und deuten. Träume haben für den Traumverwender einen großen praktischen Nutzen – und im Sinne der Ertüchtigung im Umgang mit dem Schicksal auch einen handfesten „ethischen“ Wert.
    2.3. Das Deutungsverfahren des Artemidor kennt u.a. „allegorische“ Traumgesichte. Sie zeigen Künftiges, aber in verschleierter Form und sind daher der professionellen Auslegung bedürftig. Artemidor zufolge gewinnt die Auslegungskunst Sicherheit, wenn sie sich ganz auf die tatsächliche Erfahrung stützt. Empirisch ermitteltes Wissen um den tatsächlichen Ausgang von Träumen ergibt einen wirklich zuverlässigen Leitfaden, mit dem man den wirklich in den Träumen enthaltenen Gewinn aus diesen auch ziehen kann.
    2,4. So etwas wie die für uns heute normale Trennung von Traum und Wirklichkeit lassen die antiken Quellen gerade nicht erkennen. Die Antike kennt nicht eine Wirklichkeit, aus der per se der Traum herausfällt. Im Gegenteil. Artemidors Traumdeutung hat im Grunde den Charakter einer Wirklichkeitswissenschaft des Traums: Auch das im Schlaf Erfahrene ist –
    wenn man so will – „wirklich“ oder besser: praktisch bedeutsam und hat für eine umsichtige, vernünftige Lebensführung in der Zeit des Wachseins Gewicht.
    2.5. Das weichenstellende Kriterium in der Frage, ob man etwas als Traum(wirklichkeit) oder Wach(wirklichkeit) betrachtet, ist bei Aristoteles wie Artemidor nicht eine qualitativ unterschiedliche Beschaffenheit der jeweiligen Vorstellungsart (bei Aristoteles sind die Traumvorstellungen beispielsweise einfach schwächere Nacheindrücke der Wahrnehmung).
    Das Kriterium ist einfach ein praktisches: hat man die fraglichen Vorstellungen im Wachen oder im Schlaf? Trügerische Eindrücke gibt es in der Wachwahrnehmung und im Traum. Ebenfalls aber sind in beidem Gewißheit und Wahrheit zu haben. Man muß sie nur auf jeweils spezifische Weise erschließen.

  • „Zur Einführung“

    1.1. Wir fragen nach dem Traum – das heißt: wir befassen uns mit einem nur sporadisch in der Philosophie überhaupt behandelten Phänomen. Der Traum fällt auf die Rückseite, die „Nachtseite“ der europäischen Denktradition. Zudem wird gegen den Traum argumentiert: In philosophischen Texten fungiert der Traum (als Verwandter der Illusion, der Täuschung, der Trugbildes) geradezu als Gegenspieler des Denkens.
    1.2. Gleichwohl hat das Thema Traum das europäische Denken immer fasziniert. Dies weniger in der Wissenschaft als vielmehr im Alltag, in der lebensnahen Heilkunde (in der Nähe der Ethik), in Religion und Kunst, und vor allem in der Literatur hat das Thema Traum seinen Ort – und dort hat es auch eine bunte, eine (von der rationalen Theoriebildung her gesehen) sozusagen „inoffizielle“ Tradition.
    1.3. Mit dem Entstehen der Anthropologie und der den lebenden Menschen erforschenden Wissenschaften Psychologie, Soziologie, Ethnologie rückt das Träumen im 19. Jahrhundert dann doch in das Untersuchungsfeld der Wissenschaft. Der Traum wird bis zu einem gewissen Grade „verwissenschaftlicht“. Die Physiologie und Psychologie tragen hierzu bei.
    Für die Theoriebildung stellt vor allem aber Freuds Psychoanalyse – eine regelrechte neue Traumwissenschaft – einen wichtigen Einschnitt dar.
    1.4. Für uns heute jedenfalls ist der Traum dadurch bestimmt, sich von einer „Wirklichkeit“ scharf zu unterscheiden. Nicht allein die Frage nach dem Traum (und nach dem historischen Wandel der Auffassungen vom Traum) soll daher Gegenstand der Vorlesung sein. Das zentrale philosophische Thema der Vorlesung ist vielmehr die Unterscheidungslinie zwischen dem Traum und der „realen“ Welt – und also auch das Problem „Wirklichkeit“. Mit anderen Worten: Gefragt werden soll nicht nur nach verschiedenen Theorien des Traums oder nach der Geschichte der Traumtheorien, sondern nach der Art und Weise, in der man in verschiedenen Epochen etwas als einen „Traum“ von etwas anderem unterscheidet, das als nichtgeträumte Realität – als „wirklich“, als wachwirklich gilt. Wie ist die Differenz von Traum und Wachwirklichkeit beschaffen, wie funktioniert sie und welche Funktion hat diese Differenz? Nach dem Traum fragen heißt also, immer auch nach dem zu fragen, was Wirklichkeit heißt.
    1.5. Die Philosophie arbeitet reflexiv, also über Texten denkend. Sie arbeitet aber auch in der historischen Analyse mit dem Mittel des Vergleichs. In den Blick genommen wird in der Vorlesung daher eine Art Geschichte oder ‚Genealogie‘ (eine Herkunftserforschung) unseres heutigen Verständnisses des Traumes. Genauer sollte besser sagen: Es geht nicht um eine Geschichte nicht ‚des‘ Traumes selbst, sondern von Aussagen zum Traum, also von Traum Diskursen. Weil eine solche Traum-Geschichte jedoch eigentlich [siehe 1.4.] eine Geschichte jener Linie sein muß, die den Traum vom Wirklichen trennt, geht es in der Vorlesung um mehr als um eine Geschichte des Traums. Ein Stück Geschichte der Wirklichkeit ist in der Geschichte des Traums zu lesen.