Episodit
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Wir sprechen. Aber was tun wir, wenn wir sprechen? Drücken wir unser Inneres aus? Wenden wir ein äußeres Sprachsystem an? Sprechen ist eine materielle Praxis, sie ist an Töne, an den Körper und häufig an Medien gebunden. Unser Sprechen ist Teil unserer täglichen Praktiken, ohne zu sprechen, könnten wir diese gar nicht ausführen. In der kritischen Gesellschaftstheorie wurde von den einen vertreten, dass die Sprache auf Verständigung zielt, demnach können wir alle die Sprache wie einen gemeinsamen Schatz verwenden. Andere vertraten die Ansicht, dass jede Klasse eine eigene Sprache ausbildet, die Beherrschten hätten dann keine Sprache, in der sie sich über ihre Freiheitsbestrebungen verständigen könnten. Vološinovs Buch ist ein wichtiger Beitrag, der im Zusammenhang des legendären Bachtin-Kreises in den 1920er Jahren in Leningrad entstanden ist. Ihm zufolge besteht die Sprache aus Zeichen, Zeichen sind ideologisches Material. Wir verstehen Zeichen, indem wir Zeichen auf andere Zeichen beziehen. Wörter sind Zeichen par excellence. Das Reden findet zeichenhaft statt, mit der Äußerung von Wörtern beziehen wir uns immer dialogisch auf andere und geben ihnen überkreuzte Bedeutungen. Wir nehmen die Zeichen als innere Rede in unser Bewusstsein hinein, das sich dadurch überhaupt erst bildet und aus Zeichen besteht. Der Klassenkampf findet im Inneren des Zeichenmaterials statt und wird um die Bedeutungen der Zeichen geführt.
Zu Gast bei Alex Demirović ist in dieser Folge Sylvia Sasse, Slawistin und Literaturwissenschaftlerin, die das Buch „Michail Bachtin zur Einführung“ geschrieben hat. -
Wilhelm Reich lieferte mit dem Buch die erste psychologisch-gesellschaftskritische Analyse des Erfolgs der Nazis. Wie hängen autoritäre Triebunterdrückung und faschistische Ideologie zusammen? Anders als die meisten Vertreter der KPD war Reich überzeugt davon, dass der Faschismus 1933 einen dauerhaften Sieg errungen hatte. Er fragte sich, warum die Arbeiter*innen bereit waren, gegen ihre ökonomischen Interessen zu wählen. Sie sahen offensichtlich den Widerspruch nicht, dass Hitler allen alles versprach, also dem Proletariat auch die Revolution, aber am Ende nur die Politik des Großkapitals verfolgte. Seine Antwort rückte die Rolle der Ideologie in den Blick; ideologische Reproduktion von Ausbeutung und Herrschaft will er durch Psychoanalyse erklären. Die linke Praxis, propagandistisch auf das soziale Elend hinzuweisen, erschien ihm verkürzt. Er betonte, wie die Nazis durch ihre Propaganda das rationale Denken umgingen und Gefühle mobilisierten. Der kulturelle Kampf ging darum, wie die Arbeiter*innen ihre soziale Lage deuteten. Auf der Grundlage seiner kommunistischen Jugendarbeit und der Erfahrungen, die er mit der sexuellen Not der Jugendlichen und ihren alltäglichen Praktiken gemacht hatte, brachte Reich die Psychoanalyse Sigmund Freuds ins Spiel. Der kleinbürgerliche Alltag müsste geändert werden, die Macht der Familie, der Kirchen müsste kritisiert werden. Es wäre Aufklärung notwendig, mit der autoritären Sexualmoral müsste gebrochen werden. Reich argumentiert dafür, dass die Linke sich für Abtreibung, vorehelichen Geschlechtsverkehr, für sexuell befriedigende Beziehungen einsetzte, um den Autoritarismus zu überwinden.
Im Gespräch mit Alex Demirović ist Prof. Helmut Dahmer, studierte bei Horkheimer und Adorno in Frankfurt am Main, war Professor für Soziologie in Darmstadt und lebt in Wien. -
Puuttuva jakso?
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Mit seinem Buch „Die permanente Revolution“ schrieb Leo Trotzki 1929 die theoretische Grundlage, auf der er selbst praktisch als Revolutionär in den Jahren 1905 und 1917 mitgewirkt hatte. Revolution versteht er als einen Prozess, der in der Permanenz stattfinden muss. Zwar beginnt sie auf nationalem Boden, doch findet sie im Gefüge des globalen, kapitalistischen Weltmarkts und seiner Produktivkräfte statt, mit denen ein Nationalstaat kaum mithalten kann. Der Entwicklungsstand der Produktivkräfte, der Zustand der Klassen und die Beziehung und Entwicklung der Wirtschaftszweige zueinander – all diese Besonderheiten, die einen spezifischen Nationalstaat ausmachen, gilt es zu erkennen und zu analysieren. Denn sie sind für die konkrete Entwicklung von revolutionären Prozessen entscheidend. Anstatt den Zustand von Nationalstaaten in Etappen oder in Stadien der Reife zu denken, sieht Trotzki also eine ungleichmäßige Entwicklung, die in den revolutionären Prozessen jeweils mitgedacht werden müssen.
Trotzkis „Permanente Revolution“ wendet sich somit gegen den Stalinismus und die damit einhergehende Theorie des Sozialismus in einem Land. Es ist auch eine Kritik an der Führungsgarde der bolschewistischen Partei, die die demokratische Revolution nicht ernst nimmt und in Russland den großen Anteil der Bauernschaft in der Bevölkerung nicht ernst nahm, die, in ihrem Spannungsverhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat, hätte behandelt werden müssen.
Die demokratische Revolution kann nur durchgeführt werden, so Trotzki, wenn sie dann in eine sozialistische Revolution hinüberwächst.
Zu Gast bei Alex Demirović ist in dieser Folge der ehemalige Trotzkist und kommunistische YouTuber Fabian Lehr. -
Kollontai war die erste Ministerin und Botschafterin der Welt. Sie setzte als Volkskommissarin für soziale Fürsorge 1917-1918 zahlreiche Verbesserungen im Eherecht und die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs durch. Volksküchen und kollektive Kinderbetreuung wurde entwickelt. Die 14 Vorlesungen, die Kollontai 1921 an der Swerdlow-Universität vor Arbeiterinnen und Bäuerinnen hielt, legen dar, wie sich gesellschaftliche Verhältnisse entwickelten, unter denen Frauen historisch frei leben konnten und wie sie den Männern und der Familienarbeit immer wieder untergeordnet wurden. Neben den Kämpfen der Klassen gab es immer die Kämpfe der Frauen um ihre Emanzipation. Kollontai trägt Material zusammen, das Auskunft gibt über die stolzen Traditionen der intellektuellen Eigenständigkeit der Frauen und ihrer Kämpfe. Kollontai erklärt diese Unterwerfung unter die geschlechtliche Sklaverei damit, dass den Frauen der Zugang zur Teilnahme an der gesellschaftlich produktiven Arbeit vorenthalten wurde und bis heute immer noch wird. Dabei geht es ihr nicht allein um die jeweiligen historischen Eigentumsverhältnisse, sondern die geschlechtliche Arbeitsteilung. Ihre politische Praxis als Volkskommissarin der Revolutionsregierung zielte deswegen darauf, Frauen die Möglichkeit zu geben, an der gesellschaftlichen Arbeit teilzunehmen und sich aus dem Herrschaftszusammenhang der Familienarbeit, der Ehe und eingeschränkten erotischen Verhältnissen herauszulösen.
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Frigga Haug ist eine der bekanntesten marxistischen Feministinnen. Sie analysiert Geschlechterverhältnisse als Produktionsverhältnisse. In vier Bereichen: Ökonomie, Politik, Kultur und in den Möglichkeiten zur Selbstentfaltung werden Frauen unterdrückt, wird ihre Arbeitskraft von Männern angeeignet und wird über ihre Körper und Sexualität verfügt. Die Vorstellung, wonach es einen Haupt- und einen Nebenwiderspruch gebe, eine Schrittfolge der Emanzipation erst durch die Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, dann erst des Patriarchats – oder umgekehrt - kritisiert Haug. Die Kämpfe gehen zusammen, und diesen Zusammenhang will sie denken: die Produktion der Lebensmittel und die Produktion des Lebens sollen nicht gegeneinandergestellt werden. Beides lässt sich aber auch nicht auseinander ableiten. Die patriarchale Unterdrückung und die kapitalistische Ausbeutung verstärken sich wechselseitig. Dies wird ermöglicht durch die Arbeitsteilung, durch die Trennungen jener vier Bereiche, die die Frauen auf die Sphäre des Privaten, der Familienarbeit begrenzt und vom Öffentlichen getrennt haben. Politische Kunst soll diese Trennungen überwinden, so dass die Individuen durch radikale Verkürzung der Erwerbsarbeit Zeit für Care-Arbeit, politische Arbeit und Arbeit der Selbstentfaltung haben. Frauen zu stärken, so dass sie selbst handlungsfähig werden und sich ihre Erfahrungen erschließen und alles Wissen aneignen, das sie für ihre Emanzipation benötigen – darauf zielt Haug, wenn sie die Verwirklichung von Gleichheit, Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit einfordert.
Zu Gast bei Alex Demirović ist in dieser Folge Katja Kipping, die bis 2023 für die Partei „Die Linke" Berliner Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales war und mit Frigga Haug und anderen Frauen unter dem Namen „Die Dialektikfrauen" einen Austausch pflegte. -
Jacques Derrida bezeichnet mit der Begriffsschöpfung «Grammatologie» die Wissenschaft der geschriebenen Schrift. Der 1967 veröffentlichte Text ist ein zentrales Werk des Poststrukturalismus und begründet damit das Lektüre- und Analyseverfahren der Dekonstruktion. Derrida galt als der weltweit bekannteste zeitgenössische Philosoph.
Die tiefe Verankerung für das metaphysische Denken des Abendlands und herrschaftlichen Strukturen sieht Derrida in der alphabetischen Schrift. Ein Novum, denn in der philosophischen Tradition seit Platon wird die Schrift allgemein abgewertet. Sie soll nur Abbildung des Wortes sein, das gesprochene Wort drücke die Seele und den Sinn, die Bedeutung der Wirklichkeit aus. Dabei gerät die Praxis der Schrift und des Schreibens als materielle Praxis aus dem Blick. Doch was passiert in einer Zeit von neuen materiellen Praktiken des Schreibens? Was kritisiert Derrida als Phonologozentrismus? Wie konzipiert er den Begriff Différance? Welche Grundlagen für kritisches Denken hat Derrida gelegt, die heute für emanzipatorische Analyse und Praxis notwendig sind?
Im Gespräch mit Alex Demirović ist Joseph Vogl, emeritierter Professor für Neuere deutsche Literatur, Kulturwissenschaft/Medien der Humboldt-Universität zu Berlin. -
Der Kapitalismus muss sich zwanghaft erweitert reproduzieren: immer mehr Kapital akkumulieren und verwerten. Dabei stößt er auf Widerstände und erzeugt Krisen.
In ihrem Buch «Das neue Gesicht des Kapitalismus. Vom Fordismus zum Post-Fordismus» verfolgen Joachim Hirsch und Roland Roth einen materialistischen Ansatz und untersuchen die Identität der kapitalistischen Entwicklung: Was bleibt, was setzt sich durch? Sie untersuchen die Krise des fordistischen Modells ab den 1970er Jahren. Die Lohnabhängigen werden erkämpfen einen höheren Anteil am Mehrwert und die Profitrate sinkt.
Hirsch/Roth beschreiben, wie sich eine neue Form der Regulation herausbildet, die als Postfordismus charakterisiert werden kann. Doch wie sieht diese Regulationsweise aus? Welchen Einfluss hat sie auf die Lebensweise, die Familien- und Frauenbilder? Wie entwickelt sich das Verhältnis der Arbeiter*innen zum Produktionsprozess? Wie wird die Macht der Arbeiter*innen in Betrieb und Gesellschaft zurückgedrängt? Wie entwickeln sich neue Formen der Disziplinarmacht? Wie wird Zustimmung zu der Leitideologie organisiert? Diese Fragen stehen im Zentrum vieler Überlegungen dieser Zeit, die Antworten sind immer noch unabgegolten.
Zu Gast bei Alex Demirović ist in dieser Folge Birgit Sauer, Professorin für Politikwissenschaft an der Uni Wien und Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
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«Partisanenprofessor im Lande der Mitläufer» wurde Wolfgang Abendroth von Jürgen Habermas genannt. Er war im Widerstand gegen den Faschismus aktiv, wurde gefoltert und verbrachte Jahre in Haft und im berüchtigten Strafbataillon 999, desertierte 1944 zur griechischen Widerstandsbewegung. Als Sozialist, Politik- und Rechtswissenschaftler war er in der Arbeiterbewegung und in der Akademie aktiv. Abendroth wurde aus der KPD und SPD ausgeschlossen, versuchte sich aber Zeit seines Lebens am linken Flügel der Arbeiterbewegung zu verankern. Er war Begründer der «Marburger Schule» und entwickelte Konzepte zur Demokratisierung der Hochschulen und prägte die Debatte um die Betriebsverfassung und Sozialstaatlichkeit. Er war auch politischer Chronist der Gewerkschaftsbewegung.
Im vorliegenden Theoriepodcast diskutieren wir Abendroths Gedanken anhand des 1954 verfassten Textes «Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland». Zu Gast bei Alex Demirović ist Frank Deppe, emeritierter Professor für Politikwissenschaft in Marburg und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Mehr zu Wolfgang Abendroth und viele Aufzeichnungen seiner Vorlesungen und Vorträge unter:
https://wolfgangabendroth.org/
Der besprochene Text findet sich hier:
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«Nur das organisierte Nein sprengt die Fesseln staatsbürgerlich-parlamentarischer Gleichschaltung» schrieb Johannes Agnoli 1967 in seinem Buch: «Die Transformation der Demokratie». In einer Zeit, in der die neonazistische Partei NPD in einige Landesparlamente einzog und die CDU/CSU-geführte Regierung eine Notstandsgesetzgebung vorantrieb, wurde für die sich formierende außerparlamentarische Opposition der Text ein wichtiger Bezugspunkt. Wie wird trotz parlamentarischer Verfahren antidemokratische Politik durchgesetzt? Wie werden Lohnabhängige in das System integriert? Eine Kernthese Agniolis war die Tendenz zur Entwicklung einer «Einheitspartei», ohne fundamentale Opposition. Dagegen formulierte er die Idee eines «organisierten Nein» um Freiheitsräume auszudehnen.
Im Gespräch mit Alex Demirović ist Michael Hewener, er hat die Neuauflage von «Der Staat des Kapitals» von Agnoli mit herausgegeben.
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Kracauer war, bevor er von den Nazis ins Exil gezwungen wurde, einer der großen Filmkritiker der Weimarer Republik. 1960 legte er sein theoretisches Hauptwerk zum Film vor. Es trug den bezeichnenden Untertitel: «Die Errettung der äußeren Wirklichkeit». Das ist nicht im naiven Sinn realistisch gemeint. Regisseur*innen sind schöpferisch, aber sie müssen, das unterstreicht Kracauer, sich im besonderen Medium des Films bewegen. Wie in der Fotografie registriert der Film die Wirklichkeit und bildet sie ab. Anders als in der sonstigen Kunst bleibt dieser Rohstoff in den Fotos und im Film erhalten; aber das Kamera-Auge entdeckt auch Wirklichkeit, die das bloße Auge nicht sieht. Vor allem kann der Film den Fluss des Lebens darstellen, also den Alltag, die Eigenart von Gebärden, die Zufälle von Begegnungen, die Treffpunkte vieler Menschen: Bahnhöfe, Flughäfen, Straßen. Die Massen, der schnelle Ortswechsel, das Nachspüren zeichnen den Film aus.
Für Kracauer ist der Film materialistische Praxis: von unten, nah am Detail, verankert im Alltag. Das meiste, was in die Kinos kommt, hält Kracauer für Kulturwarenproduktion, sie ist Gegenstand der Ideologiekritik, nicht Gegenstand seiner materialen Ästhetik. Seinem programmatischen Anspruch entsprechen nur wenige Filme, solche von Chaplin, Eisenstein, de Sica, Fellini, Hitchcock.
Vom Film erwartet Kracauer, dass er uns wie ein Spiegel den indirekten Blick auf die Ungeheuerlichkeiten und Grausamkeiten der bürgerlichen Welt erlaubt; er hofft aber auch darauf, dass der Film ein neues Verhältnis zur gemeinsamen Erde der Menschen stiften und, weil er ihnen ihren gemeinsamen Alltag erschließt, zur Einheit der Menschheit beitragen kann.
Zu Gast bei Alex Demirović ist in dieser Folge der Filmkritiker, YouTuber und Podcaster Wolfang M. Schmitt. -
«Es ist sicher das furchtbarste Missile, das den Bürgern an den Kopf geschleudert worden ist» schrieb Marx über das Buch, das unter dem Titel: «Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band, Buch I: Der Produktionsprozeß des Kapitals» 1867 in Hamburg erschienen ist.
Marx analysiert in ihm die grundlegenden Prozesse der kapitalistischen Produktionsweise. Er beginnt mit der Ware als Elementarform des Kapitalismus. Es folgt die Entstehung des Geldes als allgemeines Tauschmittel, der Arbeitsprozess und die Mehrwertbildung durch die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft, aber auch die ursprüngliche Akkumulation, wie Marx die Entstehungsphase des Kapitalismus benennt.
So wie Charles Darwin die Gesetze der Evolution erforschte, wollte Marx die Bewegungsgesetze der Wirtschaft analysieren und legte mit dem «Kapital» den Grundstein für eine wissenschaftliche Revolution.
Die Aneignung von Arbeit durch das Kapital und der Zwang des Kapitals sich selbst zu vermehren und permanent Wachstum zu generieren, sind Grundlagen des Kapitalismus. Mit dem «Kapital» hat Marx die Grundlage gelegt um den Prozess der Klassengeschichte besser zu verstehen und deutlich gemacht, dass eine andere Form des Arbeitens und Lebens, herrschaftsfreie Verhältnisse untereinander und im Verhältnis zur Natur notwendig sind.
Marx schreibt in der Einleitung «Aller Anfang ist schwer, das gilt in aller Wissenschaft» - diese Arbeit kann unser Podcast nicht ersetzen, aber wir geben einen ersten Einblick in das Werk und diskutieren zentrale Begriffe von Marx.
Im Gespräch mit Alex Demirović ist Sabine Nuss, freie Journalistin und Marx-Expertin, die lange Zeit für die Rosa-Luxemburg-Stiftung zu Marx gearbeitet hat.
Wie immer freuen wir uns über Rückmeldungen von euch zur neuen Folge. Schreibt einfach an [email protected] -
Maria Mies war eine feministische Aktivistin gegen die kapitalistische Globalisierung, gegen die Kolonialisierung, gegen die Schuldenabhängigkeit der Länder des globalen Südens. Sie gründete gemeinsam mit anderen 1976 das erste autonome Frauenhaus in Köln. Das Buch «Patriachat und Kapital», dass 1985 zuerst auf Englisch, dann 1988 auf Deutsch erschienen ist, vermittelt einen Eindruck von ihrer erdumspannenden Perspektive und ihrer politischen Arbeit.
Entschieden vertritt sie in Wissenschaft und Politik einen feministischen Standpunkt. Das Patriarchat geht dem Kapitalismus voraus, dieser setzt auf höherem Niveau patriarchale Herrschaftsverhältnisse fort. Die ökonomische, sexuelle Ausbeutung und Unterdrückung der Frauen durch die Männer ist die Grundlage der Kapitalakkumulation. Ein Erfolg kapitalistischer Herrschaft ist es, die Frauen im globalen Norden zu «hausfrauisieren» und ihrer Freiheit zu berauben, während die Frauen im Süden in die Sklaverei gezwungen werden. Die Arbeiter, selbst unterworfen und ausgebeutet, werden auf diese Weise an die Seite des Kapitals gezogen.
Für Maria Mies kommt historisch im Kapitalismus alles zusammen: Eine Ganzheit von Herrschaftspraktiken der herrschenden Männer verwandeln die Frauen, die Natur, die Regionen des Südens in Kolonien. Die Kämpfe gegen diese historische Form von Gewalt bilden eine innere Einheit. Für Maria Mies geht es darum, dass die Frauen die Selbstbestimmung über ihren Körper, über ihre Sexualität, über ihre Reproduktionsrechte erobern. Auf diesem Weg würden zentrale Pfeiler auch der kapitalistischen Reproduktion in die Krise geraten. So ist nicht verwunderlich, wenn auch heute und immer wieder herrschende Kräfte sich so erbittert dieser Emanzipation entgegenstellen.
Alex Demirović ist im Gespräch mit Christa Wichterich, sie ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Wissens-Aktivistin und feministische Soziologin, die viele Jahre ihres Berufslebens in Indien und Ostafrika gearbeitet hat. Zuletzt arbeitete sie an Universitäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz als Gastprofessorin für Geschlechterpolitik.
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Die Begriffe der «Negation» und der «großen Verweigerung» sind zentral zum Verständnis des Theoretikers Herbert Marcuse, der seit Mitte der 1960er Jahre durch die Bewegung der Neuen Linken weltweit bekannt wurde. Seine Bücher haben zur politischen und philosophischen Bildung und zu den strategischen Diskussionen mehrerer Generationen von Aktivist*innen beigetragen, auch weil sich Marcuse eng mit der Studierendenbewegung verbunden hat.
Marcuse diagnostiziert der kapitalistischen Entwicklung, dass die Integration der Arbeiterklasse dazu führt, dass die kapitalistische Gesellschaft in ihrem Kernbereich keine Opposition mehr kennt. Die kritische, marxistische Theorie findet keine Grundlage in den Verhältnissen. Alles gerät in den Sog der Warenproduktion und Profitmaximierung. Bedürfnisse, Kunst, Denken, Sprache - alles folgt letztlich der Logik der technologischen Rationalität. Er analysiert, wie der permanente Konsum die Bedürfnisse deformiert und letztlich das Leben auf dem Planeten bedroht. Im Ergebnis herrscht ein eindimensionales Verständnis von Reichtum: Waren und mehr Geld. Dagegen plädiert Marcuse für die «große Verweigerung». Viele verstanden darunter den Ausstieg aus der Gesellschaft in der Alternativbewegung, doch ist das tatsächlich gemeint?
Marcuse analysiert und kritisiert den Kapitalismus in seiner damals ausgeprägten Form und nimmt ihm jeden Schimmer von Nostalgie an die «guten alten Zeiten» des Fordismus. Das Buch endet mit dem Benjamin-Zitat: «Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben».
Wie kann Marcuse heute bei der Analyse und Kritik der Verhältnisse helfen?
Dies diskutiert Alex Demirović mit Thomas Ebermann, Publizist und Theatermacher, der unter anderem mit dem Stück «Der eindimensionale Mensch wird 50» auf Tour ging. Er war auch mal Politiker, aber «andere fanden sich in der Rolle besser zurecht». Thomas Ebermann legt im Gespräch dar, weshalb die Negation eine Grundbedingung linker Politik sein sollte.
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Die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung wurde in den 1990er Jahren von prominenten deutschen Sozialwissenschaftlern wie Ulrich Beck oder Wolfgang Streeck totgesagt. Die politische Diskussion stand unter dem Eindruck der Anpassung an die Sachzwänge des Weltmarkts und den Angriffen der Neuen Mitte auf den Wohlfahrtsstaat. Dem stellte sich eine breite Allianz von Gewerkschafter*innen, Frauen, Umwelt- und Studierendengruppen 1999 mit Protesten in Seattle gegen die Konferenz der Welthandelsorganisation und das Projekt der Globalisierung entgegen. Es war ein Aufbruchssignal, auf das sich auch Silver bezieht. Dass die Kämpfe der Arbeiter*innenbewegung nicht zu Ende sind, ist das zentrale Argument von Silvers Buch, das Weltsystemanalyse und Postoperaismus produktiv für die Forschung der Entwicklung der Weltarbeiter*innenklasse miteinander verbindet.
Globalisierungsprozesse bestimmen wellenförmig die kapitalistische Produktionsweise seit dem 19. Jahrhundert. Um seine Profitabilität zu erhalten, weicht das in einer Industrie angelegte Kapital von Region zu Region aus: in der Automobilindustrie seit den 1920er Jahren von den USA nach Westeuropa, von dort nach Brasilien, Mexiko und Japan. In der Aufstiegsphase einer Welle macht das Kapital weitreichende Zugeständnisse. Diese senken die Gewinne, das Kapital sucht nach neuen Standorten. Mit der Verlagerung der Produktion wird auch der Konflikt verlagert. In der Folge sinken die Profite erneut. Das Kapital bemüht sich um neue Lösungen seiner Profitkrise. Eine Strategie ist das, was Silver als technologisch-organisatorischen Fix bezeichnet, die Entwicklung neuer betrieblicher Herrschaftsformen. Damit einher gehen neue Formen des Kampfes. Eine andere Strategie ist die Verlagerung auf andere Produkte und Industriezweige. Historisch untersucht Silver das anhand der Verlagerung von der Textil- zur Automobilindustrie. Sie zeigt, wie die Prozesse der Profiterzielung und die Kämpfe dagegen sich wiederholen und ähnliche Muster bilden.
Seit Ende des 20. Jahrhunderts steht der Kapitalismus vor einer neuen Welle. Es bildet sich ein neuer Produktfix: Halbleiter, Dienstleistungen, Logistik, Bildung – und neue Kämpfe entstehen. Silver kann nicht sagen, welche neue Leitindustrie sich bildet. Aber sicher ist: es gibt kein Ende der Arbeiter*innenbewegung, sondern eine Änderung der Klasse und Kampfformen.
Zu Gast bei Alex Demirović ist Nicole Mayer-Ahuja, Professorin für Soziologie an der Georg-August-Universität Göttingen. -
Der 1937 im US-Exil verfasste Aufsatz «Traditionelle und kritische Theorie» ist ein Grundlagentext der kritischen Theorie. Wie denken wir, wie nehmen wir die Welt wahr, wenn wir emanzipiert leben? Diese Frage beschäftigt Horkheimer, und er will dieses kritische Denken vom Herrschaftsdenken des Bürgertums unterscheiden. Viele Marxist*innen hielten die Antwort für einfach: man müsse sich einfach auf den Standpunkt des Proletariats stellen. Für Horkheimer war dies in der Periode des Faschismus eine unbefriedigende Antwort. Ihm zufolge hat sich die Wahrheit zu kleinen Gruppen geflüchtet. Das bürgerliche Denken, so die zentrale These von Horkheimer, leugnet die Arbeit, den Anteil der Menschen an der Gestaltung der Welt, in der sie leben. Dies lässt den Eindruck entstehen, als gäbe es eine Welt ‹dort draußen›, auf die die Gesellschaft gar keinen Einfluss hat und der sie sich nur anpassen kann. Die Welt erscheint als eine Sammlung von Tatsachen, die unter bestimmten Oberbegriffen versammelt werden. Das Bürgertum hat kein Interesse an Theorie, zur Wahrheit hat es ein zynisches Verhältnis, sie dient der Manipulation der Beherrschten. Horkheimer betont demgegenüber – im Anschluss an Marx und Lukács -, dass Menschen ihre Verhältnisse herstellen. Durch menschliche Arbeit geschaffen, steckt in der gegenständlichen Welt Vernunft. Deswegen können wir sie begreifen. Aber diese Vernunft ist gespalten durch die Klassengegensätze. Das Bürgertum vertritt das Prinzip der Konkurrenz; es erweist sich als unfähig, eine gemeinsame Welt der Menschen als Menschheit herzustellen, sondern denkt nur an den Reichtum, das Glück weniger. Unter diesen Bedingungen bleibt Vernunft sich selbst gegenüber undurchsichtig. Demgegenüber kennzeichnet die kritische Theorie ein Verhalten, dem es um die Veränderung der Gesellschaft als ganzer geht. Die Begriffe der kritischen Theorie wie Arbeit, Produktivität, Geld, Krise sind Momente des gesellschaftlichen Prozesses selbst. Sie verändern sich mit ihm und ermöglichen es, die historischen Veränderungen zu begreifen und die Verhältnisse nach vernünftigen Gesichtspunkten zu verändern.
Alex Demirović im Gespräch mit Gunzelin Schmid Noerr, Philosoph und Herausgeber von Horkheimers ‹Gesammelten Schriften› -
Zu Gast bei Alex Demirovic ist Michael Buckmiller, Herausgeber der Gesamtausgabe von Karl Korsch und Autor zahlreicher Beiträge zu Korsch. Er war Professor in Hannover und leitet den Offizin-Verlag.
Die «Dialektik als Algebra der Revolution» (Alexander Herzen) steht bei Korsch im Mittelpunkt des Denkens. Gerade für die Studierendenbewegung von 1968 war Korsch damit ein wichtiger Bezugspunkt und wurde eifrig rezipiert. Der Text erschien bereits im Frühsommer 1923 und stellt mit Lukács «Geschichte und Klassenbewußtsein» einen weiteren «Gründungstext» des «westlichen Marxismus» dar. Beide opponieren gegen die Theorien Kautskys und Bernsteins und werden von den Vertretern der Kommunistischen Internationale als «linksradikale Abweichler» kritisiert.
Er stellt sich die Frage, weshalb die revolutionäre Bewegung in der Revolution und Rätebewegung 1918 gescheitert ist und welche Konsequenzen im Marxismus gezogen werden müssen, um in einer revolutionären Situation erfolgreich praktisch intervenieren zu können.
Korsch zielt darauf, den Begriff der Dialektik im Materialismus zu stärken. Die Gesellschaft ist demnach Ergebnis der Auseinandersetzung der Menschen mit der Natur, also einer Dialektik von Theorie und Praxis. Der Marxismus muss als Ergebnis einer solchen Praxis verstanden werden. Er stellt die Herausbildung einer eigenen Philosophie dar, ein Denken, das die Revolution in Gedanken fasst. In diesem Sinn gehört der Marxismus zu den gesellschaftlichen Verhältnissen hinzu. Korsch fordert, dass der Marxismus sich methodisch auf sich selbst anwendet, sich also in seiner historischen Praxis und in seinen Veränderungen begreift. Dazu gehören auch die Krisen des Marxismus, die sich in einer Unverbindlichkeit der Theorie äußern. Mit diesem Verständnis vertieft Korsch das Verständnis der Totalität der kapitalistischen Gesellschaft: Diese besteht nicht nur aus Ökonomie, sondern auch aus Staat und Recht und schließlich aus zahlreichen ideologischen Überbauten. Auch in diesem philosophischen Überbau müssen kulturelle Kämpfe geführt werden, die zur Überwindung des Kapitalismus und der Trennung von körperlicher und intellektueller Arbeit beitragen. -
Ein Jahrhundertbuch, das die «Philosophie der Praxis» tiefgreifend beeinflusste und einen Grundstein für den «westlichen Marxismus» (Perry Anderson) legte. Lukács publizierte die Aufsatzsammlung 1923, viele der Überlegungen des Buches wurden über die Jahrzehnte immer wieder aufgegriffen und von Autoren wie Jürgen Habermas oder Louis Althusser kritisch diskutiert. Es steht am Schnittpunkt von politischen Erfahrungen in der Rätebewegung Ungarns, Lukács´ Exil in Wien und Berlin und seiner langjährigen Arbeit als Literaturkritiker und Philosoph, der mit Georg Simmel, Max Weber oder Ernst Bloch bekannt war. Er nimmt Bezug auf Marx und Luxemburg aber auch auf Kant, Fichte oder Hegel; politische Themen wie Organisation und Klassenbewusstsein sind ebenso wichtig wie philosophische Begriffe wie Totalität, Dialektik oder Verdinglichung. Theoretisch ist für Lukács das Ziel, zu einer anspruchsvollen marxistischen Philosophie beizutragen, die er im Materialismus seiner Zeit nur unzulänglich ausgearbeitet findet. Politisch-philosophisch ist sein Ziel die klassenlose Gesellschaft. Dieses Ziel sieht er im Proletariat verkörpert. Es tritt die Nachfolge der bürgerlichen Klasse an und verwirklicht die große klassische Philosophie. Möglich ist dies, weil das Proletariat aufgrund der Tatsache, dass es mit seiner Arbeit die gegenständliche Welt erzeugt, die Möglichkeit hat, sie sich mit Bewusstsein anzueignen. Dem Proletariat kann gelingen, woran das Bürgertum scheitern muss: den Fetischcharakter der Waren- und Gegenständlichkeitsform zu durchdringen und die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer Vermittlung und als Totalität zu erkennen. Handeln auf dem Niveau der Totalität stellt für Lukács die nächste Stufe in der Entwicklung der Menschheit dar. Grundlage ist die umfassende Erkenntnis all der gesellschaftlichen Vermittlungen und deren bewusste Gestaltung.
Gesprächsgast ist in dieser Folge Rüdiger Dannemann. Er ist Mitbegründer und Vorsitzender der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft und Autor zahlreicher Publikationen über Georg Lukács.
Grafik: Porträt von Georg Lukács, @www.zersetzer.com -
Spivak gilt als Mitbegründerin der postkolonialen Theorie. Mit ihrem Text will Spivak in die symbolische Ordnung der globalen kapitalistischen Herrschaft intervenieren. Der klassische territoriale und der neuere postkoloniale Imperialismus schaffen eine internationale Arbeitsteilung. Es entstehen Zonen der Subalternität, in denen Menschen von jeder Mobilitätslinie abgeschnitten sind: analphabetisch, obdachlos, überausgebeutet. Bekommen solche Menschen eine Stimme? Sind sie präsent oder werden sie repräsentiert in den globalen Herrschaftsverhältnissen? Spivak kritisiert Foucault und Deleuze dafür, dass sie nur an Frankreich, nur an Gruppen wie Gefängnisinsassen, Schüler*innen oder Soldaten denken, und dass sie suggerieren, die Macht sei nicht so mächtig, den Subalternen die Stimme zu nehmen. Subalterne können sprechen, so die Überzeugung von Spivak, aber ihre Stimme wird zum Verstummen gebracht oder sie werden nicht gehört. Sie demonstriert diesen Zusammenhang, indem sie den Suizid einer indischen Freiheitskämpferin der 1920er Jahre wie einen Text dechiffriert. Vor dem Hintergrund Bildungsarbeit mit Illiteraten und ihren politischen Erfahrungen als Wahlbeobachterin in afrikanischen Ländern argumentiert Spivak, dass Repräsentation notwendig ist. Dies ist eine Aufgabe, die diasporische Intellektuelle wie sie selbst eine ist, wahrnehmen sollten. Sie arbeiten in den Zentren des Kapitalismus und sollen sich dafür einsetzen, die Verhältnisse in den Gesellschaften, aus denen sie kommen, zu verändern.
Zu Gast ist Encarnación Gutiérrez Rodríguez, Professorin für Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Sie forscht in einer dekolonialen und antirassistischen Perspektive und gab 2003 gemeinsam mit Hito Steyerl das Buch „Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik“ heraus. -
Bourdieu hat unser Verständnis von Klassenkämpfen enorm erweitert. Er dehnt dieses Verständnis noch bis zu dem Bereich aus, der sehr weit weg von ökonomischen oder politischen Prozessen zu liegen scheint: dem Geschmack. «Über Geschmack lässt sich nicht streiten», heißt es. Geschmack in den individuellen körperlichen Reaktionen wie die Verkörperung von Natur und Freiheit wirken.
Der Geschmack ist eine Klassenpraxis – die Wahl von Kinos, Kunst, Sport, Friseur, Kleidung, Möbel oder Essen folgt Mustern. Bourdieu führt sie auf einen klassenspezifischen Habitus zurück. Dieser wird in den sozialisatorischen Prozessen der Familie und in der Schule erworben. Die Familie vermittelt ein Verhältnis zu den Dingen: zu Räumen, Mobiliar, Kunst, Tischmanieren. Die Schule bestärkt diese Aneignungsformen der Kultur durch die Titel, die sie verleiht. Sie bestätigt mit Bildungstiteln den Individuen, dass sie mit ihren Praktiken über legitime oder eben nicht so legitime Kultur verfügen. Diese Prozesse der Ausbildung des Habitus ist langwierige Arbeit und erfordert Ressourcen – Bourdieu zufolge ökonomisches, kulturelles, soziales Kapital. Darauf gestützt findet ein allseitiger Kampf über das statt, was als legitim Kultur gilt: welche Schulen, welche schulischen Titel, welcher Sport, welche Berufspositionen als «hoch» oder «niedrig» gelten. Es ist ein kontinuierlicher Kampf der Klassen um die Klassifikation. Der Geschmack trägt dazu bei, dass die Individuen von sich aus, bestimmt durch ihre körperlichen Neigungen, genau den Platz einnehmen, der ihnen in der Klassenordnung zukommt: Das Bürgertum erneuert seine Herrschaft durch den Geschmack der Distinktion, der es von Kleinbürgertum abrückt, das immer danach strebt, bürgerlich zu sein, aber nicht über eine ausreichende Menge an den herrschenden Kapitalsorten verfügt, um jemals jenen hochkulturellen Lebensstil zu erreichen. Das Bildungsstreben, so zeigt Bourdieu, das seit den 1960er Jahren eingesetzt hat, betrügt mehrere Generationen des Kleinbürgertums um den Erfolg des versprochenen Aufstiegs. Der herrschenden Klasse ist es gelungen, die Reproduktion ihrer Herrschaft durch die kulturellen Einrichtungen hindurch zu sichern und das Kleinbürgertum auf Trab zu halten, während die Arbeiter*innen sich in die Notwendigkeit der alltäglichen Not fügen.
Zu Gast bei Alex Demirović ist in dieser Folge Franz Schultheis, Seniorprofessor für Soziologie des Kunstfeldes und der Kreativwirtschaft an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen und Präsident der Pierre Bourdieu-Gesellschaft. Er hat lange mit Pierre Bourdieu zusammengearbeitet und viele von dessen Schriften auf Deutsch herausgegeben.
Grafik: Porträt des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, @www.zersetzer.com -
Das Zeitalter des Anthropozäns zeichnet sich dadurch aus, dass der Mensch zu einem bedeutenden Einflussfaktor auf biologische und geologische Entwicklungen der Weltgeschichte geworden ist. Tiefgreifend haben die Menschen in die natürlichen Kreisläufe eingegriffen. Immer mehr begreifen wir, wie umfassend diese Eingriffe sind und wie sehr sie den Planeten verändern. Die Bewohnbarkeit der Erde steht in Frage: nicht nur für Menschen, sondern auch für alle anderen Spezies: Tiere, Pflanzen, Bakterien, Viren. Für die kommenden Jahrtausende haben die Menschen das Klima und die Meere verändert, durch die Vernichtung von hunderttausenden Pflanzen- und Tierarten in die evolutionären Dynamiken eingegriffen. Nicht nur Menschen flüchten, sondern auch Tiere und Pflanzen. Aufgrund der gesellschaftlichen Praktiken kommen heute die Geschichte des Planeten, des Lebens auf der Erde und die Geschichte der Menschheit zusammen. Das bedeutet der Ausdruck des Anthropozäns.
Über den Ausdruck gibt es Streit, denn in Frage steht, ob es die Menschen im Allgemeinen sind oder nicht eher die kapitalistische Produktionsweise oder noch spezifischer der Kapitalismus seit den 1950er Jahren. Dipesh Chakrabarty will das nicht entscheiden, aber bei aller Bedachtsamkeit ist er an diesem Punkt sehr klar: Der Kapitalismus zerstört die Lebensbedingungen der Menschen auf der Erde. Nachdenklich überlegt er, dass unsere Vorstellungen von Freiheit und Politik weit hinter den Herausforderungen zurückgeblieben sind. Als Historiker ist er skeptisch, ob die Menschheit es schaffen kann, sich als Teil des Lebensnetzes zu begreifen und als handelndes Kollektiv zu konstituieren. Gleichwohl betont er die Notwendigkeit, zu einer Steuerung der Natur zu gelangen und glaubt, dass die Menschheit das Beste noch vor sich hat.
Grafik: Porträt des indischen Historikers Dipesh Chakrabarty @www.zersetzer.com - Näytä enemmän