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  • Wir diskutieren das jüngste letzte (?) Buch von Stephen King “Ihr wollt es dunkler”, das Aufwachen in einem seltsamen Afterlife in Blake Crouch’s “Wayward Pines” und das böse selbige aus dem Traum von der Ehe für einen eher unangenehmen Zeitgenossen in Claire Keegan’s “Reichlich spät”.



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  • Liebe Leserinnen und Leser,

    ja, der Untertitel des heutigen Beitrages ist derselbe wie bei meiner vorletzten Besprechung. Passt einfach immer.

    Elvis has left the building. Bevor der King - unklar ist bis heute, ob er wirklich tot ist - abtrat, zerstörte er sich relativ systematisch selbst und auch mit der Hilfe von anderen seinen Körper und sein Oberstübchen und steht in der langen Reihe derer, deren Gehirnleistung über die Jahrzehnte kontinuierlich abnahm und auch immer konservativer und rechter wurde. Puh.

    Alle, die beim letzten Satz ob der gesellschaftlich tief verwurzelten Altersfeindlichkeit die Stirn in Falten legten: Glückwunsch, ertappt. Allen anderen: vielleicht ist diese Erzählung, dass Menschen im Alter immer langsamer, konservativer und mäh werden, auch schlichtweg Propaganda, und die Beispiele, die uns hierfür vorgeführt werden, sind nicht mehr als anekdotische Evidenz.

    Ein heller Stern am literarischen Firmament, der jedes Anzeichen von Altersfeindlichkeit einfach überstrahlt ist King, der Stephen.

    Gerade ist ein neuer Band von ihm veröffentlicht worden, Kurzgeschichten, Erzählungen und Novellen sind versammelt: “You Like It Darker”, im Deutschen nah am Original: “Ihr wollt es dunkler”. In der Papierausgabe ein schönes Brikett, nämlich 736 Seiten in der deutschen, in der englischen immerhin auch noch 512 Seiten.

    In der Diskussion mit den Studio B-Kollegen wird es sicher auch konkret um einige der Stories gehen, aber hier soll nichts zum Inhalt verraten werden. Zumindest nicht zum Inhalt des literarischen Werkes.

    Für mich fühlte es sich die ganze Zeit wie Abschied an. Machen wir uns nichts vor: Stephen King wird leider nicht jünger, Schriftsteller seiner Generation haben entweder bereits ihren Abschied verkündet (Don Winslow) oder übergeben nach und nach an Familienmitglieder (Lee Child), und auch der King himself (Stephen) hat bei nicht wenigen seiner letzten Werke mit seinen Söhnen kooperiert.

    Der Titel erinnerte mich sofort an You Want It Darker, die letzte Platte von Leonhard Cohen, die kurz vor seinem Tod veröffentlicht wurde. Die andere Assoziation zum Titel ist Some Like It Hot, aber das sind eben die Wirren des Gehirns.

    You Want It Darker ist eine Empfehlung von mir, vor allem für das Nachwort. Versteht mich nicht falsch: einige der Stories sind sensationell und überraschen, einige sind aber auch klassische 1980er/90er Stücke, bei denen ich den Eindruck hatte, dass Stephen King damit kämpft sich zu entscheiden, was er mit der jeweiligen Idee nun eigentlich machen möchte, und da ihm als genre-übergreifender Tausendsassa auch die übernatürliche Galaxie offen steht, greift er dann manchmal doch zu - nun ja - etwas altbackenen Klötzchen?

    Zum Sahnehäubchen des Buches, zum Nachwort:

    Das Gefühl des Abschieds verstärkt sich, wenn er über seinen literarischen Arbeitsprozess, die (Ab-)Gründe seiner Fantasie, die Genese schreibt. Allein diese wenigen Seiten, die plastisch beschreiben, wie seine Geschichten zu ihm kommen, (und hier kommt doch ein Spoiler): er kann es nicht nachvollziehen, und dann in einem Nebensatz erklärt, dass er sich wohl “im Spektrum befindet”, aber das auch ziemlich egal findet. Und wieder einmal seine Haltung zeigt, die ihn über die letzten Jahrzehnte ausgezeichnet hat: nicht nur die Verwerfungen der Welt und ihre Entwicklung sehen und lamentieren oder gar in seinen Werken ignorierend, sondern im Alter immer klarer sehend, wo er als nun alter weiser Mann steht, und dabei solidarisch zu sein und seine Stimme dafür zu nutzen. Auch wegen seiner Twitterkommentare wurde die Plattform am Ende zerstört, aber falls ihr noch da seid, schaut vorbei. Schön, wie er mit den Leuten interagiert und ab und zu pöbelt.

    Gleichzeitig bestätigt er - um den Bogen zum Literarischen zurückzuschlagen -, dass die Form der Kurzgeschichte nicht seine stärkste ist, puh. Gut, das empfand ich ähnlich.

    Ich hoffe sehr, dass dies kein Abschiedsbuch ist.



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  • Episodes manquant?

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  • Den meisten Menschen dürfte die Redewendung: „Geben ist seliger denn Nehmen“, deren Herkunft auf die Bibel zurück geht, geläufig sein und ebenso die Bedeutung dieses Satzes. Letztlich ist es nichts anderes als die Aufforderung zur Großzügigkeit, die den positiven Nebeneffekt haben kann, jemand anderem eine Freude zu machen, an der man sich im besten Fall noch selbst erfreuen kann. Es begab sich, dass ich kürzlich von einer Freundin einen Gutschein für die örtliche Buchhandlung bekam, der ihr selbst wenig nützlich war, da sie ausschließlich Hörbücher hört. Die Freude meinerseits war natürlich groß, denn was gibt es schon Besseres als kostenlose Bücher? Weit oben auf meiner Wunschliste stand die kürzlich auf Deutsch erschienene, neue Erzählung der irischen Autorin Claire Keegan Reichlich spät, die im Steidl Verlag veröffentlicht wurde und gerade einmal 55 Seiten umfasst. Don't judge a book by it's cover, so sagt man, aber schon die Aufmachung der schmalen, als Hardcover gebundenen Ausgabe zog mich magisch an und der Gutschein fand seine Bestimmung.

    In ihrer neuesten Erzählung beschreibt uns Claire Keegan einen Ausschnitt aus dem Leben ihres Protagonisten Cathal, der Büroangestellter in Dublin ist und in der Nähe, einer kleinen Stadt namens Arklow, lebt. Der Tag, um den sich die Handlung dreht, sollte der Hochzeitstag von Cathal und seiner Verlobten Sabine sein, die sich auf einer Tagung kennengelernt hatten. Warum es zu dieser Hochzeit aber nicht kommt, wird anhand von Cathals Erinnerungen rekonstruiert und legt letztlich viel mehr frei, als das bloße Scheitern einer Beziehung.

    Etwas mehr als zwei Jahre ist es her, dass Sabine und Cathal sich in Toulouse kennengelernt hatten und er sie – es hatte sich herausgestellt, dass sie ebenfalls in Dublin arbeitet – zu sich eingeladen hat. Sie verbringt schließlich den Großteil der Wochenenden bei ihm, liebt das Leben auf dem Land, kocht gern und es schwingt in allem ihrem Tun eine Leichtigkeit mit. Die Entscheidung zu heiraten gleicht dann aber eher einem Beschluss oder einer Verhandlung darüber, ob man es tun sollte oder nicht und ist weit entfernt von einem Antrag oder hat gar etwas mit Romantik zu tun. Es kommt beim Lesen auch nicht das Gefühl auf, dass Liebe eine große Rolle in dieser Entscheidung spielt.

    Grund dafür ist, dass Cathal ein kleingeistiger, geiziger und frauenverachtender Spießer ist, der zwar das Bild von Mann und Frau und einer heilen Welt mit Haus und Hof und am besten noch Kind und Katze gern sieht, aber letztlich doch einfach gern seine Ruhe hätte. Der es hasst, sich um den Abwasch zu kümmern, das ihm gekochte Essen aber gern entgegennimmt. Der zwar gern hätte, dass seine Verlobte bei ihm einzieht, dem aber am liebsten wäre, wenn sie nicht so viel „Zeug“ aus ihrer alten Wohnung mitbringen würde, denn das bedeutet ja, dass sich in seinem eigenen kleinen Kosmos etwas verändert, ja verändern muss. Dass sie im wahrsten Sinne des Wortes Raum für sich beansprucht. Ihm wäre am liebsten, sie wäre einfach nur da und ansonsten bliebe alles wie gehabt. Er ist jemand, der sich noch nach Wochen über den zu hohen Preis von Kirschen echauffiert und der Frauen als Fotzen, Huren und Schlampen bezeichnet, weil man als irischer Mann eben so redet.

    Es drängt sich mir unweigerlich die Frage auf, was das, salopp gesagt, eigentlich alles soll? Ein so gewaltiges Problem wie Misogynie werde ich in meiner heutigen Rezension sicher nicht lösen, also bleibe ich an dieser Stelle beim Protagonisten, dem ja in der Erzählung selbst auch zumindest punktuell bewusst wird, was geschieht. So reflektiert er beispielsweise an einer Stelle seine Sprache, indem ihm klar wird: „[...]hatte er gesagt – und sofort gespürt, wie der lange Schatten der Sprache seines Vaters auf sein Leben fiel.“ (S.27) Es sind also teilweise anerzogene Verhaltensmuster, über Generationen hinweg weitergegeben, die sein Handeln, Denken und Sprechen beeinflussen – wie wir an einer anderen Stelle an einem Exempel aus seiner Kindheit ebenfalls noch einmal verdeutlicht bekommen – aber auch eine von der Gesellschaft verinnerlichte Ablehnung gegen Frauen. Die wenigen lichten Momente, in denen ihm der Gedanke kommt, dass es vielleicht auch anders sein könnte, schiebt er jedoch direkt wieder beiseite. Einen aus Erkenntnissen resultierenden Effekt, nämlich den, sein Handeln zu verändern und auch sein Denken zu hinterfragen, gibt es nicht. Seine Verlobte Sabine bringt es für sich folgendermaßen auf den Punkt: „»Weißt du, was Frauenfeindlichkeit im Kern ausmacht? Letzten Endes?« […] »Nicht geben zu wollen« (S.43) Und damit ist nicht nur das Geben, das selige Geben von materiellen Dingen gemeint, sondern auch das Jemandem-etwas-zugestehen wie beispielsweise das Wahlrecht, das sie an dieser Stelle selbst als Beispiel nennt.

    Zu Recht wird Claire Keegan als Meisterin der kurzen Form beschrieben, wie sie in Reichlich spät einmal mehr unter Beweis stellt. Beeindruckend ist aber vor allem, wie sie es schafft auf diesen wenigen Seiten eine ganze Welt zu erschaffen, die einem während des Lesens regelrecht vor Augen steht und welch eine Bandbreite an zwischenmenschlichen Konflikten sie zu beschreiben vermag und dabei den Nagel so auf den Kopf trifft. Dabei ist kein Wort zu viel oder wenig, aber alles von Bedeutung. Auch wenn es überraschend scheint, so schafft es Claire Keegan doch ein Spektrum an Themen in ihrer Erzählung zumindest anklingen zu lassen, nämlich beispielsweise Machtstrukturen, Familie, aber auch Einsamkeit und ging mir damit teilweise auch ziemlich ans Herz. Dass ich ein Fan der Autorin bin, ist wohl deutlich geworden und dass sie auch von anderen so gefeiert wird, finde ich großartig. Zwar ging es dieses Mal nicht ohne Spoiler, nichtsdestotrotz ist es Reichlich spät, auch mit diesem Vorwissen absolut wert gelesen zu werden und eine ausdrückliche Empfehlung. Selten habe ich einen Gutschein besser angelegt und möchte an dieser Stelle nochmal ein herzliches Dankeschön dafür loswerden.

    Wenn ihr mehr von mir und Claire Keegan hören und lesen möchtet, findet ihr in unserem Archiv noch eine Besprechung zu ihrem Roman “Kleine Dinge wie diese”.



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  • Nach all den schweren Büchern, die es im Winter zu besprechen gab über die Geschichte der Menschheit vom Anfang bis zur aktuell traurigen Gegenwart oder gar von der neuen Spielart des Feudalismus mit der Vorsilbe Techno-, in der wir alle gleichzeitg Konsumenten wie Fronarbeiter sind, reicht das dann auch mal wieder und es ist an der Zeit ein Buch zu lesen, in dem zur Abwechslung mal die Protagonisten am Arsch sind und nicht wir selbst.

    Nehmen wir diesen knackig aussehenden Mittdreißiger, volles Haar, kantiges Kinn. Der liegt am Ufer eines Flusses, durchaus idyllisch, aber ihm tut alles weh. Seine linke Seite fühlt sich sehr nach Rippenbruch an, wenn nicht garstiger. Er hat einen schwarzen Anzug an, darunter ein weißes, blutverschmiertes Hemd. Er hat also eher einen Scheißtag und dabei ist der Ausblick, wie er sich mühsam erhebt, unwirklich idyllisch. Ein Spielplatz, Felder, Pinienwälder, ein Gebirgsmassiv in dem sich die Abendsonne spiegelt. Wir sind in Idaho, USA, irgendwo in der Mitte zwischen Pazifik und Rocky Mountains, Niemandsland, Flyover Country. Das weiß Mr. Handsome noch nicht. Er weiß ohnehin nicht wirklich viel, noch nicht mal seinen Namen.

    Den erfahren wir Leserinnen im zweiten Kapitel, wie sich der Mann nach wildem umherirren im Bilderbuchstädtchen “Wayward Pines” und anschließendem Zusammenbrechen im Angesicht einer breit grinsenden Krankenschwester wiederfindet, perfekt in Umgang und Aussehen, scheinbar einer Krankhausserie in den 50ern entsprungen. Er heiße Ethan Burke, antwort er dieser. Fortschritt. Ethan Burke, ein Name wie aus einem amerikanischen Thriller. Handwerklich hat der Autor Blake Crouch, eine Name wie der eines amerikanischen Thrillerautors, es schon mal drauf. Ethan Burke klingt wie Jack Ryan, Jason Burne, Jack Reacher. Auf die Frage “Was ist Ehtan Burke von Beruf” können wir die Antwort locker auf drei Möglichkeiten eingrenzen. Der schwarze, eng sitzende Anzug ist der Clou. Der Mann ist kein Privatdetektiv, da wäre der Anzug braun, auch kein gewöhnlicher Bulle, da wäre der Anzug schlecht geschnitten. Es riecht stark nach Agent. FBI, CIA oder Secret Service.

    Es ist letzeres und wie wir lernen, macht der in den USA nicht nur Personenschutz für korrupte Politiker, sondern auch Recherche fürs Finanzamt. Man lernt nie aus. In Wayward Pines ist Ethan, weil zwei seiner Kollegen verschwunden sind, eben hier.

    Ohne Geld und Papiere macht sich Ethan auf den Weg durchs Dorf. Fündhundert Einwohner, nicht mehr, schätzt er, wohnen hier. Es sieht aus wie in einer Filmkulisse.

    Die Leute sind freundlich, wenn auch reserviert und seltsam uninteressiert daran, dass durch ihr blitzeblankes, ordentliches Städtchen ein Typ mit blutigem Shirt ohne Ziel und Aufgabe stolpert. Die Empfangslady beim Sheriff hält es für noch nicht mal so dringend, den Chef zu holen, auch wenn Ethan betont, er sei beim Secret Service. Die Empfangsdame im Hotel läßt sich nach ein bisschen Charmeattacke darauf ein, ihm ein Zimmer zu geben, auch ohne Kreditkarte und Ausweis.

    Das alles schreibt Blake Crouch in rasanter, kontrollierter Thrillersprache, wir sind äußerst gespannt, worum es geht. Denn dass das hier alles viel zu perfekt ist, viel zu wenig Autos auf der Straße und der Umstand, dass sich Ethan an kaum etwas erinnern kann, verbreitet von Anfang an ein Lee Child Feeling, dem man sich schwer entziehen kann.

    Auf der Suche nach etwas Essbarem, immer noch ohne Geld, kommt Ethan an einem Haus vorbei, Zikaden zirpen, er meint etwas im Gebüsch gesehen zu haben. Ethan findet statt Zikaden einen Kasten, der Zikadengeräusche aussendet. Spätestens jetzt wissen wir, das wir gerade die Schwelle vom Lee Child Country ins Stephen King Land überschritten haben.

    Und weil das so ist, lassen wir die Handlung hier unbeschrieben. Die Überraschung wird zu groß sein. Das Buch kippt im letzen Viertel vom gemeinen Thriller in ein derart anderes Genre, dass es ein Verbrechen am Leser wäre zu enthüllen, worum es geht. Selten sah sich Herr Falschgold so geschockt und überrascht. Auf dem Weg zur Enthüllung reimen sich immer weniger Dinge und wie jeder Thriller/Mystery-Leser habe auch ich mir den Kopf zermartert, wie das alles zusammenpasst. Es passt, es ist wirklich originär und unerhört, es ist phantastisch!

    Das ganze Ding liest man auf einem mittellangen Urlaubsflug durch, und wenn man fertig ist, freut man sich enorm, dass es noch zwei weitere Teile gibt.

    Das sich das Sujet - schick aussehender Secret Service Dude, amerikanische Kleinstad, mysteriöse Umstände - wie Arsch auf Eimer für eine Fernsehverfilmung eignet, ist klar und ist Amazon Prime im Jahr 2015 auch nicht entgangen. Es war ein ziemlicher Hit und deshalb ist es um so verwunderlicher, dass mir das Werk bis dato nie über den Weg gelaufen war. Das heißt aber auch, dass man beim googlen überall Spoiler findet, die man sorgfältig umschiffen sollte. Deshalb: besser die Buchhändlerin des Vertrauens anrufen, das Buch bestellen und sie bitten den Schutzumschlag samt Klappentext zu verbrennen, denn dann ist Euer Vergnügen, die Geheimnisse von Wayward Pines zu entecken genauso groß wie das meine, garantiert!

    Auf Deutsch ist das Buch übrigens unter dem Titel “Psychose” erschienen. Wir sparen uns jeden Kommentar.



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  • Herr Falschgold ist schon länger einer großen Sache auf der Spur und für mich Vorreiter in Sachen Zwitscherbox, die, meiner Meinung nach, in keinem gut sortierten Haushalt mehr fehlen darf. Letztes Jahr bekam ich von meinem Studio B Team eine solche Zwitscherbox zum Geburtstag geschenkt und war über die Maßen erfreut. Nun verlasse ich nach fast 14 Jahren mein zu Hause – die Box zieht natürlich mit um – aber zum Abschied habe ich einen eigenen Zwitscherboxsound aufgenommen. Eine Minute Vögel der Louisenstraße.

    Adieu geliebtes Heim.



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  • In 1975 saßen Brian Eno (genau, der) und Peter Schmidt, ein Multimediakünstler, beim Joint oder auf Pilzen oder was immer man in der Richtung so machte in den Siebzigern. Der Peter beschäftigte sich zu dieser Zeit mit alten Drucktechnologien, Brian fiel gerade nix ein. Peter hatte gerade ein Set von 55 Drucken erstellt, mit so kurzen ganz superkünstlerischen Sätzen, sehr deep und sehr teuer. Die inspirierten den Brian so sehr, dass er sich selbst ein Set baute von 110 zusammenhanglosen Worten und Sätzen auf spielkartengroßem Karton. Er nannte das Set “Oblique Strategies”, es passte in eine Hosentasche und er trug es überall mit hin, zum Beispiel in den Proberaum. Wenn ein Stück nicht in Gang kam oder langweilig wurde oder gar kein Anfang zu haben war, zog jedes Bandmitglied eine Karte und nahm den Spruch darauf, wörtlich oder übertragen, als Anlass, “irgendetwas” zu spielen. Der Rest fand sich.

    Das probieren wir doch mal aus, dachten wir uns. Man kann heute natürlich virtuell Karten vom Stapel ziehen. Die Regel ist, egal was aufpoppt, dieser Satz wird genommen und ein Text geschrieben.

    Für diese Kolumne ist es:

    simple subtraction - Einfache Subtraktion

    Mein fasziniertes, aber unglückliches Verhältnis zur Mathematik, also der richtigen, dem Fachgebiet abseits vom simplen Zahlen addieren und subtrahieren, begann mit einer 4 im Halbjahreszeugnis der siebten Klasse. Ich war in den Augen meines Vaters somit schwer versetzungsgefährdet und erfuhr eine Ansprache, mit der er mir den Ernst der Lage verdeutlichen wollte, so mit den ewigen Worten eines jeden Vaters ever: “..bald weht der Wind aus einer anderen Richtung, solange Du deine Füße unter unserem Tisch steckst, so kannst Du mit Deinen Freunden auf dem Schulhof reden” - der ganze Sermon. Am Ende der Ansprache gab es noch einen kleinen Bestechungsversuch: wenn ich zum Schuljahresende die 4 in eine 3 verwandle, gäbe es irgendein Geldgeschenk/Materielles Ding. Viel kann es nicht gewesen sein, wir hatten ja gar nichts. Damals. Im Osten.

    Die Predigt wirkte jedenfalls, kind of, habe ich mich doch sowohl durch die 7. Klasse, als auch durch die Mathematikprüfung der ostdeutschen polytechnischen Oberschule nach der 10. gehangelt, keine Ahnung wie. Für ein Abitur reichte es dennoch nicht, so als Verfolgter des Regimes eigenen Leistungsanspruches. Ich war genötigt, mir die halbe Hochschulreife durch ein Kurzabitur zu erschleichen, wie es das kurz nach dem Mauerfall im Osten gab. Dieses Abi war einzig als Vorbereitung für technische Studiengänge gedacht, mit der strikten Vorgabe, dass damit keinerlei geisteswissenschaftliche Abschlüsse zu haben seien. Mein Traum des Germanistikstudiums, Endstadium Lehrer, ging damit glücklicherweise an allen Beteiligten vorbei.

    Also studierte ich Informatik. Künstlerisch nicht wirklich selbstbewusst, aber wage zugeneigt genug, um zu wissen, dass das irgendwie funktionieren könnte, und ohnehin, machen wir uns ehrlich, 1995, Techno/Drogen/Ecstasy, keine Rolle spielend, entschied ich mich für das Studium der Medien-Informatik - nicht dass irgendjemand gewusst hätte, was das sein soll (heute wie damals). Doch es tauchte ein klassisches Zonenproblem auf: die Hochschule für Technik und Wirtschaft in Dresden (nur die war mit dem Billigabitur erreichbar) hatte versprochen, diesen Studiengang anzubieten. Kurz vor Beginn des Studienjahres jedoch stellt man fest, dass man gar keine Professoren dafür habe. Was machte man? Man steckte uns, der Kunst zugeneigte Bohémes, für das erste Jahr in den Studiengang der, oh s**t, oh f**k, Wirtschaftsinformatik! Mit den ganzen Bankangestellten, Steuerberatern und sonstigen Christian Lindners also. Damit nicht genug, hielt man uns, ich kann mich noch exakt und so genau erinnern, wie an fast nichts aus dieser Zeit, einen Vortrag, zu Studienbeginn, in der Aula, in dem man uns erklärte, dass man gelernt hätte, dass in den USA jede Universität ein Spezialgebiet habe: MIT, Berkeley, Stanford und jetzt also Auge in Auge auch die HTW Dresden, Germäny. Man würde in den nächsten Jahren besonders Augenmerk auf die mathematische Ausbildung der Studenten legen (Studentinnen wurden damals, in den good old times, noch nicht erwähnt).

    Man hatte wohl eiligst zusätzliche Mathematikprofessuren eingestellt, offensichtlich auf Kosten der Medienfuzzis, aber so richtig Quali bekommt man da ja auch nicht sofort an den Start. Ich durchlebte also in der ersten Semesterwoche des ersten Semesters die erste Mathematikvorlesung meines Lebens: zwei Stunden lang schrieb uns ein middle aged Professor mit grauem Gesicht tatsächlich, ich weiß die Zahl noch heute, 104 Definitionen an die Tafel. Definitionen in winziger Schrift schrieb der böse Mann von links nach rechts trippelnd über die gesamten 25m Breite der Tafel, bevor er sie wieder abwischte und auf der anderen Seite von vorn begann, wobei er wohl erwartete, dass wir den ganzen Quatsch abschrieben. Nun, das wars dann endgültig mit meiner Faszination für die Mathematik.

    Bis ich auf dieses großartige Buch gestoßen bin:

    Jan Gullberg, ein schwedische Kinderarzt, dreimal so klug wie wir alle zusammen, hatte ungefähr die gleiche Faszination für die Mathematik und wahrscheinlich eine noch schlimmere entsprechende Bildung erfahren. Damit seinen Kindern und die, die er verarztete, das nicht passiere, schrieb er mal eben ein Buch über die ganze Mathematik, von der Geburt der Zahlen bis wasweißichwohin, Multidimenionalität und so, ich habe doch keine Ahnung! 1200 Seiten, 3 kg schwer, schrieb er das alles selbst, als Kinderarzt, illustriert es, selbst, und zusammen mit einem britischen Mathematiker, und, ein Wahnsinn, setzte es selbst, in LaTex! (Das Entsetzen über den letzten Fakt verstehen nur nerds). Der Mann muss verrückt gewesen sein, glücklicherweise.

    Manchmal, ich gebe zu immer seltener, man hat ja kaum noch Zeit Altes zu durchforsten, so viel Neues gibt es, setze ich mich in meinen Ohrensessel und lese ein paar Seiten. Natürlich verstehe ich nur die ersten 40, danach ist alles nur noch Ästhetik. Aber es macht mich glücklich, wie etwas nur glücklich macht, was man komplett ohne Leistungsanspruch tun kann: Biertrinken, Schokoladeessen, Bingewatching, Fantasyromane lesen und Mathematik bestaunen. Das ist Glück!



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  • “Wenn Du nichts Gutes zu sagen hast, dann schweige!” ist in sich schon ein eher blöder Muttispruch - für ein Magazin mit unserem Titel aber nun gleich gar nicht zu gebrauchen. Und so tat sich Anne Findeisen in Ihrer Rezension und in der Diskussion sichtbar schwer, etwas Positives an Toshikazu Kawaguchis “Bevor der Kaffee kalt wird” zu finden. Das ging den beiden anderen Rezensentinnen ähnlich, scheiß Harmonie. Zumal auch deren besprochene Bücher allgemeine Zustimmung fanden, als da wären: Mat Osmans “The Ghost Theatre” und “Iowa” von Stefanie Sargnagel. Das muss dieser Frühling sein.

    Enjoy!



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  • Der bekannte dänische Philosoph Søren Kierkegaard hat einmal geschrieben: „Man kann das Leben nur rückwärts verstehen, aber leben muss man es vorwärts.“ Ein Zitat, dem, neben mir, sicher viele so zustimmen würden und das mir immer mal wieder in den Sinn kommt. Doch was wäre, wenn die Möglichkeit bestünde an einen gewissen Punkt in seinem Leben zurückzureisen und das mit dem Wissen und den Erkenntnissen, die man in seiner Gegenwart hat? Sicher ein verlockender Gedanke, hat sich vielleicht auch der aus Osaka, Japan stammende Toshikazu Kawaguchi gedacht, als er die Idee zu seinem Buch Bevor der Kaffee kalt wird hatte, welches 2015 im japanischen Original und 2018 auf Deutsch im Knaur Verlag erschien.

    Schauplatz seines Romans ist ein Café, das den Namen Funiculi Funicula trägt und gleichzeitig der Titel eines bekannten neapolitanischen Volksliedes ist. Das kleine Café verfügt nur über drei Tische mit je zwei Plätzen und einen Tresen mit drei Stühlen. Durch die gedämpfte Beleuchtung, der Patina an den Wänden und drei alten Uhren, die alle unterschiedliche Zeiten anzeigen, versprüht es einen gewissen Charme und ist im Sommer gleichzeitig angenehm kühl, obwohl keiner so richtig sagen kann, warum eigentlich. Außerdem rankt sich um das Café die Legende, dass es hier die Möglichkeit gibt, in die Vergangenheit zurückzureisen. Und tatsächlich ist es möglich, doch nur unter Einhaltung einiger strenger Regeln. Die fünf wichtigsten werden dem Lesenden schon im Prolog des Romans eröffnet und lauten wie folgt: „ 1. Nur diejenigen Menschen kann man in der Vergangenheit treffen, die ebenfalls das Café besucht haben. 2. Man kann in der Vergangenheit nichts tun, um den Ausgang der Ereignisse in der Gegenwart zu beeinflussen. 3. Wenn ein anderer Gast auf diesem magischen Stuhl sitzt, muss man warten, bis er diesen freigibt. Erst dann kann man sich niederlassen. 4. Während man sich in der Vergangenheit aufhält, darf man unter gar keinen Umständen aufstehen. 5. Der Aufenthalt in der Vergangenheit ist zeitlich begrenzt. Man muss aus ihr zurückkehren, bevor der Kaffee kalt geworden ist.“ (S.6/7) Es kommen noch ein bis zwei weitere Schwierigkeiten hinzu, die im Verlauf der Handlung erläutert werden, die Handelnden aber nicht davon abhalten, den magischen Stuhl zu benutzen und in die Vergangenheit zu reisen. Dabei gliedert Kawaguchi seine Story in vier Kapitel, wobei jedes Kapitel aus einem Paar besteht, dessen Geschichte im Fokus steht. Das sind: Die Liebenden, Das Paar, Die Schwestern und Mutter und Kind.

    Soweit so gut. Zwar ist das Motiv des Zeitreisens nicht neu, aber ich fand die Herangehensweise inklusive des Regelkatalogs – und Regeln braucht es für das Zeitreisen, das ist völlig klar – recht interessant. Das Reglement macht ebenfalls von Anfang an deutlich, dass es in diesen vier Episoden nicht darum geht, die Gegenwart durch eine Reise in die Vergangenheit zu ändern, sondern eher ein Lehrstück zu sein, eine verpasste Gelegenheit zu nutzen, etwas besser zu machen. Ich fand es eine schöne Idee und versprach mir auch Kurzweil – vom als Weltbestseller bezeichneten Werk – war letztlich aber doch recht enttäuscht. Die Sprache und Beschreibungen der Situationen wirkten eher hölzern auf mich, was zum Einen an der Übersetzung liegen kann, vom Englischen ins Deutsche wohlgemerkt, also mit Zwischenschritt, aber dennoch ein Fakt, den ich nicht wirklich beurteilen kann. Zum Anderen könnte es auch der Tatsache geschuldet sein, dass es zunächst als Theaterstück aufgeführt wurde und erst nach seinem großen Erfolg als solchem zu Kawaguchis literarischem Debüt wurde. Außerdem empfand ich es als störend, dass viele Informationen sehr oft wiederholt werden. Was bei dem Regelwerk fürs Zeitreisen, zumindest am Anfang, für Vergessliche wie mich noch nützlich ist, nervt spätestens beim dritten Mal nur noch. Auch die stereotypen Beschreibungen der Protagonist:innen fielen mir regelmäßig auf und sind etwas, womit ich mich nicht anfreunden kann und will. Sicher ist es nicht mein erster Roman eines japanischen Autoren und die abweichenden Werte- und Moralvorstellungen zu beispielsweise uns Europäern wurden auch im Studio B Kollektiv bereits diskutiert. Dennoch waren mir die Beschreibungen oft einfach zu plakativ, die Frauen immer zu schön und wenn sie dann doch mal einen jüngeren Partner haben, hat der natürlich einen Vollbart und sieht wenigstens 10 Jahre älter aus als sie, alles andere wäre ja undenkbar.

    Unvorstellbar für mich wiederum, dass es mittlerweile sogar noch zwei Fortsetzungen des Romans gibt. Ich sage es mit meinen Worten: Das Buch hat mich einfach nicht abgeholt. Obwohl ich die Idee und Herangehensweise grundsätzlich gut fand, hat mich die Umsetzung weder berührt noch überzeugt. Vielleicht ist die alte Was-wäre-wenn – Frage gar nicht so wichtig und Kierkegaard hatte natürlich recht, im Rückblick kann man viele Dinge besser verstehen, aber ein nach vorn gewandtes Leben ist manchmal oder oft wichtiger. Daher möchte ich mit etwas Positivem enden und an dieser Stelle statt Bevor der Kaffee kalt wird doch lieber die bereits von mir besprochene Sayaka Murata mit ihren herrlich schrägen Romanen empfehlen, für diejenigen, die es nach japanischer Lektüre dürstet.



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  • Stefanie Sargnagel ist eine lustige, 38-jährige Schriftstellerin und Karikaturistin aus Wien. Keine dieser Aussagen wäre für mich als Freund der Trennung von Künstlerin und Werk relevant, es sei denn, die Autorin neigt zur Autobiografie - was die Sargnagel tut. Die Benennung geschieht absichts- und respektvoll, wie bei “der Dietrich”, denn die Sargnagel neigt zum Diventum, auch das kaum wertend postuliert, zumal dieses modernst daher kommt - dazu später mehr.

    Dass sie lustig ist, ist mir die liebste Eigenschaft an Frau Sargnagel. Wer sich in diesen Dingen gar nicht auskennt, bemerkt das spätestens bei einer ihrer Lesungen, wenn, wie das in Deutschland Sitte ist, die Mehrzahl der Zuschauer ihre Humorkompetenz durch überhäufiges Lachen zur Schau stellen. Das betreiben professionelle Lesungsbesucherinnen in verschiedenen Sportarten: das laute Juchzen, wenn es ein wissendes Lächeln getan hätte; das Weiterlachen, wenn alle schon aufgehört haben (im verwirrten Glauben, der Autorin damit einen Extraboost an Zuneigung überzuhelfen); die Unart des absichtlich deplazierten Lachens, wenn nichts, weder intendiert noch zufällig, auch nur ansatzweise lustig war, damit alle denken, sie hätten was verpasst. Dazu gibt es das, verzeihliche, Lachen, wenn eine Pointe erst zwei Sätze später ankommt. (Wir betreiben hier kein earnest-shaming, you are safe, lieber Leser.) Das Ergebnis dieses Unsinns ist, dass man kaum Zeit findet, der Frau auf der Bühne zu lauschen. Wenigstens zeigt all das bekloppte Affektieren selbst dem stockernstesten Leser, dass diese Stefanie Sargnagel wohl lustig ist, wenn auch für den Preis, dass Herr Falschgold zu dieser Folter nicht mehr hin kann.

    Mein Eindruck bei einer dieser Lesungen hier in Dresden vor zwei Jahren war, dass auch Frau Sargnagel diesen Quatsch nicht braucht. Ich bin sicher, dass österreichische Lesungspublikum ist leicht angenehmer, aber halt auch viel zu klein. Als deutschsprachige Autorin muss man den großdeutschen Wirtschaftsraum beackern, sonst kann man sich selbst die legendär günstige Wiener Gemeindewohnung auf Dauer nicht leisten. So dachte sich das, so vermuten wir, Stefanie Sargnagel, erschöpft nach besagter Lesung. Wir hatten den Eindruck, sie schaute zwischen den gelesenen Kapiteln voller Sehnsucht in Richtung bühnenrechts, mittig, Reihe 20, in der sich eine Insel der sanguinen Humorandacht inmitten des brüllenden Falschgelächters behauptete, bestehend aus drei Rezensentinnen eines lokalen Literaturnewsletters und -podcast. Anyway, erleichtert zurück in Wien fand Frau Sargnagel im Briefkasten einen Brief aus Amerika, enthalten die Einladung zu einer Gastprofessur an einem liberalen College im Bundesstaat Iowa. Wow, eine weltweite Karriere war in Aussicht, im reichsten Land der Erde. Gemeindewohnung gerettet!

    War aber zu dem Zeitpunkt schon gar nicht mehr nötig, denn die Künstlerin hatte damals schon soviel Reichtum angehäuft, dass sie sich leicht verschämt eine Eigentumswohnung in der österreichischen Hauptstadt gekauft hatte. Das ist kein Richenshaming, es war ihr selbst ein wenig peinlich, es ist auch kein papparazihaftes Stalking, denn, siehe oben, der Sargnagels Ding ist das verschämt-stolze Divaing, wie sich das heute gehört auf Insta, Millennialstyle FTW.

    Damit haben wir auch die unelegante Alterserwähnung im ersten Satz begründet. Es brauchte diese Präzision, gibt es nun mal einen Unterschied, wie man Instagram & Co. betreibt, je nach Grad des Fortschreitens der altersbedingten körperlichen und geistigen Entropie - da ist das Baujahr wichtig.

    Vielleicht hatte sich die Sargnagel damals auch nur angemeldet, im Netzwerk der Eitlen, weil ein visuelles soziales Medium einer Zeichnerin nun mal die bessere Plattform bietet als so ein olles Blog. Und ja, ich habe oben Karikaturistin geschrieben, aber ich bin sicher, dass sich Frau Sargnagel selbst eher als “Zeichnerin” sieht. Aber das war mir nicht eindeutig genug im Einleitungssatz. Zeichner können ja auch so leicht unlustige Leute sein wie Picasso, Dürer oder George W. Bush, da wollte ich kurz und leserfreundlich einordnen. Und der Sargnagel Meisterwerke sind nun mal Karikaturen, wie diese hier, welche all meine Zuschreibungen in der Einleitung zusammenfasst: lustig, altersweise und wortgewandt präsentiert Stefanie Sargnagel diesen Brüller:

    Ick lach mir jedesmal schief, wenn ich mir den Quatsch vorstelle. Er ist ein Kommentar zu den Irren in der Pandemie und damit wird sie einerseits komplett falsch sein im landwirtschaftlichen Redneck-Iowa (USA) und gleichzeitig genau richtig in der Oase des dort mittendrin gelegenen Grinnell College for Liberal Arts. Auf nach Amerika also!

    Davon berichtet uns auf 300 Seiten die berühmte österreichische Künstlerin. So wird sie am College immer wieder eingeführt, und wer sind wir zu widersprechen. Es entspricht in etwa dem Selbstwert, den sich die Sargnagel selbst zuspricht, natürlich immer impliziert der Rückzieher: “Ist ja alles nur Ironie”. Damit sich keine Selbstzweifel einschleichen, so ganz alleine in der amerikanischen Pampa, hat sich die Amerikaentdeckerin Begleitung organisiert: auf der Hinreise eine Freundin, auf der Rückreise die Mutter. Da denkt jemand praktisch, wir diggen. (Sagt man das noch?) Die Freundin ist ganz neu in Stefanies Leben, aber schon ganz, ganz lange eine Begleiterin des unseren: die übercoole Christiane Rösinger!!! WTF?!1! Lassie Singers, Paarbeziehungsaufklärerin, coole Socke! Man hat sich gefunden wie so zwei Magnethunde, beschreibt uns die Autorin kurz im ersten Kapitel, und weil die Rösinger (auch eine Diva, nur anders!) selbst ein Buch geschrieben hatte (nur halt schon 2012) darf sie von unten aus den Fußnoten der Steffi den Blödsinn kommentieren. Eine brillante Idee, man sieht die beiden vor sich, wie sie sich ergänzen, die eine auf dem Sofa, die andere auf dem La-Z-Boy in ihrer TV-zappenden Normalität und sich gegenseitig, wie aufgewacht, anstachelnd, wenn sie gemeinsam einen Comedyclub besuchen und “Den S**t können wir doch auch!” rufend, von unten, sich nicht wohl fühlen inmitten des Fußvolks.

    Wenn es nicht das erste Buch ist, welches man von Stefanie Sargnagel liest, weiß man in etwa, was einen erwartet: reflektierte Kommentare zur Zeit aus der richtigen politischen und genderpolitischen Ecke, unterbrochen von schmerzlosem/-haftem Exhibitionismus. Man will definitiv nicht ihr Freund sein und das Buch lesen müssen, zu Hause geblieben, eine Kuschelkatze, wird uns berichtet. Er muss lesen, wie die Sargnagel rollig um eine Redneck-Barfly herumsteigt und innermonologisiert, worauf sie so steht in Liebesdingen (Bärte, Behaarung überhaupt) und worauf nicht (Vorspiel, Nachspiel). Zum Glück war er/sie schon zu breit, zumal sie, auch das ohne Filter berichtet, ein Kind haben will, und nicht nur so “haben wollen” sondern sehr, sehr dolle, biologisch-seelisch müssen-haben-wollen, JETZT. Da darf man nicht peinlich tun als Leser. Wenn die Autorin kein Problem damit hat, werden wir nicht anfangen zu gringen.

    Aber die Welt dreht sich natürlich nicht nur um die Schriftstellerin, und so gibt sie einen amtlichen Reisebericht ab. Ich war vor über 10 Jahren dort, in the USA, (also general area, so 1500 km entfernt) und bin erschrocken, wenn man die aktuelle Situation mal nicht aus Blog-/Zeitungs-/Feed-Sicht beschrieben bekommt. Die USA versinken in Armut, Obdachlosigkeit, Rassismus, Klassismus, und Sargnagels Beschreibung der Szenerie, genauso filterlos vorgetragen wie die ihres Innenlebens, schmerzt. Wie fast unschuldig das Land war, 2011 und wie hoffnungslos es jetzt erscheint.

    Da hilft auch die Mutter nicht, die im letzten Teil des Buches die Tochter besucht. Eine toughe (ehemalige?) Sozialarbeiterin, die gleich mal anzeigt, dass man sich auch vorbereiten kann auf so einen Trip, Stichwort, Datenguthaben und verdient sich die Zuschreibung Cyborg-Mom von der Autorin zur Recht. Aber selbst der Mutter streetworker-toughness bricht im Angesicht des Elends der Obdachlosen von L.A., des Unterschieds zwischen Arm und Reich, der unüberbrückbar scheint.

    Das lässt uns ein wenig traurig zurück, aber das muss manchmal sein und macht ein Buch von einer lustigen Autorin nicht weniger lesenswert. Viel blieb hier unerwähnt und harrt der fasst spoilerlosen Entdeckung durch die Leserin: crazy Wokerei am liberalen College, kulinarische Überraschungen, architektonische Katstrophen, the Amish, falsche und richtige, der Rösinger Altersweisheiten, der Sargnagel Jugendstil: es ist alles sehr, sehr schön!

    Und wer die Aufmerksamkeitsspanne nicht hat, geht halt zur Lesung und lacht an den falschen Stellen. Das hält die Sargnagel aus.



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  • Das Studio B befindet sich in seinem Wechselmodell-Monat, in dem wir uns die Freiheit nehmen, auch andere Dinge als Bücher zu rezensieren. So ganz komme ich aber vom Thema nicht weg und während ich überlegte, worüber ich unsere Leser- und Hörer:innen diesen Sonntag informieren, ja womit ich sie vielleicht sogar erfreuen könnte, stieß ich zunächst auf Lou Andreas-Salomé. Der Name der 1861 in St. Petersburg geborenen Schriftstellerin, Essayistin und Psychoanalytikerin aus deutsch-russischer Familie war mir durchaus ein Begriff, jedoch weniger aufgrund ihres Schaffens, sondern eher wegen der Kreise in denen sie gewirkt hat und der namhaften Zeitgenossen wegen, mit denen sie befreundet war. Namen wie Rainer Maria Rilke, Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud finden sich darunter. Da ich diesen ihren Zeitgenossen schon in anderen Rezensionen Aufmerksamkeit gewidmet habe – sei es die Interpretation von Rilkes Gedicht Schlussstück, Klaus Modicks Konzert ohne Dichter, in dem es ebenfalls autofiktional um Rilke und den Worpsweder Künstlerkreis geht, oder auch Irvin D. Yaloms Und Nietzsche weinte, unnötig zu sagen, wen wir hier antreffen – möchte ich mich dieses Mal auf Lou Andreas-Salomé konzentrieren, die in zuletzt genanntem Roman ebenfalls eine Rolle spielt. Und wer vergessen hatte oder noch gar nicht wusste, dass es zu den jeweiligen Werken bereits Rezensionen von mir gibt, dem sei natürlich das Studio B Archiv empfohlen, in dem man diese alle nachhören kann. https://lobundverriss.de/studiob-archiv/

    Grundlage für meine Rezension bildet der 2016 erschienene und neulich von mir angesehene Spielfilm von Cordula Kablitz-Post, der den Titel seiner Protagonistin Lou Andreas-Salomé trägt. In diesem berichtet eine ältere Lou über ihre Kindheit, aber vor allem von ihrem Leben als junge und erwachsene Frau, die weit gereist ist und stets versuchte, sich dem Eindruck ihrer Familie, speziell ihrer Mutter und den Konventionen der Gesellschaft zu entziehen und ihr Leben so zu leben, wie sie es für richtig und gut empfand. Während sie – für ihre Zeit undenkbar – mit Paul Ree und Friedrich Nietzsche freundschaftlich in einer Arbeitsgemeinschaft zusammenleben wollte, um gemeinsam zu schreiben, zu studieren und zu diskutieren, war ihre Mutter eher bestrebt, sie schnellstmöglich zu verheiraten. Doch die Wunschvorstellung von der „Dreieinigkeit“, wie sie es selbst bezeichnete, ging nicht auf. Beide Herren wollen Salomé in eine Ehe drängen, die sie von vornherein ausgeschlossen hat. Während sie mit Paul Ree jedoch trotzdem weiter freundschaftlich verbunden bleibt, führt ihre Weigerung gegen diese Ehe mit Nietzsche zum Zerwürfnis.

    Salomé studierte Philosophie, Religionsgeschichte und Theologie und gilt als eine der ersten deutschen Psychoanalytikerinnen. Zwar musste sie ihr Studium in Zürich krankheitsbedingt abbrechen, doch ihrem Wissensdurst tat dies keinen Abbruch und so begann sie später, mit 51 Jahren, noch einmal zu studieren und besuchte Vorlesungen Sigmund Freuds, der gleichzeitig zur Vaterfigur für sie wurde. Mit ihren wissenschaftlichen Aufsätzen und Essays zur Rolle der Frau in der Gesellschaft und zur weiblichen Sexualität beeinflusste sie diesen zudem. Trotz der Tatsache, dass sie von ihren Zeitgenossen und darüber hinaus für ihren Intellekt, ihren Drang nach Wissen, ihre unkonventionelle Lebensweise und auch ihre Ausstrahlung sehr geschätzt wurde und in den Künstlerkreisen ihrer Zeit ein wichtiger Bestandteil war, ist ihr eigentliches Werk doch heutzutage größtenteils in Vergessenheit geraten oder wird zumindest kaum noch rezipiert. Ich denke, es ist an der Zeit, diesem wieder die nötige Aufmerksamkeit zu schenken.

    Wie es der Zufall so will, hatte ich kürzlich Besuch von einer guten Freundin, die mir ein kleines Heftchen mit dem Titel Eine Frau geht einen trinken. Alleine. der Autorin Lou Zucker, erschienen im Maro Verlag, schenkte. Schon seit Monaten hätte sie es für mich zu Hause liegen gehabt und nun war endlich die Möglichkeit gekommen, es mir zu schenken. Nicht nur der Titel, auch die Illustration des Covers – eine Anlehnung an Edward Hoppers bekanntes Gemälde Nighthawks, zog mich direkt in seinen Bann. Der Name der Autorin brachte mich – wir sind nicht überrascht – auf die Idee, ihr Werk in meine Rezension einzubeziehen. Die 32 Seiten, die es umfasst, waren schnell gelesen und meine anfänglich Begeisterung bestätigte sich. Aber worum geht es?

    Die Autorin beschreibt uns zunächst, wie problematisch es sich einerseits für sie als Frau anfühlt, allein in eine Bar zu gehen und wie selbstverständlich es im Gegenteil für Männer ist. Oft ist es nicht möglich, als Frau einfach nur allein an der Bar zu sitzen und einen Drink zu nehmen. Beäugende und musternde Blicke von Seiten der Männer sind ihr dabei oft sicher und meist noch das geringste Übel. Oft werden Frauen, die allein unterwegs sind angesprochen, weil sie, einfach nur aufgrund der Tatsache, dass sie allein sind!, bei Männern den Eindruck erwecken, dass sie angesprochen und abgeschleppt werden wollen. Eine andere Möglichkeit scheint völlig ausgeschlossen, weshalb Männer Frauen mitunter umso hartnäckiger bedrängen, was wiederum zur Folge hat, dass es für viele Frauen gar nicht in Frage kommt, allein in eine Bar zu gehen. Wie oft habe ich solche Situationen als Barkeeperin selbst erlebt, in denen ich letztlich auch eingreifen musste. Aber auch von der anderen Seite des Tresen ist mir das Problem durchaus bekannt, manchmal war ich dabei nicht mal allein, sondern habe mit einer Freundin am Tresen gesessen und selbst dann konnten die Typen ganz schön hartnäckig sein – zum Glück kann ich ziemlich harsch sein.

    Anhand dieser Problematik analysiert Lou Zucker, wieso das Alleine-Ausgehen bis heute eher Männersache ist. Wir erfahren dabei, dass der physische öffentliche Raum, zu dem neben Parks und Plätzen eben auch Bars gehören, bis heute und vor allem nachts, oft männliches Territorium ist, wohingegen Frauen im privaten angetroffen werden und den Großteil an Pflegearbeiten übernehmen. Der private und der öffentliche Raum und seine Entwicklung sind es, an dem uns Lou Zucker exemplarisch vor Augen führt, wie es zu den verschiedensten Abwertungen, Zuschreibungen und Diskriminierungen kommt, wobei sie sich dabei nicht ausschließlich auf Frauen, sondern auch auf FLINTA* bezieht. Thematisch reißt sie dabei sowohl die Hexenverfolgung als auch die Entwicklung des Frauenbilds vom 17. zum 18. Jahrhundert an, es geht um Sexarbeit und deren Stigmatisierung, Kolonialismus, Beispiele aus verschiedenen anderen Ländern, aber auch grundsätzliche Probleme in der Erziehung. Nun kommt vielleicht die Frage auf, wie sie das auf so wenigen Seiten schafft, aber sie schafft es. Informativ und nachvollziehbar, mit Belegen und Quellen untermauert und wunderbar illustriert von Josephin Ritschel.

    Was die beiden Lous jedoch unterscheidet ist Folgendes: Während Lou Andreas-Salomé zwar äußerst bestrebt war, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, sich den gängigen Konventionen nicht zu beugen und sie ebenfalls mit dem Großteil der Frauenrechtlerinnen ihrer Zeit vertraut war, geht es ihr dabei vor allem um ihren persönlichen Anspruch auf Selbstständigkeit und Freiheit. In ihrem Werk selbst setzte sie sich jedoch nicht für die Emanzipation der Frau ein und generalisiert diesen Anspruch damit nicht. Wohingegen Lou Zucker, wenn es um die Vorurteile und Zuschreibungen um Frauen geht, die allein ausgehen, ganz klar sagt: „Wie kann sich das endlich ändern? Reclaim the Night!“ Und uns fast ein kleines Handbuch mitgibt, um zu verstehen, wieso manche Dinge so sind, wie sie sind, aber damit auch deutlich macht, dass es schon immer Entwicklungen gegeben hat, alles im Fluss ist und auch wir etwas ändern können. Eine ganz klare Leseempfehlung.

    Und was Lou Andreas-Salomé angeht und die angesprochene, kaum vorhandene Rezeption ihres Werkes, so möchte ich mit einem ihrer Gedichte enden, welches auch im Film rezitiert wird und an dieser Stelle auch die Auseinandersetzung mit ihrer Person und ihrem Werk ganz klar empfehlen.

    Wolga

    Bist Du auch fern: ich schaue Dich doch an,

    Bist Du auch fern: mir bleibst Du doch gegeben -

    Wie eine Gegenwart, die nicht verblassen kann.

    Wie meine Landschaft, liegst du um mein Leben.

    Hätt ich an deinen Ufern nie geruht:

    Mir ist, als wüßt ich doch um deine Weiten,

    Als landete mich jede Traumesflut

    An deinen ungeheuren Einsamkeiten.



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  • Die Vereinigten Staaten von Amerika haben den Kapitalismus nicht erfunden, aber betrachtet man die größte Wirtschaftsmacht der Welt, könnte man annehmen, sie hätten ihn am besten verstanden, weiterentwickelt, verbessert gar, ganz wertungsfrei, in seinen eigenen Parametern. Alles falsch, sie bringen ihn zur Strecke, argumentiert Yanis Varoufakis in seinem jüngsten Buch “Technofeudalismus”. Nun ist es immer ein bisschen schwierig, jemandes Tod vorherzusagen, wenn er noch quicklebendig erscheint, aber so wie meine geriatrische Oma kurz vorm Himmelsflug nochmal nach einem Glas warmen Radeberger verlangte, let’s fly, Baby!, so geht’s “dem Kapitalismus” in den letzten Jahren und speziell Monaten scheinbar so gut wie nie, die Börsen brummen, Dividenden ò le, los noch ein Aktienrückkauf! Nein, so argumentiert Varoufakis, das sieht nur aus wie Kapitalismus, es ist etwas Neues.

    Wir lamentieren seit Jahrzehnten die zunehmende Ungleichheit “in der Welt” und dachten hoffnungsvoll, aber auch ein bisschen dumm, dass sich das nach der 2008er Weltwirtschaftskrise, nach der 2015er Eurokrise, come on, spätestens nach der Pandemie von 2020 doch irgendwie ausgleichen muss - alle mussten leiden, das muss doch einen nivelierenden Effekt haben, die Schere zwischen Arm und Reich kann unmöglich größer werden - doch, wir haben uns alle getäuscht. Wie gesagt, wir sind alle ein bisschen dumm. Das obere Prozent, Quatsch, die obere Promille fanden Wege, die “Krisen” für sich zu nutzen und die gemeinschaftlichen Anstrengungen, meint, neu gedrucktes Geld in die eigene Tasche zu stecken. Die Gelddruckerei, eigentlich gedacht, je nach politischer Ausrichtung, zur “Ankurbelung der Konjunktur”, zur "Stabilisierung der Haushalte” oder einfach nur um f*****g Menschenleben zu retten: die Googles und Apples und Amazons schafften es, den Großteil davon in ihre Börsenkurse umzuleiten.

    Wie das genau passiert ist und was daraus folgt, wird im Buch “Technofeudalism” erklärt. Nun ist Varoufakis ein Wirtschaftswissenschaftler und damit in meiner persönlichen Wertschätzungsskala theoretisch auf ganz dünnem Eis, wir sprachen erst letztens drüber. Manche sagen sogar er sei ein Antisemit. Nun gut, wer ist das heute nicht. Aber Varou, wie wir Fanboys ‘n’ Gals ihn nennen, hat in meiner Buchhaltung eine Menge auf der Habenseite. Er war 2015 für sechs Monate griechischer Finanzminister, und was er dort geliefert hat, war zu cool. Wie er den europäischen Finanzministern vorrechnete, wie falsch das ist, was sie da machen, für die griechische Volkswirtschaft, aber auch für ihre eigenen, und wie die das nicht interessiert hat, weil es ihnen nie um irgendeine Wirtschaft fürs Volk ging, sondern um eine für die der zugrundeliegenden Wirtschaftsart namensgebenden Kapitalisten - es war mir ein inneres EU-Parlament. Das kulminierte in einer Episode, in der Varoufakis den leider viel zu spät verstorbenen Wolfgang Schäuble mit seiner Fachkompetenz und dem hellenistischen Urglauben an die Demokratie so außer sich brachte, dass sich dieser selbst die pseudodemokratische Maske vom Gesicht riss, mit dem Ausspruch, dass Wahlen nichts ändern würden, es gäbe Regeln, Pech gehabt, sie sind tief in den Statuten der Europäischen Gemeinschaft verankert versteckt, und halt keine demokratischen, sondern urkapitalistische. Das soll man sich eigentlich nur denken, aber um Gottes Willen nicht laut sagen. Unter Schäubles Führung rächten sich die nackisch gemachten europäischen Finanzminister an Varoufakis und raubten stellvertretend seine Landsleute aus. Aber das war eh der Plan. Yanis Varoufakis hielt seine schonungslose Ehrlichkeit übrigens bis nach dem Ableben des Minister Stasi 2.0 am Lodern und hackte ordentlich nach. Dass man über Tote nichts Schlechtes sagt, ist ohnehin eine vollständig überflüssige Regel. Wolfgang Schäuble war als Politiker immer ein rücksichtsloser Drecksack. So, jetzt ist es raus.

    In seinem neuesten Werk “Technofeudalismus” erklärt uns Varoufakis also in dem ihm eigenen Stil das Ende vom Kapitalismus. Diesmal schreibt er nicht an seine Tochter, wie in seinem wohl erfolgreichsten Buch, sondern an seinen Vater, der Metallurg war. Diese gelegentlichen persönlichen Anreden im Text schwanken zwischen Aufhänger und Rührstück und machen mich eher wirr, aber man kann drüber hinweglesen und die Ideen dennoch verstehen: So wie es in der Antike Umwälzungen gab, ein halbes Jahrtausend vor Christi Geburt die von der Bronze in die Eisenzeit, beschrieben, oder besser: lamentiert von Hesiod, gibt es diese Paradigmenwechsel auch später. Es gab den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, also von einem System, welches auf der Verpachtung von Grund und Boden, vom König bis hinunter zum Fronbauern reichte, hin zu einem System, in dem man mit dem namensgebenden Kapital und ohne großen Grundbesitz reich werden konnte. Diese Hochzeit des Kapitalismus der reinen Lehre funktionierte bis zu einem Zeitraum in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, den Varoufakis, übernommen vom Ökonomen John Kenneth Galbraith etwas steif als “Technostruktur” benennt und im Grunde eine finanzkapitalistische Planwirtschaft war, mit dem Ende des 2. Weltkrieges ausgedacht von und praktiziert zum Vorteil der USA. Ihr einziges Prinzip: der Dollar ist Weltwirtschaftswährung. Diese Ära ging in zwei Schritten unter: einmal mit der Aufkündigung der Verträge von Bretton Woods und der Goldpreisbindung 1971 durch Richard Nixon und ein zweites Mal mit der Finanzkrise von 2008. In beiden Situationen trennte sich Geld von Kapital, man konnte auf einmal reich werden ohne Kapitalist zu sein. Statt wie früher mit Schmerbauch, Zylinder und Zigarre im Mundwinkel und einem Sack voll Kapital Sachen erfinden und ausbeutend produzieren zu lassen, damit man sie dann irgendwelchen Deppen verkauft und dabei stinkereich wird, gab es nun neue Wege zur Yacht. Bis 2008 mit der Spekulation mit den mittlerweile allbekannten “Derivaten”, also finanzmathematischen Konstrukten, die mit der Realität nichts zu tun haben und dennoch “irgendwie” Geld abwarfen. Seit 2008 wurde das nochmal einfacher. Der weltweite Finanzmarkt war mal wieder nur fast gecrasht und wir alle beobachteten horrorfasziniert, wie der Kapitalismus sich der Schlinge mal wieder entzog, durch das mit "quantitatives Easing" herrlich benannte Drucken von Geld. Diese Gelddruckerei, immer schön verbrämt als die Rettung der “Wirtschaft” und damit von “uns allen”, you know, real aber natürlich nur eine Rettung der Banken, wurde nochmals befördert durch die Pandemie. Dieses gedruckte Geld landete jedoch zum allergrößten Teil nie in “der Wirtschaft”, noch nicht mal bei “den Banken” sondern fast ausschließlich in den Aktienkursen weniger Unternehmen, und zwar ausschließlich solchen, die in der Branche tätig sind, die wir heute “die Cloud” nennen.

    Diese Cloud ist ein immaterielles Land in den Wolken, in dem wir mittlerweile alle täglich 16 Stunden verbringen. Wir sitzen ohne Schlüpper in der Videokonferenz, und wischen parallel Tiktok, wir versuchen zwischen zwölf Werbebannern die spiegel.de app zu lesen und abends Netflixen und relaxen wir, weil wir vor Stress nicht schlafen können. Diese Cloud - und das ist der Clou und die große Theorie des Buches - hat aber nichts mehr mit dem Markt oder auch nur dem Kapitalismus zu tun. Sie ist wie ein feudales Kaiserreich aufgeteilt zwischen Königen mit Namen wie Musk, Zuckerberg und Bezos. Darunter sitzen deren Vasallen, die ihnen hörig sind, namentlich die Kapitalisten der alten Schule, die noch “Zeug” herstellen: Daimler, Bayer, Nestle, Hakle, die auf die Cloudkönigreiche angewiesen sind um ihre Produkte loszuwerden, den keiner geht mehr einkaufen, alles ist digital. Wir, die Mittellosen, also fast alle, sind in diesem neufeudalistischem Bild nicht nur die Tagelöhner, die den S**t kaufen, sondern gleichzeitig auch Fronbauern. Denn mit unserem permanenten Klicken, Wischen oder einfach nur auf den Screen starren leisten wir Fronarbeit, wir beackern das Land, äh…, die Cloud, und machen sie mit unseren Daten zu dem was sie ist, auf dass die Vasallen und Könige diese Daten abschöpfen können und wissen, welchen Scheiß sie uns oben oder unten reindrücken sollen. Klingt logisch und wird von Wirtschaftswissenschaftlern wahrscheinlich in genau diesem Augenblick in Grund und Boden zerlegt, wie sie so sind, die Ökonomen, siehe mein letzter Studio B Beitrag.

    Das alles liest sich faszinierend und schlüssig. Aber Theorien müssen nicht “stimmen”, und selbst ich, der ich mit Geld so gut umgehen kann wie ein schwäbischer Hausmann, der sich im Weinstüble den Frust von der Seele trinkt, weil er gerade als Leiharbeiter bei “Daimler” geschasst wurde, findet ein paar Löcher in Varoufakis Herleitung, aber ich werde mich natürlich hüten, dem ehemaligen griechischen Finanzminister die Fehler in seinem Buch zu germansplaining!

    Wie gesagt, Theorien sind richtig oder falsch, who knows. Das Leben braucht keine Anleitung, oft reicht es, wenn dir jemand den Ansatz einer Erklärung liefert, für den S**t, der dir schon lange auffällt. Dass es nur noch einen Onlineshop gibt, zum Beispiel, eine Suchmaschine, die jeder nimmt, obwohl sie schon lange kaputt ist, zwei Handybetriebssystem, die alles genau so ein bisschen andern machen, dass man nie wirklich wechseln kann und im Kino kommen die immer gleichen Superheldenfilme mit Cliffhangern, wer guckt den Scheiß?! Mit Varoufakis’ Buch haben wir eine Erklärung, warum das so ist und wir realisieren, wir sollten beginnen zu handeln. Nicht um den Lauf dieser Dinge aufzuhalten, das ist ziemlich zu spät. Aber so wie sich Bauern kaum gekümmert haben um den Voigt, bis er zweimal im Jahr kam, die Fron zu kassieren, können auch wir versuchen, ein richtiges Leben im Falschen zu führen.

    Man muss zum Beispiel nicht die FAZ abonnieren, um Reportagen zu lesen, wenn man Krautreporter lesen kann, man muss kein Spotify haben, wenn man eine gemeinsame Musiksammlung hat (zumindest solange das alte Recht auf Privatkopie noch gilt). Man muss nicht allein versuchen, seinen nach zwei Jahren obsoleten Staubsaugerroboter zum Laufen zu bekommen, dafür gibt’s in jeder kleineren und größeren Stadt einen Ableger des Chaos Computer Club oder auch nur einen alten Mann, der den Mut und den Anschluss nicht verloren hat und dir das Ding irgendwie zum saugen bringt. Und mal echt, wenn man Netflix kündigt, passiert recht wenig, wenn man Leute kennt, die einem erklären, dass das konsumieren von gestreamten Videos nicht strafbar ist, egal, was die Bildzeitung schreibt und dass das mit einem Werbeblocker sogar recht sicher ist und den grandiosen Nebeneffekt hat, dass man dann die Bildzeitung nicht mehr lesen kann.

    Social Media braucht man, klar, man will nicht einsam sterben, aber Social Media ist nicht Twitter, man muss es nur mal ohne probieren. Die erste, gewissermaßen urzeitliche, Theorie, was dieses Internet ermöglichen wird, war doch, dass jeder mit jedem reden können wird, dass man zu einer viel größeren Anzahl von Menschen Kontakt halten, sich organisieren kann. Social Media heute ist ziemlich das Gegenteil davon. Denn es kamen diese Leute, diese lauten, extrovertierten, deren Lebensziel es ist, von möglichst vielen gehört zu werden und schon bald war vergessen, worum es ging, in diesem Internet: das Miteinander, das Zuhören oder sich Belegen, das streiten und richtig sauer sein, aber es ging nie um das Sprechen zu möglichst vielen auf einmal. Da die Lauten am Ende immer die Erfolgreichen sind, in unserem System also “reicher”, hatten sie bald die Möglichkeit, diese Perversion der Theorie des Miteinander, das Schreien in 140 Worten, in die Praxis umzusetzen. Myspace, Facebook, Twitter und das, was jetzt davon als X dahinvegetiert sind das Ergebnis, wenn man Idioten machen lässt. Aber die Nerds wachen endlich auf. Die Introvertierten, die keine Millionen Follower brauchen um sich selbst zu bestätigen, die wussten schon immer, dass das großartige am Internet nicht die Plattform, die endlose Ebene ist, sondern die Nische , die kleine Echokammer, in der man gemeinsam flüstern kann. Warum soll ein Fediverse-Account, der Übersetzungen deutschsprachiger Sagen ins Englische postet 120.000 Follower beschallen wollen? Wenn diesem Account 3000 Leute folgen, reicht das doch völlig aus. Diese 3000 Follower scrollen jeden Tag über diese brillanten kleinen Sagenposts ohne sie zu lesen, nur um ab und an hängen zu bleiben. Ist das schlimm, dass sie nicht jeden Tag hängen bleiben, jeden Post lesen? Das es “nur” 3000 sind? Nein, dem Autor macht es offensichtlich Freude, alte deutsche Sagen zu übersetzen, ein paar Lesern Freude das zu lesen, ab und an, wo ist das Problem?

    Unser Literaturmagazin, hier, das hier, was Du gerade liest, erhalten jede Woche 35 Freunde in ihr Postfach und laut todsicher marketinggerecht gefälschter Statistik öffnen angeblich 50% davon sogar die E-Mail! Wäre es schön, wenn es 1000 wären? Ich habe das leise Gefühl eher nein. Wir müssten die Kommentare abschalten, weil Yanis Varoufakis natürlich kein/natürlich ein ganz extremer Antisemit ist. Irgendein Idiot oder zwei würden sich verpflichtet fühlen, uns mit Hilfe von Reddit oder 4chan Links zu erklären, dass Siri Hustvedt natürlich bei Paul Auster abschreibt, weiß jeder. Bei einer Million Leserinnen unseres Newsletter würden wir dann alle $ in den Augen haben und die neuesten Neuerscheinungen würden unsere Kindles zum Überlaufen bringen und wir würden nicht mehr das lesen, was wir lesen wollen, alte Bücher, obskure Bücher, amerikanische Novellisten aus dem 19. Jahrhundert und derlei. Aber Ok, 200 Leser, das wäre schön, und ihr könnt gerne dafür sorgen:

    Aber wenn ihr Besseres zu tun habt, dann halt nicht. Wir werden weiter jede Woche Bücher lesen, rezensieren, es manchmal nicht schaffen und Wiederholungen senden und uns freuen, dass das jetzt elektronisch geht und nicht wie 1985 nur mit einer Thermopapierkopiermaschine, die man nachts heimlich benutzt um damit ein Fanzine zu drucken, was ausserhalb des Postleitzahlbereiches nie jemand sieht.

    Das alles ist kein Widerstand, keine Revolution. Der Kapitalismus ist zu Ende, wir müssen nicht mehr mitspielen, es gab noch nie was zu gewinnen. Wir sind wieder zurück im Mittelalter und wenn man den Sagen glauben kann, die Jürgen Hubert sammelt und ins Englische übersetzt oder den Rezepten aus dieser Zeit, die Volker Bach ausprobiert, um uns davon zu berichten, hatte man dort etwas mehr Fun, als uns das in Buch, Funk und Fernsehn vermittelt wird. Woran das wohl liegt?!



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  • Fußnoten und Literaturverzeichnisse waren früher ein klares Erkennungszeichen für “ernsthafte” wissenschaftliche Werke. Das hat sich ein bisschen verwässert (looking at you, Junot Diaz 👀), aber in den Büchern, die das Kollektiv in dieser Diskussion bespricht, sind die Anhängsel weder Klamauk, noch sind es Merkmale furztrockener Dissertationen. Nein, Siri Hustvedts “Mütter, Väter und Täter” und David Graeber/David Wengrows “Anfänge: Eine neue Geschichte der Menschheit” sind faszinierende, lesbare Werke, für die man sich Zeit nehmen kann und muss, im letzteren Fall, mit knapp 700 Seiten eher viel. Da waren sich mal alle einig, was für eine Harmonie!

    Hört rein!



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  • Entgegen recht verbreiteter Ansichten - damals wie heute - waren Wissenschaftler und ihre Methoden in den Universitäten rechts und links des Eisernen Vorhangs nicht so unterschiedlich, wie man denkt. Ein Baum ist ein Baum ist ein Kernreaktor ist ein Plato und so studierten Förster, Physiker, ja sogar Philosophen, durchaus die gleichen Sachen. Sie kamen dabei auf unterschiedliche Ergebnisse, was in der Natur der Wissenschaft und der Weltansichten liegt, aber all das hatte Grenzen; man kann ein Atom nur auf ein paar Art und Weisen spalten und wenn man hinterher darüber berichten möchte, sollte man bei den Berechnungen nur in engen Grenzen auf die Ideologen um einen herum hören.

    Es gab natürlich eine Ausnahme: Studierte man Wirtschaftswissenschaften an der London School of Economics oder der University of Chicago stritt man sich, sicher, und sicher auch heftig, wie das im Fachgebiet wohl üblich ist, und ward dennoch als “Wirtschaftswissenschaftler” akzeptiert. Studierte man das Gleiche jedoch an der Frankfurter Uni, also, Frankfurt an der Oder, war man ein “Ökonom” und eine rote Socke und hätte sich das aus heutiger Sicht eigentlich sparen können.

    Das alles ist weitgehend vergessen. “Wirtschaftswissenschaftler” (also die aus dem Westen) sind immer noch angesehene Akademiker. Keine Nachrichtensendung kommt ohne Zahlen und Prognosen aus der Wirtschaft aus. Wirtschaftsweise machen darin Aussagen zum Wachstum derselben, Institute für “Weltwirtschaft”, “Wirtschaftsförderung” oder einfach nur “Wirtschaft” selbst, sehen jedes Frühjahr einen Stimmungsaufschwung von bis hinters Komma festgelegten Prozenten. Diese werden in Nachrichtensendungen verkündet, sie begründen Hoffnungen und Sorgen “in der Wirtschaft” und Dax-Vorstände, Politiker und Kommentatoren werden ganz emotional dabei. Im Herbst dann wird berichtet, in derselben Nachrichtensendung, von denselben Weisen, Instituten und Komitees, dass sich Prognosen und Stimmungen verändert haben, ach was, und aus IxKommaYpsilon Prozent, Anteil und Betrag werden derer völlig andere IxKommaYpsilons! Wie geht?! Geht!

    Und niemand, wirklich keiner, nie einer (es sind meist Männer), in einer solchen Nachrichtensendung hat sich je gefragt, ob sie denn wirklich Experten seien, wenn sie ihre Zahlen von vor sechs Monaten doch gerade wieder korrigieren mussten, dass diese Zahlen nie ohne Beiworte wie "entgegen den Erwartungen", und "überraschend" oder gar “schockierend” erzählt werden. Nie kommt in diesen Sendungen zur Sprache, was unzählige Brücken bauende Ingenieure, Hochhaus-Statiker, Groß- und Kleintierversorgende Veterinärmediziner oder Seen- und landschaftspflegende Berufsausübende, lauter als leise, auf der anderen Seite der Glotze flüstern und schreien: “Wenn wir einen solchen Unsinn, ungenauen Blödsinn und reinen Aberglauben produzieren würden, wäret ihr unter Euren Häusern und Brücken, samt Euren Nutztieren und -pflanzen begraben und zusammen mit dem ganzen verdammte Planeten schon lange tot!!1!”

    Wie kommt es, dass wochentags, direkt vor der Hauptnachrichtensendung des Ersten Deutschen Fernsehens, beste Sendezeit also, fünf Minuten einem Thema, der Börse, gewidmet werden, welches für das Einkommen von 99 % der Zuschauer genauso relevant ist, wie die Sendungen zur gleichen Zeit am Wochenende, die sich um die Lottozahlen kümmern? (und deren Zahlen unter notarieller Aufsicht so genau und richtig sind, wie es sich die Reporterin in “Börse vor Acht” nur erträumen kann)? Warum gibt es mehrseitige Wirtschaftsteile in baumvernichtenden Zeitungen, nur damit ein paar Promille der Bevölkerung in einem Lufthansaflug zwischen Frankfurt und Düsseldorf mit diesen der Sekretärin im Sichtfeld rumfuchteln können? Ein Wahnsinn.

    Wenn man sich um diesen Wahnsinn nicht kümmern möchte, kann man sich natürlich mit anderen Sachen beschäftigen, es gibt ja noch andere Wissenschaften, die einem den Tag vertreiben. Medizin zum Beispiel oder Biologie. Neue, epochale Medikamente werden da erfunden in Dänemark. Doch was wir lesen ist, dass das dänische Bruttosozialprodukt um 0,4 % gestiegen ist, weil eine Medizinfirma ein Abnehmmittel erfand. Das lesen wir als erstes. Wir lesen nicht, wie es funktioniert, für wen es hilfreich ist. Die Nachrichten verkünden, dass das Zeug viel zu teuer für die Krankenkassen sei. Wir lesen nicht über die Menschen, denen es hilft. Und vom Fakt, dass es millionenweise Übergewichtigen gelingt mit Hilfe der Droge von Ihrer Fresssucht loszukommen bleibt in den Webspalten übrig, dass das der Supermarktkette Walmart den Börsenkurs versaut.

    Ok, das war nix, schauen wir.. wohin mal schnell? Ok, Insektenforschung, Entomologie, wenn man schlau klingen will. Was wird entdeckt, was verschwindet, wie fickt die Biene?! Immer weniger, lernen wir und das bedeutet Ernteausfall, Dürre und damit der Niedergang ganzer Wirtschaftszweige. Ok, zeig mir irgendwas anderes als Wirtschaft, Frau Google! Wir blättern und wischen verzweifelt: Modeseiten berichten von Werbung auf Tiktok, Literaturbeilagen berichten von Verlagen gegen Amazon, Musikmagazine vergleichen Spotify und Apple Music. Es geht immer nur um Wirtschaft. Wohin fliehen?

    In die Geschichte! Das ist die Lösung! Den Kapitalismus gibt’s seit drei-, vierhundert Jahren, lesen wir also über das Mittelalter - Problem gelöst. Gehen wir kein Risiko ein: Gehen wir an den Anfang der Menschheit zurück, nehmen wir uns ein dickes Buch, was die Story von Beginn an erzählt, als wir alle nackig waren und noch keine Wirtschaft war!

    “Anfänge: Eine neue Geschichte der Menschheit” heißt dieses Buch auf Deutsch, erschienen ist es im Januar 2022 und es ist so dick und reich und anregend, dass ich immer noch drin lese. “The Dawn of Everything: A New History of Humanity", so haben es im Original die Autoren genannt. Diese sind der brillante, originelle, witzige und leider viel zu früh verstorbene David Graeber, ein Anthropologist und sein Kollege aus dem Fach Archäologie: David Wengrow.

    Die Autoren erklären zunächst, warum sie eine neue Geschichte der Menschheit schreiben und die Erklärung ist so einleuchtend, wie sie für mich überraschend war. Sie geht so: Die Geschichtsschreibung, die wir heute in der westlichen Welt lernen und lesen, ist in den größten Teilen nicht älter als 100-200 Jahre. Auch ist sie erstaunlich ähnlich, egal ob man sie in den letzten 70 Jahren links oder rechts vom eisernen Vorhang gelehrt bekommen hat. Ok, die Prognose wer am Ende gewinnen wird, war leicht unterschiedlich, aber die Stories die erzählt wurden, von der Frühzeit bis zum unweigerlichen Sieg der kommunistischen oder eben marktwirtschaftlichen “Freiheit” ähnelten sich doch sehr. Das liegt daran, dass in den letzten paar hundert Jahren die Welt im Westen (zu dem wir hier auch den Osten Europas zählen) materialistische und paternalistische Grundideologien hatte, und genauso materialistisch und paternalistisch wurde jede Quelle, jede Ausgrabung, jedes Mosaik und jedes gefundenen Höhlenbild interpretiert und in die eigene Weltsicht eingepasst. Damit zementierte man diese Weltsicht und verhinderte eine andere und das behindert nicht nur das Sehen eines vielschichtigen und am Ende wahrscheinlichen Bildes der Geschichte der Menschheit, es verhindert auch die Sicht auf eine vielfältige und offene Zukunft ebendieser.

    Das macht Wengrow und vor allem den selbsternannten Anarchisten Graeber äußerst wütend. Man könnte von Wissenschaftlern erwarten, dass sie in Werken, in denen sie andere solche kritisieren, für diese ein gewisses Verständnis aufbringen, für deren Umstände, in denen Theorien und Werke entstanden, man selbst kann als Wissenschafter ja unmöglich fehlerfrei sein. Nicht so die beiden Davids, sie ziehen vom Leder, es ist eine Freude. Das macht das Buch wohltuend zu lesen für den Laien, der sich auf ihrer politischen Seite wähnt (also idealistische Feministen wie mich). Die andere Seite, die alten Bewahrer der Welt (m), die ihre Reputation zerstört sehen durch die +600 Seiten an alternativen Interpretationen, alternativen Theorien, alternativen Blicken auf die gleichen Quellen, Ausgrabungen und Zeitzeugen, diese gehen sicher hart ins Gericht mit dem Buch. Ich bin auch diesmal meiner Regel treu geblieben, keine Rezensionen zu Werken zu lesen, bevor die meine nicht veröffentlicht ist. Aber das Buch ist so voll von Kritik am bestehenden materialisitisch-patriarchalen Geschichtsbild, dass die Bingokarte recht schnell voll ist mit garantiert in Rezensionen auftauchenden Worten: “woke”, “social justice” oder “feminist history” werden dabei sein. Ich hole schon mal den Bingostempel.

    Nun stehe ich der Geschichtswissenschaft mit einer gewissen Grundskepsis gegenüber, die man früher äußern konnte, ohne in den Verdacht des Schwurbler- und Querdenkertums zu geraten. Sie ist in vielem unberechtigt, aber so tief verwurzelt, dass ich sie schwer los werde. In der DDR in die Schule gegangen, in der die Weltläufte nicht immer allzu zusammenhängend übermittelt wurden, bekam ich ein paar Jahre später die Stasi-Akten meiner Familie auf den Tisch, also Quellen aus allererster Hand, deren Inhalt wir als direkte Zeitzeuge auf Richtigkeit überprüfen konnten. Wir haben selten so gelacht. So viel war falsch, ja lächerlich. Anderen ging es ähnlich, so zwischen drei und fünf Millionen Menschen, schätzt man, hatten ähnliche Erfahrungen und haben dennoch jeden Scheiß geglaubt, den sich der Spiegel über, sagen wir: Manfred Stolpe, aus dessen Stasiakten zusammenreimte. Aus solchen Artikeln wurden irgendwann Bücher und diese werden aktuell und in Zukunft in Schulen gelehrt. Was dabei in künftigen Generationenköpfen entsteht, werden Geschichten sein, aber nicht “die Geschichte”. Extrapoliert man diese minimale Episode an “falscher Geschichte” hoch bis in die Prähistorie, bleibt einfach nicht viel übrig, von dem, was wir über uns zu wissen meinen. Das Thema sprechen David Graeber und David Wengrow an, sie erläutern ihre Meinung dazu (eine andere als die meine, logisch, es ist ihr Job) und können aber natürlich ihre neue Geschichte nicht ohne die Worte “könnte”, “hätte” oder “wäre” schreiben. Sie weisen, wie es sich gehört, darauf hin, dass alles auch ganz anders gewesen sein könnte, aber was geschrieben ist, erhält deklaratorischen Wert, der einschränkende Halbsatz ist schnell vergessen.

    So berichten Graeber und Wengrow von neuen Erkenntnissen in der Archäologie: diese entstehen nicht nur durch den technischen Fortschritt in Altersbestimmung, Radiologie oder DNA-Sequenzierung sondern auch, weil das Feld nicht mehr nur von schnauzbärtigen Männern mit Hüten betrieben wird sondern von Frauen oder Wissenschaftlern, die nicht unbedingt dem Okzident entstammen. Wenn diese auf ihre Entdeckungen schauen, tun sie das nicht mehr durch die koloniale Brille von Eroberung und Ressourcenextraktion. Wir erfahren von nordamerikanischen Tribes, die in fast gleichen Lebensräumen völlig unterschiedliche Arten des Zusammenlebens praktizierten. Es gab natürlich die expansiven Apache und Comanche, parallel aber eben zu Tribes die sich am Ende der Ernte zum potlatch trafen und diese gerecht verteilten. Über erstere schreiben sich die besseren Stories, wenn man die Jugend mit der eigenen raubmordenden Kolonialisierung versöhnen möchte, für eine Welt, die noch ein paar hundert Jahre halten soll, sind die Berichte von kommunalen Praktiken der Tlingit, Haida oder der Chinook wichtiger - und dass der Leser von diesen drei wahrscheinlich nur eine kennt, sagt alles über den Zustand unserer Welt.

    Wir erfahren, in einer der für mich interessantesten Aspekten der modernen Anthropologie, dass auch unser zeitlicher Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen beengt zu sein scheint. Gesellschaftliche Strukturen sehen wir aus moderner Sicht in Jahren, Jahrzehnten oder Jahrhunderten. Viel wichtiger, ja, ist auf einmal logisch, sind Jahreszeiten. Wir lernen über, Bingo, Amazonastribes, die in der Trockenzeit in streng hierarchischen Gruppen jagen, mit brutalen Führern und unterdrücktem Fussvolk. In der Regenzeit sind diese Führer dann ganz normale Mitglieder der Gemeinde und führen ohne jeden Ansehensverlust die “niederen” Tätigkeiten aus, die dann nötig sind. Und nun stellen wir uns Friedrich Merz vor, wie er bei Netto an der Kasse sitzt.

    Man sollte nicht erwarten, am Ende des Buches die “richtige” und “wahre” Geschichte der Menschheit zu kennen. Speziell der unermüdlich progressive und nochmal etwas politischere der beiden Davids, nämlich David Graeber, hat dieses, sein letztes Buch, wohl auch als Zukunfts- denn als Geschichtsbuch geschrieben. Denn wenn man die scheinbare Vorherbestimmtheit unserer aktuellen materialistischen Money-Money-Welt nicht hinnehmen will, reicht es nicht, den Leuten zu erzählen, dass alles, was sie über diese Welt wissen, aus dieser Weltsicht heraus vermittelt wurde. Man muss ihnen die alternativen Geschichten und deren Quellen aufzeigen. Und das passiert auf ganz wunderbare, verständliche und ausführliche Art und Weise in diesem Buch. Es liest sich wie der spannendste Geschichtsunterricht, den man nie hatte, es fliegt mit Dir durch die Zeiten und über Kontinente. Das Buch ist ein Almanach und ein Kneipenquizlexikon und am Ende hast Du das seltsam gleichzeitige Gefühl mehr zu wissen und viel weniger. Denn Dir ist die Gewissheit abhanden gekommen zu wissen, woher wir kommen und damit die, dass alles so kommen wird, wie Dir jeden Tag in “Börse vor Acht” erzählt wird. Oder wie es David Graeber 2015 in einem anderen Buch mit seinem Wohl bekanntesten Zitat zusammenfasste:

    “Die ultimative, geheimste Wahrheit unserer Welt ist, dass sie etwas ist, das wir erschaffen, und genauso gut anders erschaffen können.”

    Damit wir das nicht vergessen, sollten wir dieses Buch lesen.



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  • Siri Hustvedts Arbeiten zu rezensieren, stellt für mich ein ums andere Mal eine Herausforderung dar. Das liegt zum einen daran, dass ich sie für eine äußerst intelligente Frau halte und ich ihr mit dem, was ich über sie schreibe, gerecht werden möchte. Zum anderen bin ich fasziniert von dem breiten thematischen Spektrum, mit dem sie sich befasst und den interdisziplinären Verknüpfungen, die sie herstellt.

    Bekanntheit erlangte die amerikanische Literaturwissenschaftlerin zunächst durch ihre Romane, zu denen unter anderem Was ich liebte zählt und 2003 in Deutschland veröffentlicht wurde. Längst ist sie jedoch auch für ihre Essays bekannt und hat ihr wissenschaftliches Feld um Neurowissenschaften und Psychiatrie erweitert, wobei sie für zweiteres auch einen Lehrauftrag an der Cornell University hat. 2018 erschien im Rowohlt Verlag ihr Essayband Die Illusion der Gewissheit – ebenfalls von mir rezensiert – und im vergangenen Jahr, also 2023, ihr aktueller Essayband Mütter, Väter und Täter, der im Original bereits 2021 unter dem Titel Mother, father and other erschien. Es ist mir einmal mehr rätselhaft, wie ein deutscher Verlag von other auf Täter kommt und erinnert mich an einen Roman der britischen Autorin Bernardine Evaristo mit dem Titel Girl, women, other – ebenfalls im Studio B rezensiert – der in Deutschland unter dem Titel Mädchen, Frau etc. veröffentlicht wurde. Aus other wird also einmal etc. und einmal Täter. In unterschiedlichen Verlagen wohlgemerkt. Ich lasse das an dieser Stelle so stehen.

    20 Essays umfasst ihr neuer Band, wobei der früheste aus dem Jahr 2011 stammt und die ältesten 2020 geschrieben wurden. Der Großteil bewegt sich irgendwo dazwischen. Anhand ihrer eigenen Biografie und Familienhistorie kreist sie verschiedene Themen ein. Am Beispiel ihrer Großmutter stellt sie die Frage, wie wir Dinge und Geschehnisse erinnern und wie diese Erinnerung sich im Laufe der Zeit verändert. Dabei fällt ihr beispielsweise auf, dass die Identität ihres Vaters vor allem vom Erinnern und seinen Nachforschungen über die väterliche Linie geprägt war, während er die mütterliche Linie völlig außer Acht ließ. Darüber stellt sie folgende Beobachtung an:

    „Erst als Erwachsene war ich imstande, über das Problem der Auslassung nachzudenken – eher darüber, was fehlt, als darüber, was da ist – und allmählich zu verstehen, dass das Ungesagte ebenso laut spricht wie das Gesagte.“ (S. 11)

    Eine Feststellung, die simpel anmutet und doch ertappe ich mich dabei – während ich es lese – dass auch ich sie bisher gar nicht so konkret in meinen Reflexionen über meine eigene Familie beachtet habe. Auch Gedanken zum Tod spielen in verschiedenen Kontexten eine Rolle, sei es, wenn es um ihre Eltern oder ihre eigene Sterblichkeit geht, aber auch allgemein, wie in verschiedenen Kulturkreisen der Tod auf unterschiedlichste Weise zelebriert und die Toten geehrt werden. In einem späteren Essay vom 23. April 2020, also dem Beginn der Corona Pandemie, erscheint das Thema Tod noch einmal in einem ganz anderen Licht, denn es ist verknüpft mit politischen Entscheidungen – oder Fehlentscheidungen – politischer Rhetorik und damit einhergehendem, bereits vorhandenem oder geschürtem Rassismus, oder „virale[n] Redefiguren“. Dabei stellt sie fest:

    „Der menschliche Körper ist ein Ökosystem, das von den Ökosystemen seiner Umgebung abhängt. Und wir sind soziale Tiere, die zum Überleben in hohem Maße von anderen unserer Art abhängen.“ (S. 136)

    Gleichfalls lernen wir, dass der Ausdruck social distancing bereits 2003 entstanden ist und – das ist uns weniger neu – ein Privileg ist, wie sich während der Pandemie gezeigt hat. Auch dem Stellenwert von Lesen während der Pandemie widmet sie einen Essay, in dem gleich zu Beginn deutlich wird, welch intimes und freiheitliches Erlebnis die Lektüre ist und ich möchte hinzufügen, dass sie das natürlich auch außerhalb von Seuchen ist.

    Siri Hustvedt befasst sich in ihren Essays mit einer Vielzahl unterschiedlicher und komplexer Themen, deren aufmerksame Lektüre dazu führen kann, den Zusammenhang vermeintlich gar nicht miteinander in Verbindung stehender Gedanken und Fragen zu begreifen. Abgesehen von den bereits genannten Thematiken geht es auch immer um zwischenmenschliche Beziehungen und Wahrnehmung. Dabei gelangt sie zu so vermeintlich schlichten wie treffenden Erkenntnissen, wie der, dass, wie ich einen anderen wahrnehme und sehe, auch immer davon abhängig ist, wie ich mich selbst sehe. Aber sie stellt auch die Frage, was Weiblichkeit eigentlich ist; wie sie sich definiert. In einem, bereits 2019 verfassten Essay, befasst sie sich mit dem Ursprung und Diskursen zum Thema Misogynie, ein Thema, das leider keineswegs neu ist, uns aber dieser Tage, auch aufgrund von social media, immer mehr beschäftigt und immer neue, erschreckende Ausmaße annimmt.

    Es soll sicher nicht das Ziel dieser Rezension sein, sämtliche Themen ihres Essaybandes Mütter, Väter und Täter darzulegen, aber das kurze Anreissen, zumindest einiger Themen, soll verdeutlichen, wie breit sie thematisch aufgestellt ist. Dadurch ermöglicht sie der Leserin sich mit jedem neuen Essay auch gedanklich in eine neue Materie einzudenken, etwas Neues zu erfahren, ihre eigenen Ansichten zu prüfen, zu hinterfragen oder neu zu überdenken und zu erweitern. Dabei sind ihre Essays stets von ihrer feministischen Perspektive geprägt, durch die sie uns vor Augen führt, wie Frauen über die Jahrhunderte hinweg benachteiligt wurden und immernoch werden und Schlimmeres. Mit teilweise sehr persönlichen Texten, in denen wir lernen, dass Wut auch etwas Gutes sein kann und anderen sehr komplexen Texten, die sich thematisch beispielsweise mit Kunst, Neurowissenschaften, Literatur oder Politik befassen, schafft sie ein weites Feld, dass dem Lesenden Denkanstöße ermöglicht – ja geradezu aufdrängt – und ihm dadurch die Möglichkeit eröffnet, seinen eigenen Horizont zu erweitern. Eine unbedingte Empfehlung!



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  • Was macht eigentlich Siri Hustvedt? Schon seit längerem ist sie meiner Aufmerksamkeit entgangen und nur durch Zufall bekam ich mit, dass sie bereits im letzten Jahr ein neues Werk veröffentlicht hat, das den Titel Mütter, Väter, Täter trägt und eine Sammlung von Essays beinhaltet. Bevor ich dieses in meiner nächsten Rezension besprechen möchte, gibt es heute als Studio B Klassiker eine Rezension aus dem Jahr 2018, in der ich mich ebenfalls mit Siri Hustvedt und ihrem Essayband Die Illusion der Gewissheit befasse.

    Es gibt eine Vielzahl an Sprichwörtern und vor allem Redensarten, die aus unserem täglichen Sprachgebrauch zwar nicht mehr wegzudenken sind, von denen wir uns aber längst nicht mehr die Mühe machen, sie zu hinterfragen oder zu verstehen, worin deren Sinn liegt. Das kann einem schon ganz schön auf den Geist gehen, es sei denn, man hat plötzlich einen Geistesblitz. Was ich damit sagen will? Dass sich Siri Hustvedts kürzlich im Rowohlt Verlag erschienener Essay Die Illusion der Gewissheit, oder The Delusions of Certainty, wie er im englischen Original heißt, genau mit diesem Thema befasst. Nämlich der Frage nach dem Geist. Was hat es mit diesem Begriff, den wir so leichthin benutzen, auf sich? Und was verstehen wir eigentlich unter Geist bzw. was ist die Beziehung zwischen Geist und Körper?

    Die Frage ist nicht neu, doch für Siri Hustvedt viel zu spannend, um sich nicht mit ihr zu beschäftigen. Dies tut sie, indem sie dem Leser bekannte Fragestellungen und Theorien vorstellt und sich auf verschiedene Fachbereiche wie Genetik, Psychologie, Sprache oder die Evolutionstheorie bezieht. Sehr gut recherchiert und stets mit Beispielen und Gegenbeispielen belegt, führt sie dem Leser vor, wie Annahmen einfach über die Jahre hinweg übernommen wurden, ohne hinterfragt zu werden und damit eine gewisse Allgemeingültigkeit erlangt haben, was sie für die meisten Menschen über jeden Zweifel erhebt. Doch Siri Hustvedt will „für den Zweifel und die Vieldeutigkeit plädieren, und zwar nicht etwa, weil wir nichts wissen können, sondern weil wir unsere Überzeugung stets prüfen sollten und hinterfragen, woher sie kommen.“ (S. 30)

    Ein zentraler Aspekt ihres Essays ist die Unterscheidung zwischen angeborenen und erworbenen Eigenschaften, kurz gesagt: Natur versus Kultur. Unter ihrem Gliederungspunkt „Frauen können keine Physik“, wird, wie auch im restlichen Essay, deutlich, welch große Rolle auch der Feminismus in ihrem Werk spielt. Es geht dabei um die immer wiederkehrende Behauptung, dass Frauen Männern von Natur aus unterlegen sind und angeblich, aufgrund ihrer Biologie, in einigen Bereichen schlechter sind als diese – anhand des Untertitels wird deutlich, auf welche Bereiche sie hier anspielt. Um dies zu widerlegen, wird sie nicht müde, die verschiedensten Studien ins Feld zu führen, die sowohl für als auch gegen diese Tatsache sprechen und wie diese unterschiedlichen Ergebnisse zustande kommen. Und es ist wunderbar einfach zu verstehen, wenn man sich nur einmal kurz die Zeit nimmt, darüber nachzudenken.

    Ein weiteres, kurzes Beispiel dafür, womit sich ihr Essay auseinandersetzt, ist die Frage, wie sehr ein Wunsch körperliche Auswirkungen mit sich bringen kann. Deutlich gemacht wird dies anhand der Scheinschwangerschaft. Die Vorstellung, schwanger zu sein, kann durchaus sichtbare und objektiv nachweisbare Schwangerschaftsmerkmale erzeugen. Dabei ist aber nicht die Frage, ob der Wunsch nach der Schwangerschaft zu Veränderungen des Hormonspiegels führt, sondern vielmehr, wie stark der Inhalt dieses Wunsches, also dieses Gedanken, den unser Geist produziert, sein kann, dass er zu physischen Auswirkungen führt. Hierzu ein Zitat:

    „Wie können Vorstellungen, Überzeugungen, Wünsche und Ängste den Körper verändern? Steht der Geist über der Materie? Haben wir es hier mit einem Zusammenspiel von psychologischen und physiologischen Faktoren zu tun? Wenn man die Tatsache akzeptiert, dass Vorstellungen Körper verändern können, was hat das dann im Hinblick auf das Körper-Geist-Problem zu bedeuten?“ (S. 134)

    Hustvedt verweist darauf, dass es eine Lücke zwischen Körper und Geist gibt, die der Grund dafür ist, dass wir zwar das Gehirn mit all seinen Synapsen, Neuronen und chemischen Eigenschaften irgendwann in Gänze erklären können, doch es bleibt die Frage, wie sinnvoll es ist, Dinge wie gerade genannte Wünsche, aber auch Hoffnungen, Träume und Gedanken ausschließlich als neuronale Prozesse zu bezeichnen?

    Was ist nun also die Illusion der Gewissheit? Ich denke, die Frage ist gleichzeitig die Antwort. Es wird immer Dinge geben, die für uns Menschen nicht greifbar sind: Was ist der Geist? Was ist der Verstand und wie unterscheidet er sich vom Körper? Und es gibt die Illusion, dass wir diese Frage mit Gewissheit beantworten können. Das wirklich interessante ist aber, zumindest für mich, die Frage und nicht ihre Antwort. Denn solange es Menschen gibt, werden diese sich wohl mit dieser Thematik beschäftigen und genau dieses – sich-damit-beschäftigen – treibt uns an und bringt uns voran. Genau das ist auch das Wundervolle an Siri Hustvedts Essay. Sie regt uns an und fordert uns auf, Dinge nicht als gegeben und feststehend hinzunehmen, sondern zu hinterfragen. Dabei räumt sie, für mein Empfinden, manchmal fast etwas wütend mit gängigen Vorurteilen und deren Erschaffern auf.

    Wer Die Illusion der Gewissheit auf deutsch liest, dem sei gesagt, dass die studierte Literatur- und Sprachwissenschaftlerin (also eine Geisteswissenschaftlerin, haha) Bettina Seifried hier eine großartige Übersetzung geleistet hat. Die Gliederung des Essays hätte, für meinen Geschmack, hier und da noch etwas gebündelter sein können. Nichts desto trotz ist der Text sehr verständlich und hält sich nicht damit auf, sich einer allzu wissenschaftlichen Sprache zu bedienen. Eine sehr geistreiche Arbeit und absolut empfehlenswert.



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  • Der Jahreswechsel steht an. Es scheint sich ein gewisser Pessimismus breit zu machen. Ob das Alterstrübsinn ist und ich einfach nicht genug junge Leute kenne - kann sein. Aber auch junge Leute scheinen im Angesicht von Klimakatastrophen nicht unbedingt froh in die Zukunft zu schauen, denkt man sich. Das kann ein falscher Eindruck sein, ich kenne nicht genug junge Leute, s.o. Vielleicht kleben ja nicht alle von denen permanent mit der Hand an der Straße, sondern auch ein paar mit derselben am Bierglas, in der Fankurve und haben dort immensen Spaß, weil die Mannschaft auf einem Aufstiegsplatz überwintert - es sei ihnen gegönnt. Früher, also sagen wir 2006, hätte man sich die aktuellen Umfragen von Infratest dimap und Allensbach gegoogelt, für ein bisschen rechts/links Bias adjustiert und wüsste ziemlich genau Bescheid, ob die sich breitmachende Depression nur selbstgefühlt ist oder sich mit den Stimmungsbildern im Land deckt. Dass ich das gar nicht mehr versuche, bedeutet, dass sich in den letzten zwei Jahrzehnten etwas verändert hat. Nur was?

    Jemand, der das erklären kann, klingt so:

    In leicht verschliffenem Oxford-Englisch erzählt der 50-Jährige Dokumentarfilmer Adam Curtis Geschichten und man hat ständig das Gefühl man erfahre etwas Neues, Ungehörtes, ja Unerhörtes und wenn nicht das, dann wenigstens, dass man einen Zusammenhang aufgezeigt bekommt, den man bisher noch nicht gesehen hatte, wo er doch so verdammt offensichtlich ist.

    Die Bildsprache der Dokumentationen von Adam Curtis ergibt sich zu 100% aus dem verwendeten Material: Adam Curtis hat Zugriff auf das komplette Archiv der BBC und nutzt es in Gänze aus. Was dabei entsteht als “Collagen” zu bezeichnen ist sicher nicht ganz falsch, klingt aber zu “artsy”, zu unverständlich, und die Dokumentationen sind vieles, aber nicht das. Das gesamte Oeuvre von Curtis hat nur ein Ziel: zu verstehen.

    Wir sehen, oft zunächst unkommentiert, historische Aufnahmen, die nicht den BBC-News oder einer BBC-Reportage entstammen, sondern offensichtlich “Abfall” sind, Take-Outs, zufällige Aufnahmen vor oder nach dem eigentlichen Event. Dazu erklingt Musik, gerne “ahistorisch”, also nicht der Zeit im Filmmaterial entsprechend: vielleicht die Doors zu einer Stummfilmaufnahme eines Metallurgiebetriebes in der Sowjetunion im Jahr 1934 oder die Sex Pistols zu einer chinesischen Oper. Obendrüber erzählt Adam Curtis, ruhig, sonor in einfacher Sprache, eine Geschichte, die selten dort endet, wo man das vermutet.

    Die Dokumentationen sind endlang, es sind oft fünf bis sechs 90-Minüter. Die erste Vermutung ist, dass sich Adam Curtis ob der kolossalen Menge an Material in einem TV-Archiv nicht entscheiden kann und uns einen Dia-Abend in Familie zumutet, wo Onkel Jochen den Taj Mahal schon aus allen vier Himmelsrichtungen gezeigt hat, und jetzt nochmal aus dem Flugzeug. Falsch vermutet. Die Dokumentationen haben eine übergreifende Idee und diese soll nicht erklärt werden - Adam Curtis will sie erzählen, wir sollen sie erfahren. Also pickt er sich Persönlichkeiten und Events, teils berühmt, teils überraschend unbekannt und fast immer weit voneinander entfernt. Er erzählt uns alles, was wir über Person A wissen müssen und springt dann zu Event B. Der wohl meistgehörte Satz in Adam Curtis-Filmen ist “And in this exact moment..” gefolgt von einem Schnitt zum Ereignis auf der anderen Seite der Welt. Wir folgen als Zuschauer dem Rhythmus und erfahren audiovisuell, dass Alles miteinander zusammenhängt.

    Thematisch ist Curtis immer das kleine Quentchen seiner Zeit voraus, dass man, wenn man sich seine Werke ein paar Jahre später anschaut, um so ehrfürchtiger wird. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die Produktionen ja eine Menge Vorlauf haben. So beschreibt Curtis in "Hyper Normalisation", wie Propaganda heute funktioniert. Nicht mehr durch das Durchprügeln dubioser “Wahrheiten” (oder gleich von Lügen), sondern durch das Füllen des Kommunikationsraumes mit wahllosen Informationen, richtigen oder falschen, bis der Rezipient überladen ist und aufgibt: “Es weiß ja keiner mehr irgendwas.”. Das Überraschende ist dann, das “HyperNormalisation” bereits im Jahr 2016 erschienen ist, also in dem Jahr, als Donald Trump eben diese Taktik im Wahlkampf angewendet hatte, unterstützt von russischen Trollfabriken, die auf das unterspülen des Informationsraumes mit “Fakenews” spezialisiert waren. Und an welchem Beispiel hatte Adam Curtis maßgeblich die “HyperNormalisation” im Film erklärt: Anhand der Geschichte der Desinformation in Russland von 1991 bis 2016!

    Nun ist derselbe orange Wahnsinn 8 Jahre später wieder auf dem Weg ins Weiße Haus, dazu gibt es Wahlen in Europa, das sich aktuell auch nicht gerade auf der linken Fahrspur hält. Spätestens im Sommer werden wir erfahren, ob die krassen weltweiten Temperaturausschläge im letzten Jahr ein El Niño-Ausreißer waren oder unser Ende eingeläutet haben. Wer sich diesen Gedanken nicht entziehen kann, aber auch nicht in Eskapismus fliehen möchte, der findet in Adam Curtis einen Begleiter, der mit ruhiger Stimme, Geduld und einem unendlichen Vorrat an Geschichten die eigene Zeit ins Verhältnis setzt, die eigenen Gedanken und Theorien hinterfragt und aus dessen Filmen man immer klüger, erstaunt und, in meinem Fall, im Allgemeinen beruhigt herausgeht. Das Leben war schon immer kompliziert, es gab die größten Schurken, absurde Probleme, ein ewiges sich Verrennen schon immer in Zeiten und Plätzen - deine eigenen sind nicht die schlimmsten.

    Sämtliche Adam Curtis-Dokus und es sind sehr, sehr viele, der Mann macht das seit den Neunzigern, sind in der BBC-Mediathek abrufbar. Leider geht das so richtig nur mit einem VPN. Deshalb findet Ihr unten eine kurze Anleitung, wie das geht und auf unserem Mastodon-Account posten wir ein paar aktuelle Links zu Adam-Curtis-Videos auf YouTube, die aber aus Copyrightgründen nicht ewig abrufbar sein werden. Wir danken dem Kapitalismus! Ist er nicht wonnig?

    Wie man sich BBC-Dokus anschaut

    * Mache Dir einen Account bei diesem VPN-Anbieter, der ist seriös (und für die Nerds, nein, das ist technisch kein VPN, aber funktioniert genauso, nur besser). Mit ein paar Fake-Emails kann man da auch mehrmals 14 Tage kotenlos kiecken.

    * Folge den Anweisungen und richte das auf dem Rechner oder gleich im Router ein.

    * Gehe auf https://www.bbc.co.uk/iplayer und mache Dir ein Konto mit einer beliebigen Emailadresse. Als Adresse suche Dir ein Hotel in London, dann stimmt die Postleitzahl.

    * Suche nach Adam Curtis.

    Ansonsten, schaut hier, da kommen dann ein paar Youtubelinks.



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  • Graham William Walker, geboren in einem Vorort von Dublin und aufgewachsen im Süden Irlands, heute besser bekannt unter seinem Künstlernamen Graham Norton, zählt zu den erfolgreichsten Talkmastern der englischsprachigen Welt, ist aber gleichzeitig auch Comedian und Schauspieler und vielfach ausgezeichnet. Aber nicht nur das, seit 2016 ist er auch als Autor bekannt und gefeiert, denn in diesem Jahr veröffentlichte er seinen ersten Roman Holding, der ein Jahr später auch auf Deutsch unter dem Titel Ein irischer Dorfpolizist erschien und sofort zum Erfolg wurde. Er erhielt noch im selben Jahr die Ehrung Irish Book Award als bester Roman. Seinen dritten Roman – der diese Auszeichnung ebenfalls erhielt – veröffentlichte er vier Jahre später, also 2020, unter dem Titel Home Stretch. Unter Heimweh, so der deutsche Titel, wurde er 2021 im Rowohlt Verlag veröffentlicht.

    „Es gibt Momente im Leben, die man wertschätzen muss, aber nur manchmal erkennt man sie, während man sie erlebt.“ (S. 303) Es ist dieses Lebensgefühl, dass fünf junge Menschen zu Beginn des Romans an einem unbeschwerten Sommertag vereint. Das sind Bernie und David, deren Hochzeit am nächsten Tag bevorsteht, sowie die Schwestern Linda und Carmel und Martin, der seine Freunde mit dem Auto zu einem Ausflug an den Strand abholt. Hinzu kommt schließlich noch Connor, der eigentlich nicht zu der Gruppe gehört, aber von Martin eingeladen wird, sich ihnen anzuschließen. Es ist ein Nachmittag der harmlos beginnt und schließlich in einem Unglück endet, der das Leben von Linda, Connor und Martin grundlegend verändert und die Leben von Bernie, David und Carmel beendet.

    Es ist ein harter Einstieg in den Roman, den Graham Norton wählt. Die Leichtigkeit und Unbeschwertheit der Jugendlichen wird jäh durch einen Autounfall zerstört und führt dem Lesenden gleich zu Beginn die Fragilität des Augenblicks vor. Connor, der sich bekennt, den Wagen gefahren zu haben, wird in Folge dessen der Prozess gemacht. Bewährung lautet das Urteil, welches geradezu milde erscheint, gegenüber der Ausgrenzung, die Connor – ohnehin schon ein Außenseiter – und seine Familie durch die übrigen Dorfbewohner erfahren. Der Pub seiner Eltern bleibt größtenteils verwaist und selbst seine Schwester Ellen, die in einem Baumarkt arbeitet, wird in ein Büro versetzt, in dem sie keinen Kontakt mehr mit Kunden hat. Um allen Beteiligten das Leben leichter zu machen, vielleicht auch aus Angst vor permanenter Konfrontation und um Connor einen Neuanfang zu ermöglichen, wird er von seinen Eltern aus seinem Heimatdorf Mullinmore, in Irland, nach Liverpool in England geschickt. Ein Wendepunkt, ab dem der Fortgang der Geschichte in zwei Stränge geteilt ist, die parallel verlaufen und einerseits Connors Leben, andererseits das Leben seiner Schwester Ellen und ihrer Eltern beschreibt. Dabei gibt es sowohl immer wieder Zeitsprünge in der Handlung nach vorn als auch Rückblicke in das Jahr des Unfalls, wodurch sich dem Lesenden weitere Details eröffnen und sich so langsam ein Gesamtbild ergibt.

    Connors Aufenthalt in Liverpool ist jedoch nur von kurzer Dauer, da er nach einer Konfrontation mit einem Kollegen und Mitbewohner die Stadt verlässt. In seine Heimat kehrt er jedoch nicht zurück, was ein zentrales Motiv des Romans ist. Er ist immer auf der Suche nach einem Ort, an dem er möglichst unauffällig leben kann, was, wie sich schnell herausstellt, weniger an seiner Vergangenheit liegt, sondern viel mehr an der Tatsache, dass er homosexuell ist. Der Umstand, dass er nicht mehr in der Kleinstadt leben muss, aus der er stammt, befreit ihn gleichzeitig von der Scham und der Verachtung der Menschen, derer er sich dort ausgesetzt sieht. Der Liebe seiner Eltern könnte er sich ebenfalls nicht mehr sicher sein, was er sich anhand von Aussagen derer über Homosexuelle erschließt.

    Auch wenn er schließlich in New York lebt und sesshaft wird, heftet ihm die meiste Zeit eine Rastlosigkeit an, die er nicht abschütteln kann. Als schließlich seine langjährige Beziehung scheitert, wird er auf sich selbst zurückgeworfen und begreift allmählich, dass er auch in dieser Verbindung nicht er selbst gewesen ist. Es ist auch das Ende jener Beziehung, das ihn eines Abends in eine Bar führt, in der seine Vergangenheit und Gegenwart schließlich wieder zusammengeführt werden.

    Das Leben seiner Schwester, die sich vom Weggang ihres Bruders eine Verbesserung ihrer Lage erhofft hatte, läuft unterdessen ebenfalls nicht erwartungsgemäß. Das unverhoffte Werben Martins um sie, lässt sie zunächst hoffen, dass das Glück nun endlich auf ihrer Seite ist und es kommt tatsächlich so weit, dass die beiden heiraten. Doch eine Verbesserung von Ellens Leben führt dies nicht herbei, im Gegenteil, es stellt eher den Beginn von jahrelangem Unglück dar:

    „In einer Ehe, so schien es Ellen, ging es gar nicht darum, glücklich zu sein oder jemand anderen glücklich zu machen. Anscheinend war es vor allem wichtig zu entscheiden, wessen Unglück sich leichter ertragen ließ. Und das war ihr eigenes. Ihr Unglück schien ein angemessener Preis dafür zu sein, nicht mit Martins Unglück leben zu müssen.“ (S.111)

    Ob oder wie es die Protagonisten schaffen, ihr Leben noch zum Besseren zu wandeln, soll an dieser Stelle noch für alle offen bleiben, die diesen Roman gern lesen möchten.

    Es ist eine lange und emotionale Reise, die man als Lesende mit den Protagonisten zusammen antritt, aber Graham Norton versteht es ziemlich gut, den Spannungsbogen zu halten und diverse Wendungen einzubauen, die zwar manchmal, aber oft nicht vorhersehbar sind. Thematisch bewegt er sich dabei in einem Feld, in dem es viel um die Themen Identität, Sexualität und Heimat geht, die auch eng miteinander verknüpft sind. Es ist dramatisch, wie ein Ereignis ein oder mehrere Leben auf einen Schlag verändert. Für Connor bedeutet der Unfall den Verlust seiner Heimat und damit den Verlust seiner gewohnten Umgebung, seiner Familie, ja sogar seiner gewohnten Sprache. Sein Weggang markiert den Anfangspunkt einer Suche nach Identität. Da diese losgelöst von seinem bisherigen Lebensumfeld geschieht, ist es ihm aber auch möglich, seine Sexualität ohne Scham ausleben zu können. Welche Tragweite diese Scham dabei für die Entwicklung der kompletten Story hat, erschließt sich dem Lesenden zwar nur allmählich, macht aber schließlich umso deutlicher, wie unterschiedlich die Leben der Protagonisten hätten verlaufen können. Wobei Graham Norton sich nicht mit dem klassischen Was wäre, wenn Gedankenspiel aufhält, sondern seine Figuren vorantreibt, sie leiden lässt und sie, wie im echten Leben ja auch unausweichlich, sich entwickeln lässt. Für mich war es definitiv ein Pageturner und ist damit eine eindeutige Leseempfehlung. Oft ging mir während der Lektüre eine Strophe aus Mascha Kalékos Emigrantenmonolog durch den Sinn, mit der ich nun enden möchte:

    „Mir ist zuweilen so als ob

    Das Herz in mir zerbrach

    Ich habe manchmal Heimweh

    Ich weiß nur nicht, wonach...“



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  • “Fantasy als literarisches Genre ist so alt wie die Menschheit!”, antwortete ich letztens sinngemäß auf eine entsprechende Frage - und lag damit ein paar zigtausend Jahre daneben. Aber man muss solche Sätze nur selbstbewusst vortragen.

    “Wann ist denn der erste Fantasy Roman erschienen?”, wurde hilfreich nachgehakt und ich musste feststellen, dass ich die Märchen der Gebrüdern Grimm oder auch die Fabeln von Äsop in einen Topf geworfen hatte mit der doch recht spezifischen literarischen Gattung “Fantasy”. Und sicherlich hat J.R.R. Tolkien im “Herr der Ringe”, seinem genrebegründenden Werk, Einflüsse übernommen aus ein paar tausend Jahren Menschheitserzählung, Homers Odyssee fällt einem als Erstes ein, sicher auch Beowulf, eine altenglische Heldensaga, die Tolkien in seiner akademischen Karriere übersetzt hatte. Aber das, was wir als das Genre der Fantasy kennen, ist tatsächlich erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts mit ebendiesem “Lord of the Rings” entstanden.

    Als Connaisseur der literarischen Form ist mir bewusst, dass die starre Struktur, der immergleiche Cast und das absehbare Ende nichts für die allgemeininteressierte Leserin ist und empfehle es entsprechend selten. Andererseits - was ist an ein bisschen Formalismus nicht zu mögen, gerade in unseren formlosen Zeiten. Ein Hauptheld, eine Reise und ein Happy End - mehr braucht es nicht um den S**t um dich herum zu vergessen. Das Ganze in einem Buch voll von moralischen Entscheidungen und man kann fast auf die Idee kommen, ein paar Hundert Seiten voller Orks, Gnome und blonder, muskulöser, heterosexueller Sixpacks mit kantigem Gesicht zum Bildungsroman zu erklären. Was am Ende kontraproduktiv wäre. Ist Fantasy doch explizit ein Produkt für Menschen, die mal nichts Neues lernen wollen, keinen Bock auf die inneren Konflikte graubärtiger, mittfünfziger Skandinavier haben, und die einfach dem Alltag entfliehen wollen.

    Das Wort “Produkt” steht hier bewusst nicht in Anführungszeichen, denn Fantasy ist buchstäblich als solches konzipiert worden, einzig um verkauft zu werden. Nachdem in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts im kapitalistischsten aller Länder die Mittelschicht boomte, weil der Spitzensteuersatz in den US of A bei 70% lag und sich eine vierköpfige Familie von einem Monatsgehalt locker ein Haus in der Vorstadt leisten konnte, verödeten die Innenstädte zugunsten der Malls an den Ausfallstraßen, weil, es kann ja nie mal irgendwie alles perfekt sein. Neben den üblichen Mom & Pop-Stores und Diners war damit auch das Ende der kleinen Buchläden besiegelt und folgerichtig das der kleinen Verlage. Bücher wurden nun in supermarktgroßen Buchläden in den Malls verkauft, und dort ging es nicht um Quali-, sondern um Quantität. Verlage hatten quartalsweise Umsatzsteigerungen vorzuweisen oder sie wurden zugemacht. Produktivitätssteigerung, so weiß das jeder BWL-Erstsemestler, erreicht man durch Standardisierung. Das funktioniert durchaus auch im Literaturbetrieb, Stichwort Groschenroman oder Pulp Fiction. Den Arztroman, bei dem es der Hausfrau so wohlig warm im Schoss wird wie dem Schlosser beim Lesen des Landserheftes, gab es schließlich schon seit ein paar Jahrzehnten.

    Eine Zielgruppe für literarische Massenware kam in den Sechzigern und Siebzigern hinzu: der Nerd. Während man das Aufweichen des Konformismus der miefigen Fünfziger durch die aufkommenden Jugendkulturen von Hippies über Mods bis zu den Punks durchaus begrüßte, gab es auch hier Verlierer: Die, die in gar keiner Gruppe sein wollten, die sich ihren eigenen Kopf machten. So was befreit natürlich ungemein, intellektuell und so, aber, die Rache der verschworenen Gemeinschaften derer mit den langen Haaren oder den kurzen oder den bunten kann dir gewiss sein. Also bleibt der Nerd zu Hause, das neugebaute Haus der Eltern hat zum Glück einen Hobbykeller, und spielt Dungeons and Dragons mit den paar Kumpels, die, wie er selbst, zu viel Fantasie haben.

    In diesem Rollenbrettspiel findet sich stets eine Gruppe von Helden mit unterschiedlichsten Charakteren, sie unternehmen eine Reise durch die Unterwelt, um zum Schluss einen Endgegner zu besiegen oder dabei zu sterben. Was ein Zufall aber auch: das ist genau die Story von “Herr der Ringe”. Zwar kann man dieses Meisterwerk mehr als einmal lesen, und mit den fünfzehnhundert Seiten, die es hat, braucht man dafür auch eine Weile, aber irgendwann wird es langweilig. Warum also das Werk nicht als Vorlage formulieren: “Man nehme einen männlichen Haupthelden, stelle ihm Begleiter zur Seite auf dem Weg ein großes Böses per Magie zu besiegen.” So ähnlich formulierte das ein gewisser Lester del Rey im Jahr 1975. Er war ein findiger Geschäftsmann, der zufälligerweise zur genau richtigen Zeit in 4. Ehe mit einer Lektorin verheiratet war. Er stieg ins Business ein, beauftragte den damals mit einem fast dreisten “Herr der Ringe”-Abklatsch namens “The Sword of Shannara” berühmt gewordenen Terry Brooks, sein Debütwerk zu einer Serie zu entwickeln. Gleichzeitig suchte er aktiv nach anderen Autoren, die im Prinzip dieselbe Story, jeweils ein bisschen anders, wieder und wieder erzählen sollten. Denn das geht schnell und damit billig und der ausgestoßene Nerd findet Inspirationen für seine Dungeons and Dragons Sessions und kann sich beim Lesen sicher sein, dass am Ende das Gute gewinnt.

    An dieser Formel hat sich dann 50 Jahre lang wenig verändert und wie es sich für ein Kulturgut gehört, werden auch hier jedes Jahr Preise vergeben, der wichtigste: Der Hugo Award. Die Preisträger bis in die 2010er hinein lesen sich wie das personifizierte white male privilege, und so wie jeder Industrie von Film über Computerspiele bis zum Kleingartenspartenverein flog auch der Sci-Fi- und Fantasybranche diese Praxis um die Ohren. Traf es bei diesen geldschweren Branchen im Allgemeinen die Richtigen, kann man in den bescheideneren Fantasy-Kreisen ein klein wenig das Argument machen, dass es etwas zu viel verlangt sei von Nerds, die über Jahrzehnte im Keller saßen und froh waren, dass sie mit keiner Frau reden mussten, druckreife Statements zu gesellschaftspolitischen Themen abzugeben und sei es auch nur, eine Frau zum Gewinner des Hugo-Awards zu wählen. Denn, der Preis ist ein Publikumspreis, er wird auf einem seit Mitte des 20. Jahrhundert jährlich stattfindenden Treffen von Science Fiction- und Fantasyfans ermittelt, uh.. man riecht den Saal bis hierhin. Aber die Aufregung ist weitestgehend vorbei, die Wellen haben sich geglättet, mit dem Ergebnis einer dem Genre absolut zugutekommende Diversifizierung durch Autorinnen wie N. K. Jemisin, im Studio B schon besprochen oder nicht-westlichen Preisträgern wie Cixin Liu mit “The Three-Body Problem” das gerade von Netflix verfilmt wird.

    Und so ist es auch in diesem Jahr eine Autorin, genauer die US-Amerikanerin Ursula Vernon alias T. Kingfisher, die zur Siegerin in der Rubrik “Roman” gewählt wurde. Und zwar mit einem Buch, welches oberflächlich sehr standardisiert und formularhaft daherkommt und doch ein in sich geschlossenes Kleinod der Fantasy ist. Es heißt “Nettle & Bone” und kriegt im Deutschen den Titel “Wie man einen Prinzen tötet”. Was es ziemlich gut zusammenfasst und kein wirkliches Spoilern ist, denn dass der Prinz weg muss, wird sehr früh im Roman klar.

    Während herkömmliche über mehrere Bände erzählte Fantasystories normalerweise mit umfangreichem Kartenmaterial aufwarten in dem wir meist einen Kontinent sehen der im Norden von Städten und Landschaften beherrscht wird, die der Autor sich als skandinavisch vorstellt bis in den Süden, in dem eindeutig Griechenland oder gar der Orient Pate standen, kommt “Nettle and Bone” ohne diesen Schnickschnack aus. Fast ein bisschen artsy gibt es namenlos das “Nördliche Königreich”, das “Südliche Königreich” und eine kleine Dynastie in der Mitte, die sich ob ihre geographischen Lage als Tiefseehafen seit Jahrhunderten hält. Natürlich läuft so ein kleines Fürstentum permanent Gefahr, von den viel größeren Nachbarn überrannt zu werden. Das verhindert man in einem ordentlichen feudalen System durch Heiraten und so werden die drei Töchter des mittleren Königreiches von klein auf vorbereitet, einem Prinzen an die Hand gegeben zu werden. Aktuell soll das der im Norden sein. Er ist ein rechtes Arschloch, und wie sehr er das ist, erkennt man, siehe oben, an dem kaum gespoilerten Untertitel der deutschen Ausgabe. Unsere Hauptheldin, die jüngste der drei Töchter, wird sich nach nicht allzu langer Zeit im Buch entscheiden, dass der Typ weg gehört.

    Die Prinzessin heißt Marra und macht sich auf den Weg, ganz genregerecht, mit einer kleinen Gruppe an aufrechten Kämpfern. Allein deren Zusammensetzung zeigt uns, dass die Zeit von Lester del Reys Fantasyformel insofern vorbei ist, als dass nicht nur die Heldin eine Frau ist, sondern dass im ganzen Buch nur zwei Männer vorkommen. Ein sixpacktragender, wenn auch schon über 50-jähriger Muskelprotz, wird aus einer fiebertraumatischen Unterwelt befreit, und der umzulegende Prinz ist natürlich auch einer. Der Rest sind Frauen, keine davon entspricht dem aktuellen Tiktok-Schönheitsideal und keine ist unter 30. Das klingt ein bisschen superwoke, ist es natürlich auch, aber T. Kingfisher schafft es die Langeweile der letzten 70 Jahre Fantasy mit ihren kantigen blonden Helden und braunhaarigen grünäugigen Elfen nicht durch gegenteilige und damit genauso langweilige Pendants zu ersetzen. Wenn man schon die Chance hat ein Klischee zu brechen, dann sollte man diese nutzen, denkt sich Kingfisher: lustig und lehrreich sollen die Heldinnen sein, ein wenig unsicher, aber bestimmt, nicht schön, aber eindrucksvoll. Das Buch balanciert dabei ständig kurz vor dem Fantasyklischee nur um es, wenn man sich so richtig wohlfühlt, zu brechen. Ob das unterirdische Gänge sind, in denen die Truppe kämpft, um auf einmal von einem menschlichen Rad aus Grabplünderern überfahren zu werden, ein Bild, welches Computerspielern sofort bekannt vorkommen sollte. Für den Cineasten sind es Szenerien, die an die Filme von Guillermo del Toro erinnern und Nur-Leserinnen beeindruckt der fast reduktionistische Stil des gesamten Buches: es ist mal kein ausschweifendes 1000-Seiten-Werk mit drei selbst ausgedachten Sprachen, sondern eine fast märchenhafte Beschränkung auf ein Gut gegen Böse, No-Means-No, Kopf-Ab dem F****r.

    So ergibt sich etwas, was als Fantasy beginnt, sich seltsam subversiv auf vielen Ebenen entwickelt und am Ende ein wirkliches Kunstwerk ist. Dazu ist es in sich abgeschlossen und nicht überlang, so dass es mir vor allem als Einstieg in eine Genre gilt, das einen, s.o. durchaus zurecht schlechten Ruf hat. Aber, wie hier erklärt, haben wir es in der Sci-Fi- und Fantasyszene zur Abwechslung mal mit einem popkulturelles Phänomen zu tun, in dem vieles, man glaubt es kaum, besser wird. Das sollte man sich nicht entgehen lassen, da sollte man mal reinschauen, und der beste Einstieg aktuell ist “Nettle & Bone” von T. Kingfisher.



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  • Kurz und knackig gibt das Studio-B-Kollektiv folgende Empfehlungen für den Gabentisch:

    Herr Falschgold

    * Patrick Stewart -Making It So: A Memoir / Making it so: Mein Leben

    * Newsletter von Substack, SteadyHQ o.a.

    * David Graeber - B******t Jobs “Vom wahren Sinn der Arbeit”

    Irmgard Lumpini

    * Richters Buchhandlung

    * Buchhandlung Walther König

    * Brigitte Reimann - Ich bedaure nichts und Alles schmeckt nach Abschied: Tagebücher 1955-1970

    * Diaty Diallo - Zwei Sekunden brennende Luft

    * Zeichen und Symbole: Ihre Geschichte und Bedeutung

    Anne Findeisen

    * Claire Keegan - Liebe im hohen Gras: Gesammelte Erzählungen

    * Jens Andersen - Tove Ditlevsen: Ihr Leben

    * Irene Solà - Singe ich, tanzen die Berge

    * Elizabeth Strout



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  • Nachdem ich im Alter von 12 Jahren meine Stadtbezirksbibliothek “ausgelesen” hatte (natürlich nicht die komplette, für mich zählte nur das utopische Regal!), stolperte ich in dem, was man in der DDR so Feuilleton nannte, über den gerade erschienenen Roman “Der fremde Freund” von Christoph Hein. Den Zeitpunkt kann ich deshalb so genau bestimmen, weil ich jetzt, in meinem fünften Lebensjahrzent, so langsam passabel Kopfrechnen kann und mir Wikipedia das Erscheinungsdatum des Romans mit 1982 angibt. Dass ich ein Buch von Christoph Hein gelesen hatte und enorm fasziniert von dessen Sprache war, hatte ich noch im Hinterkopf, aber mein fortlaufender Erinnerungshorizont von exakt sieben Jahren verwehrt mir, mich zu erinnern, worum es konkret ging. Auch hier hilft mir die Freiwilligenenzyklopädie auf die Sprünge und die Synopsis von “Der fremde Freund” lässt mir gleichzeitig die Erinnerungssynapsen knallen als auch mich kopfschüttelnd zurück: was ein wunderlicher Teenager ich gewesen sein muss!

    Im Buch, geschrieben aus der Ich-Perspektive einer 30-jährigen Ärztin, geht es um Liebe und Entfremdung und um Fotografie. Die Liebe war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht untergekommen, die Entfremdung als Wort kein Begriff, aber retrospektiv und küchenpsychologisch macht das alles Sinn. Das Einzige im Buch, womit ich wirklich, und zwar richtig was am Hut hatte, war die Photographie. Und so wie die Protagonistin im Buch, Claudia, ob ihrer Entfremdung von den ihr seltsam vorkommenden Menschen nur leblosen Kram fotografiert, praktizierte ich die Kunst auch und erkannte ich mich wohl ziemlich wieder.

    Wie gesagt, all das reime ich mir elektronisch unterstützt zusammen, denn das Einzige, woran ich mich wirklich erinnere, war die seltsam unprätentiöse, klare, unaufgeregte Sprache Christoph Heins, die mich in ihrer Sparsamkeit, ihrer Affektlosigkeit an Kafka erinnerte. Sicher ein bisschen zu hoch gegriffen, aber ich war ein äußerlich gestörter und innerlich begeisterbarer Teenager.

    Es sollte das letzte Buch bleiben, was ich von Christoph Hein gelesen habe. Die zwei, drei noch in der DDR erschienen Werke blieben unter meinem Radar und danach gab’s Westbücher. Doch irgendetwas spülte mir kürzlich Heins jüngstes Werk in den Sichtkreis und es schloss sich ein solcher. Es heißt “Unterm Staub der Zeit” und wieder ist es ein Buch, welches mich sujettechnisch nicht wirklich interessieren sollte. Und auch hier ist es die Sprache, über die es wenig mehr zu sagen gibt, als dass sie “exakt” ist, “unaufgeregt” und “genau”, die mich, und ich weiß zum Teufel nicht warum, fasziniert.

    Der Inhalt des Romans ist die Geschichte des 13-jährigen Daniel aus der Ostzone, wie er 1958 von seinem Vater ins Internat eines Westberliner Gymnasiums gebracht wird. In der DDR wurde ihm die Erweiterte Oberschule verweigert, also wurde er wie viele talentierte Teenager von seinen Eltern in den Westen geschickt, um ein Abitur zu bekommen. Das passierte so häufig, dass die Westberliner Gymnasien spezielle “C-Klassen” hatten, die den Lehrplänen in den Schulen in der Ostzone Rechnung trugen um die neuen Schüler an das Abitur heranzuführen.

    Für die jüngeren Leser: 1958 ist vier Jahre vor dem Bau der Berliner Mauer und so folgen wir auf den 200 Seiten im Buch Daniel zunächst bis zu diesem 13. August 1961. Die DDR versuchte schon vor dem Bau der Mauer den Strom von Unzufriedenen in die BRD zu stoppen: mit Kontrollen, Entzug von Ausweisen und dem Erteilen von Anweisungen, den Wohnort nicht zu verlassen. Und so waren die quasigeflüchteten Jugendlichen in einem seltsamen Limbo, in dem sie zwar jederzeit nach Ostberlin fahren konnten, schon weil dort mit Ostmark alles um den Faktor 5 billiger war, sie aber Gefahr liefen, geschnappt zu werden und damit ihr Abitur und ihre Zukunft zu verspielen.

    Das der Erzähler im Buch, Daniel, Christoph Hein im real life ist, wird nicht explizit erwähnt, aber ich Fresse einen Besen wenn nicht. Das macht das Buch zu einem “Opa erzählt vom Krieg” eines 79-jährigen Schriftsteller. Was will man mehr? Und wenn man mehr will, dann lest euren Actionquatsch - das hier ist das wahre Leben und es wird genauso berichtet, wie man es sich von einem ernsten, guten Erzähler ohne Kapriolen wünscht. Hein berichtet Episoden aus einer Jugend in einer Zeit, die ein bisschen uninteressant sein mag. Nicht weit genug von der Gegenwart entfernt, nicht besonders aufregend, verglichen mit einem 2. Weltkrieg, der damals auch schon lang vorbei war. Über den kann man was erzählen: Gewalt, Heldentum, Befreiung! Die Ende der Fünfziger Jahre in Berlin waren sicher spannend, aber der größte Gewaltausbruch im Buch ist eine Prügelei beim BillHaley-Konzert im Sportpalast und das Heldenhafteste der Schmuggel von Musikinstrumenten aus dem Osten in den Westen for fun and profit. Und Befreiung: not so much. Im Gegenteil. Während die, ein bisschen belanglosen, Anekdoten des etwas nerdigen, theaterbegeisterten Daniel dahin plätschern, verändert sich die Weltpolitik. Dass ihr Abitur prekär ist und an ihrer Fähigkeit hängt, die poröse Grenze zwischen Ost- und Westberlin unauffällig und möglichst selten zu überqueren, wissen die Schüler. Was sie nicht ahnen ist, dass ein US-Senator im fernen Washington den Russen durch eine verhängnisvolle Rede, das Signal gibt, dass es ok sei, die sowjetische Zone von denen der westlichen Siegermächte abzuschneiden.

    Die Nachricht davon erreicht Daniel in den Sommerferien, ausgerechnet in Dresden (Lob- und Verriss wird von dort ausgestrahlt, wem das nicht klar ist..) und er eilt nach Berlin zurück. Dort sieht es noch ein paar Tage lang so aus, als wäre das ein zeitweilige Maßnahme. Es gibt doch hunderte Straßen und Kilometer Grün um Westberlin, all das abzusperren erscheint unvorstellbar. Doch innerhalb von Wochen ist genau das passiert. Ein paar verständnisvolle Beamte im Ostteil, die den Schülern Hoffnung machen, ihr Abitur fortsetzen zu können, werden von Hardlinern abgelöst und zum Schulbeginn im September ‘61 ist Daniel und seinem zwei Jahre älteren Bruder, mit dem er auf dem Gymnasium war, klar, dass sie sich eine Lehre im Osten suchen müssen.

    Ganz Christoph Hein erzählt er diese dramatisch und traumatisch klingenden Ereignisse mit stoischer Gelassenheit, dass man sich die Frage stellt, ob das so angebracht sei? Immerhin verändert sich durch den Mauerbau das Leben von ein paar Millionen Menschen, beispielhaft vertreten durch die zwei Teenager, grundlegend und nach allgemeinem Konsens zum Negativen. Ja, die Gespräche mit den neu eingesetzten linientreuen Kaderschmieden die dem jungen Daniel, dem “Westflüchtling”, dem “Intellektuellen” das Leben schwer machen, sind frustrierend und machen jemandem, der den Scheiß dreißig Jahre später mitgemacht hat immer noch wütend. Doch Daniel fügt sich mit der Flexibilität, die nur ein Jugendlicher hat ein. Er passt sich nicht an, Weiß Gott nicht, er ist ein paar Monate lang sogar Fluchthelfer, aber er bleibt in der DDR, aus Gründen. Er lernt Buchhändler und aus dem kleinen Daniel wird ein großer Christoph Hein. Dieser verweigert, zumindest in diesem Buch, die Bitterkeit ob eines Lebens, das er nicht gelebt hat. Ob des Faktes, dass er sie nicht spürt oder dass sie in diesem Werk keinen Platz hat, darüber nachzudenken lädt die kleine Nouvelle “Unterm Staub der Zeit” ein und, wichtiger, dazu, das Lebenswerk von Christoph Hein, jetzt wo es fast komplett ist, nochmal von vorn zu lesen.



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