Episodes
-
Philippa Sigl-Glöckner, Leiterin des finanzpolitischen Thinktanks ‘Dezernat Zukunft‘, verlangt, dass man «unmittelbar jetzt die Schuldenbremse, wie sie im Grundgesetz steht, sinnvoll auslegen sollte. (..) Da gibt es ganz viele Spielräume, (..) da es grosse öffentliche Investitionsbedarfe gibt, und diese Investitionen sollten getätigt werden.» - Otto Fricke, haushaltspolitischer Sprecher der FDP im Bundestag entgegnet: «Die Verfassung, das ist die Regel, die gilt. (..) Diese Regel ist auch Teil der Koalitionsvereinbarung. (..) Es ist einfach zu verlockend, Schulden zu machen (..) Wir müssen Prioritäten und Posterioritäten setzen.»
Untergräbt eine höhere Verschuldung das Vertrauen der Finanzmärkte? «Da sagen», so Sigl Glöckner, «die Finanzmärkte das Gegenteil: Gut, dass es endlich deutsche Staatsanleihen in grösserem Volumen gibt» - Fricke argumentiert mit den amerikanischen Zinsschulden und stellt die Frage: «Wie sorge ich dafür, dass ich Vertrauen behalte als Staat.» - Sigl-Glöckner entgegnet «Die amerikanische Staatanleihe ist die Definition der risikolosen Wertanlage in der Welt und wird als Benchmark dafür genommen, genauso wie die deutsche Staatsanleihe.»
Auf die Frage: Müssen unsere Kinder und Enkel die Staatsanleihen zurückbezahlen, antwortet Sigl-Glöckner: «Die müssen sie nicht zurückbezahlen, weil die Staatsanleihe von einem Investor gehalten wird und wenn diese Staatsanleihe fällig wird, dann kauft er im Zweifel erst mal eine neue. Die Idee, dass der deutsche Staat regelmässig seine Bilanz auf null zurückfahren muss, gehört eher ins Märchenland.»
Sie fragt Fricke: «Wo findest du Spielräume auch nur annähernd in der Grössenordnung, die wir jetzt benötigen für Investitionen im aktuellen Bundeshaushalt? (..) Ich habe das versucht und komme nicht annähernd auf die richtige Grössenordnung, (..) ausser man erhöht die Mehrwertsteuer brutal. (..) Der Bundesrechnungshof sagt, dass bis auf 10% des Haushalts alles gebunden ist.» - Fricke entgegnet: «Dann würde ich an alle möglichen Staatsleistungen rangehen. (..) Das Problem ist, dass so getan wird, als wäre weiteres Geld da, (..) weil ich das Risiko von einer zu hohen Verschuldung über die Schuldenbremse hinaus als für riskant halte.»
«Was passiert denn», fragt Sigl-Glöckner, «wenn wir uns sehr viel mehr verschulden, wo kommt man an den Punkt, wo es irgendwo eine Ausfallrisiko geben könnte? (..) Dadurch, dass die deutsche Staatsanleihe die Grundlage des Eurosystems ist, ist das sehr schwer vorstellbar. Der Spielraum ist grösser, als was du und ich für sinnvoll hielten. (..) Man wird den Verdacht nicht ganz los, dass der Konflikt zwischen Investitionen und Sozialausgaben aufgemacht wird, (..) wir könnten beides machen. (..) Von der finanziellen Seite zu sagen, es ist ‘entweder oder‘, wir können dieses Jahr nicht gleichzeitig Bahngleise und bei der Rente was machen, das stimmt halt nicht.» - Dagegen hält Fricke: «Wenn du der Politik die Möglichkeit gibst, Geld auszugeben, wird die Politik immer an die Grenze dessen gehen, was sie kann. (..) Wenn kein Rahmen gesetzt ist, wird es immer so sein, dass die kurzfristigen Dinge hochgehen in den Ausgaben».
Stärkt ein Ausbleiben der dringend notwendigen gesellschaftlichen Investitionen den Rechtspopulismus und untergräbt damit unseren Rechtsstaat? Fricke: «Dem widerspreche ich ausdrücklich. (..) Das Main-Ruhrgebiet hat eine Arbeitslosigkeit von 10,5%, Brandenburg 6,5% (..). Eigentlich müssten sie doch bei uns Rechts wählen, wo die Rheinbrücken kaputt sind und die Arbeitslosigkeit höher ist». Sigl-Glöckner hält dagegen: «Jetzt akut bin ich der Meinung, dass ein Sparkurs absolut die radikale Rechte befeuert und zwar ganz konkret auf der kommunalen Ebene, weil der Trade-off sehr direkt ist. Wir haben hohe Flüchtlingskosten und dafür macht man dann die Musikschule zu, macht man das Schwimmbad zu, macht man das Museum zu. Und das befördert ganz stark rassistische und rechtsradikale Motive.» -
Der polnische Politologe Piotr Buras sieht „gewisse Dinge im Alltag, im Verhalten von Polen und Ostdeutschen, meinen ostdeutschen Nachbarn in Brandenburg, die uns verbinden, wo wir uns näher zuhause fühlen als in Westeuropa (..). Das hängt zusammen mit gemeinsamen Erfahrungen aus der Zeit vor der Wende. (..) Es gibt aber sehr viel, was anders gelaufen ist in den letzten 30 Jahren, (.. so) die Transformationsgeschichte. (..) Der grösste Unterschied besteht natürlich darin, dass wir kein Westdeutschland hatten. Das hatte grosse Nachteile, aber auch wieder Vorteile. Dieses Gefühl der Ohnmacht in Ostdeutschland (..) das war in Polen nicht der Fall, (..) jeder muss selbst verantworten, was damals in den 90-er Jahren passiert ist.“
Buras sieht aber ein gemeinsames Missverständnis: „dass man sich sehr stark darauf fokussierte, wie stark die Wirtschaft gewachsen ist in Polen und in Ostdeutschland. (..) Als in Polen die PIS-Partei an die Macht kam, (..) haben sich alle gewundert (..) : Jetzt plötzlich wählen wir eine Partei, die sozial-konservativ, rückwärtsgewandt und populistisch ist. Und das ist genauso in Ostdeutschland. (..) Diese wirtschaftliche Lage liefert überhaupt keine Erklärung für das Verhalten der Menschen. Es geht vielmehr um Respekt, auch um Selbstwertgefühl, darum, ob sich Leute als Bürger erster oder zweiter Klasse fühlen. In Polen war das nicht anders.“
Für die Bundestagsabgeordneten Paula Piechotta ist dieses verletzte Selbstwertgefühl in Ostdeutschland besonders relevant: „Die friedliche Revolution und dann der Beitritt von Ostdeutschland zum Geltungsbereich des Grundgesetzes hat aus der Region Ostdeutschland eine Minderheitengesellschaft im gesamtdeutschen Kontext gemacht. (..) Das ist eine der Gründe für das sehr starke Sich-als-Bürger-zweiter-Klasse-Fühlen. (..) Die Abwertung des Ossis, war ja auch schon ein sehr starkes Motiv vor 1989. Das hat sich ja ab 1945 im zunehmend geteilten Deutschland immer mehr entwickelt, (..) dass auch in Westdeutschland ein sehr spezifisches, sehr abwertendes Bild über Ostdeutschland entstand. Und umgekehrt hat natürlich auch schon die Propaganda des SED-Staates ein unglaublich negatives Bild von Westdeutschland und einen sehr grossen Antiamerikanismus sehr tief reingetrieben in die Bevölkerung."
Buras sieht im osteuropäischen Rechtspopulismus auch eine Spätfolge des Umbruchs von 1989: Die Frage „warum in Mittel- und Osteuropa, nicht nur in Polen und Ostdeutschland diese populistische Welle mit viel grösserer Wucht einschlägt, hängt damit zusammen, dass (..) wir heute die zweite Phase, die zweite Welle einer grossen Veränderung erleben, eine Veränderung zwar genauso wie in Westdeutschland oder Frankreich, aber (..) alles, was heute die grosse gesellschaftliche, wirtschaftliche und soziale Veränderung ausmacht, kommt in Mittel- und Osteuropa inklusive Ostdeutschland zum zweiten Mal.“ – „Und es trifft hier“, so Piechotta, „auf junge Demokratien, woanders trifft es auf gefestigtere Demokratien.“
Piechotta stellt im Rückblick aber fest, dass „die Bürgerrechtsbewegung im damaligen Ostdeutschland stark davon gelernt hat, was Solidarnosc, was Charta 77 Jahre vorher entwickelt hatten (..), wie man die Ostblockstaaten in die Knie zwingt. Und jetzt ist es auch wieder so, dass wir auf der Suche nach Antworten wieder auf Polen schauen, das wieder ein paar Jahre vor uns ist, das Jahre der PIS-Regierung hinter sich hat (..) und jetzt zum ersten Mal wieder Wahlen dagegen gewonnen hat.“ - Das bestätigt auch Buras: „Die polnische Lektion zeigt, dass es möglich ist, den Rechtspopulismus und den Iliberalismus zu überwinden.“ Piechota ist etwas vorsichtiger: „Ja, aber nur wenn jetzt nicht die nächste grosse Abwanderungswelle kommt. (..) Jetzt gibt es sehr starke Tendenzen, dass nicht mehr Leute neu nach Ostdeutschland ziehen oder zusätzliche Abwanderungsbewegungen stattfinden (..) und das ist die grosse Gefahr.“ -
Episodes manquant?
-
Zwei erlebte Fallbeispiele: Volker Perthes war bis vor kurzem Leiter der UNO-Mission im Sudan, die er im letzten Herbst als „Persona non grata“ verlassen musste. Zuvor war er Direktor der Stiftung für Wissenschaft und Politik in Berlin. Trotz des eskalierenden Bürgerkriegs im Sudan glaubt er „nicht, dass die UNO gescheitert ist.“ Gescheitert seien die sudanesischen Akteure, „die UNO ist ja nicht weggelaufen, sie ist weiterhin da, besonders im humanitären Bereich. (..) Aber natürlich ist es eine Enttäuschung. (..) Die UNO-Mission ist in den Sudan gekommen auf Einladung der damaligen zivilen Regierung (..), um den Demokratisierungsprozess voranzutreiben (und) den Frieden zu stabilisieren. Nach dreiviertel Jahr, als ich da war, kam ein Militärputsch (… und) die beiden militärischen Führer (..) haben sich dann so stark um die Beute gestritten (..), dass sie das Land in einen Krieg führten und das Land wirklich zerstörten. Natürlich ist das eine Niederlage“.
Melanie Hauenstein, heute Leiterin des UN-Entwicklungshilfeprogramms (UNDP) in Berlin war früher für die UNO u.a. in der Demokratischen Republik Kongo tätig. „Das Land war in zwei Kriegen zerrissen (..) Im zweiten Kongokrieg sind 3,8 Millionen Menschen gestorben. (..). Dann gab es Friedensverhandlungen, die ganz massgeblich von der UNO unterstützt wurden (..) Die UNO-Mission hat es geschafft, das Land zusammenzubringen (..) und dort ein Referendum, das eine Verfassung beschlossen hat, (.. und dann 2006) die Wahlen (zu organisieren), wo wir 25 Millionen Menschen digital registriert haben“. Dadurch wurde es möglich „von der Übergangsregierung zu einer legitimen Regierung“ zu kommen. Zuvor stellte sich die Frage, „ob es zu den Wahlen kommt oder ob wir in den Bürgerkrieg zurückgehen“.
Sind Friedensmissionen ein westliches Projekt? – Dem widerspricht Perthes: Die Chinesen sind „nicht nur zweitgrößter Beitragszahler in der UNO, sondern übernehmen auch mehr Verantwortung. (..) Sie sind von den fünf permanenten Sicherheitsratsmitglieder, diejenigen, die das meiste Personal in Friedensmissionen entsenden. (..) Die meisten Truppen in den Friedensmissionen werden nicht von westlichen Staaten gestellt, sondern von Pakistan, von Indien, von afrikanischen Staaten.
Müssen Friedensmissionen mit Verbrechern zusammenarbeiten? – Perthes. „In dem Moment, wo du mit Konfliktparteien arbeiten willst, da hast du nicht die gute Seite und die schlechte Seite (..), die Grauzonen sind enorm. (.. Wenn wir) Zugang zu Gefängnissen haben (..), da sagt niemand, ihr solltet aber nicht mit den Verbrechern reden. (..) In dem Moment, wo ich versuche, mit Akteuren eine bessere Lösung für die Menschen hinzubekommen, mit Akteuren, die selber Menschenrechte verletzt haben (..), da muss ich Hände schütteln, die ich im privaten Leben nicht gerne schütteln würde. Dafür sind wir da, irgendjemand muss es machen. (..) Du musst Prioritäten setzten. Menschenleben ist die höchste Priorität. (..) Wenn sie nicht überleben (..), dann gibt es auch keine Diskussion über Menschenrechte und Demokratie“. – Hauenstein bekräftigt: „Die Menschen, die vor Ort sind, die unter diesen Diktaturen leben, die im Krieg leben (..), die haben keine Wahl, aufzugeben. (..) Für mich ist wichtig, dass wir als UNO sagen: Wir haben kein Recht aufzuhören. Wer, wenn nicht wir?“ -
Martin Dean hat die eigene kolonial-rassistisch geprägte Familiengeschichte in seinem Roman «Tabak und Schokolade» erzählt. Der Rassismus habe in seiner Kindheit «eine ganz andere Ausprägung, als er heute hat. (..) Ich sehe, da ist ganz vieles passiert. Ich war der einzige Junge nicht-weisser Hautfarbe und da gab es immer andere Jungen, die riefen ‘Negerli, Negerli‘ (..) und das wäre heute nicht mehr möglich. (..) Einer der Faktoren, die mich ermutigt haben, ist (..) das globale Ereignis ‘Black Life Matters‘. (..) Wir sind wehrhafter geworden gegenüber Alltagsverletzungen».
Ist das Bewusstsein über die vielfältigen, auch gleichzeitigen Formen der Diskriminierung – aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht, Sozialstatus, Religionszugehörigkeit oder sexueller Orientierung – stärker geworden? Rachel Huber ist nicht zuversichtlich, wenn auch «wir als Gesellschaft schon so weit» sind, dass wir den «direkten individuellen Rassismus (..) nicht mehr so» antreffen. «Aber für mich ist das die Spitze des Eisbergs. Und alles, was darunter kommt, sind Fragen von strukturellem, institutionellem, indirektem und impliziten Rassismus (..) und das haben wir als Gesellschaft noch gar nicht auf dem Radar».
Dazu Martin Dean: «Individualpsychologisch sind die meisten Rassismen nicht bewusst», wenn die Leute «sich rassistisch oder sexistisch» verhalten. «Nicht zufällig ist ‘Black Life matters‘ in der Nähe von ‘me-too‘ gewesen. Es sind eigentlich beides Emanzipationsbewegungen». Hier sei aber in den letzten Jahren «enorm viel passiert». Trotzdem, «was wir alle müssen, und da würde ich mich als Mann wie auch als POC dazuzählen, wir müssen uns den weissen Blick austreiben. Dieser Blick sitzt enorm tief. (..) Ich glaube, dass wir da am Anfang stehen, uns überhaupt bewusst zu werden, was Kolonialismus bedeutet. (..) Die abwertenden Bilder des Fremden stammen aus dem Kolonialismus: Der faule Schwarze, der minderwertige Inder, der unzurechnungsfähige Indianer, das sind alles Kolonialismusbilder, die bis heute wirksam sind. (..) Ohne Kolonialismus ist eine Beschreibung der Globalisierung nicht möglich. Kolonialismus ist ein System, das Wissen organisiert».
Das erklärt Huber wie folgt: «Das koloniale Unternehmen musste legitimiert werden. Das waren ja alles Christen. Als Christen durfte man ja diese Menschen nicht einfach unterwerfen oder einfach töten (..) Also hat man halt eine Hierarchie entwickelt, diese ‘Rassenhierarchie‘ (..) und dass wir sie (Sklaven) in dieser Hierarchie ganz nach unten setzen, das ist der Trick der Hautfarbe gewesen, (..) die schwarze Hautfarbe abzuwerten. Und so konnte man als Christ mit gutem Gewissen diese Leute auch versklaven und töten, weil man da nicht gegen die Heilige Schrift verstossen hat. Das hat die Menschheit so geprägt, dass wir heute noch denken, die weisse Hautfarbe ist besser als eine andere Hautfarbe.»
Für die Zukunft ist Huber «nicht so optimistisch. (..) Situationen, in denen Verunsicherung herrscht, sind erst recht Situationen, in denen die Menschen anfangen, die sogenannten ‘Anderen‘, die Fremden zu Sündenböcken zu machen». – Ähnlich argumentiert Dean: «Meine Angst ist auch, dass Rassismus als Ausschlusssystem wieder funktionieren könnte (..) wenn ich die rechten Politiker höre, Trump, Orban auch Vucic, dann favorisieren die nicht von ungefähr eine ethnisch reine Bevölkerung (..) Deshalb auch der Fokus auf die Migration».
Auf die frage, ob eine zu starke Moralisierung des Rassismus Abwehr provoziert, entgegnet Dean: «Ich würde dafür plädieren, zurückzugehen zum Argument, weil beide Ziele» Antirassismus und Klima «haben einen Nutzen, den man auch beziffern kann» - Huber: «Es ist viel zu emotionalisiert in beiden Kontexten, viel zu politisiert.(..) Wir müssen nicht moralisieren, (..) wir müssen uns an Gesetze halten in einem Rechtsstaat und an Menschenrechte, die wir ratifiziert haben». -
In den 70-er Jahren und rund um die beiden prägenden Ausstellungen „Frauen sehen Frauen“ (1975) und „Saus & Braus“ (1980) entstand in Zürich eine einmalige Kulturszene. Dabei fanden sich die vielfältigsten Kreativbereiche spontan zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammen. Sie erfanden neue Kulturformen, waren sexuell-befreit, queer und transgender, dilettantisch, spontan, ironisch und momentbezogen und zwangen dieser „verstockten, verhockten Gesellschaft», so der Philosoph Stefan Zweifel, ein neues urbanes Selbstverständnis auf. - Zürich war Avantgarde.
Die Kuratorin Bice Curiger erzählt: «Angefangen hat es mit unserem Panzerknacker-Ballett (..) Das war sehr schräg, sehr wild, sehr humorvoll und super feministisch (..). Es war einfach die Zeit, die reif war, es war ein riesiger Echoraum da (..) und schon kam das Fernsehen.“ Im Kunstmuseum Luzern, so Curiger weiter, gab es schon 1975 «wahrscheinlich weltweit die erste genderthematische Ausstellung von Jean-Christoph Ammann ‘Transformer‘». Zum neuen Geschlechterverständnis sagt Stefan Zweifel: «Ich habe meine Mutter und meinen Vater nicht als Mann oder als Frau wahrgenommen, sondern als eigenständige kreative Köpfe. (..) Das Festlegen auf eine Identität, auf eine Geschlechterrolle, das war etwas, was man vom Kindergarten her schon abgelehnt hat. (Die Geschlechterrolle) war für mich dann (aber später) immer auch eine Frage wegen AIDS, das war dann schon eine traumatisierende Epoche. (..) Die Sexualität war eigentlich belastet.»
Zu den politischen Konflikten im Vorfeld des Ausbruchs der Kulturszene sagt Zweifel: «Die Leute wurden ja wirklich von der Polizei überwacht (..) Wenn ich diese Fichen der Bundespolizei sehe. Peter Stein, Bruno Ganz, alle diese Schauspieler, die 1968/69 am Schauspielhaus tätig waren, wurden überwacht. (..) Da wurden harte Kämpfe schon 1968 ausgefochten. (Daraus entstand) letztlich auch die Möglichkeit für diese Befreiung. (.. Die) Stadt war genau klein genug, dass sich diese Grenzüberschreitung, diese Interdisziplinarität (..) sozusagen spontan ergab aus einem gemeinsamen Interesse, wo alle mitmachen mussten: Die Architekten, Schauspieler, in der Musik, in der Kunst, um diese Stadt zum Tanzen zu bringen (..) mit den Slogans, die an den Dadaismus anknüpften. (..) Zürich ist die Stadt des Dadaismus. (..) Und das führte dann zur Street-Parade und zur Techno-Szene. Deshalb ist Zürich dann auch zur grossen Techno-Stadt geworden. Das ist eine direkte Linie, aus dieser Bewegung heraus und diesem Versuch, im Untergrund Freiräume zu finden. (..) Das hat dazu geführt, dass Zürich so eine Partystadt geworden ist mit all ihren auch schrecklichen Abgründen der Drogenszene.»
Zur Frage, ob von Zürich etwas ausgegangen sei, was die internationale Kunst- und Kulturwelt beeinflusst habe, sagt Curiger: «Anfangs Nullerjahre kam ein sehr prominenter Kunstkritiker in New York auf mich zu und sagte: ‘Warum hat diese kleine Schweiz so viele gute Künstler?‘. Das muss mir ein New Yorker sagen, aber in der Schweiz hat man das gar nie besonders wahrgenommen. (..) Man muss natürlich sehen, dass diese Generation mit Fischli-Weiss, Pipilotti Rist auch Markus Raetz, die erste Generation ist, die nicht hat emigrieren müssen, um international eine Karriere aufzubauen», im Gegensatz zu Giacometti, Tinguely oder Meret Oppenheim.
Zweifel erwähnt dazu Christoph Marthaler, der seine Karriere in Zürich mit seinem Zirkus auf dem Lindenhof startete und «dann das Theater in Berlin absolut revolutioniert» habe, und nennt weitere Künstler wie Urs Fischer als einen der bedeutendsten Gegenwartskünstler, der in NY lebt: «Das sind schon extreme Raketen (..), man nimmt (in NY oder Hamburg) nicht unbedingt wahr, dass die von hier kommen. Aber wenn da jemand genauer hinschaut, dann sieht er schon, dass hier eine Kaktus-Explosion stattgefunden hat." -
640 Millionen Inder und Inderinnen haben gewählt, zwei Drittel aller Wahlberechtigten. Für Pradnya Bivalkar der Robert Bosch Academy war das Resultat „eine extrem positive Ueberraschung. (..) Das Wahlergebnis ist auch dahingehend super im Sinne der Checks and Balances, weil das in den letzten zwei Legislaturen komplett gefehlt hat.“ – Manuel Vermeer vom Ostasieninstitut der Hochschule Ludwigshafen urteilt differenzierter: „Das kann nur gut sein für die indische Demokratie aus indischer Sicht. Aus der deutschen oder chinesischen Sicht (..), wenn ich das wirtschaftlich betrachte, wäre ein noch mächtigerer Modi sogar besser gewesen, weil er Infrastrukturprojekte, Digitalisierung, Reform des Rechtswesens, alles was ansteht, schneller und einfacher hätte durchsetzen können“. Aber als „halber Inder“ sei er „sehr froh darüber, dass Modi das nicht einfach kann, weil er doch sehr autokratische Züge in das ganze System gebracht hat“.
Bivalkar argumentiert, Modi und seine Partei haben Probleme mit ihrem Projekt, „eine hinduistische Identität zu konstruieren. (..) Da gibt es sehr starke regionale Parteien mit sehr starkem regionalen Identitätsverständnis.“ Der Ausgang der Wahlen sei „auch eine Anmahnung an die Regierung, sich stärker um das Wohlbefinden der Bauern zu kümmern und um die hohe Arbeitslosigkeit. (..) Wenn die Politik versagt, (..) auf die sehr existentiellen Fragen einer sehr jungen Bevölkerung zu agieren, dann Hinduismus hin oder her, da geht es um etwas ganz Wesentliches, das war ein Element des grossen Misskalküls“ von Modi.
Für Vermeer gibt es den Hinduismus gar nicht. Das sei eine Wortschöpfung der Briten: „Alles was die Briten nicht verstehen und woran diese komischen Inder glauben, das nennen wir jetzt mal Hindu-Ism. Eigentlich haben sie ‘ism‘ an Hindu angehängt und damit alles subsumiert, was sie nicht verstanden. Es gibt keine Religion, die Hinduismus heisst (..) Es ist eine Mischung aus ganz vielen religiösen Strömungen. Man muss Indien viel heterogener betrachten, als dass wir das hier tun, es ist 10mal so gross wie Deutschland.“
Was Modi wirtschaftlich „in den letzten 10 Jahren erreicht hat, ist, dass er Indien einfach wieder auf die Weltkarte gebracht hat. (..) Jetzt ist die Frage nur noch, ist das jetzt die indische Dekade oder wird das jetzt das indische Jahrhundert. Die Frage ist nicht, wird Indien eine Weltmacht, sondern die Frage ist nur noch, wie lange dauert’s“.
Aber um China einzuholen, braucht Indien ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum. Dafür reichen, so Vermeer, nicht einmal jährlich sechs Prozent. „Indien muss noch viel stärker wachsen, um vor allem die Jugendarbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen, es muss in den nächsten Jahren 100 Millionen Jobs schaffen (..) Es muss die Jugend bilden. (..) In Indien leben immer noch zwei Drittel der Menschen in der Landwirtschaft und ein Drittel in den Städten, in China ist es andersrum. (..) In der Landwirtschaft sind die Menschen extrem schlecht bezahlt. (..) Wenn ich 500 Mio. Menschen habe unter 25, dann kann das ein grosses Asset sein, wenn ich sie schule, bilde. Aber es ist auch eine Belastung, wenn ich sie nicht bilde. Und das ist der Fall heute. Wir haben Hunderte von Millionen Menschen, die können nicht lesen und schreiben“.
Wird sich Indien zur globalen Weltmacht entwickeln? Vermeer traut Modi das zu: „Wenn’s einer kann, dann ist Modi sicher derjenige, der Indien auf die richtige Spur setzen kann. Er hat es zehn Jahre lang getan, das haben wir gesehen bei der Digitalisierung, bei der Mehrwertsteuer, die er für ganz Indien endlich vereinheitlicht hat, gegen grosse Widerstände - ein Kraftakt.“ Aber um Weltmacht zu werden, müsste sich Indien "entsprechend aufstellen, militärisch, politisch, wirtschaftlich. Und da ist noch ein grosser Weg.“ -
Der Grüne Reinhard Bütikofer, der heute seine dritte Amtszeit im Europäischen Parlament beendet, argumentiert: „Vor fünf Jahren hatten wir (..) überall in Europa eine Hochkonjunktur der politischen Diskussion über Klimapolitik. Damals hatte ‚Fridays for Future“ unglaublich viele, gerade auch junge Leute mobilisiert. (..). Das hat sich geändert. (..) Es liegt daran, dass (..) der Gestaltungsoptimismus, den wir vor fünf Jahren hatten, (..) unter dem Druck der Pandemie und des russischen Aggressionskrieges zerbröselt ist. (..) Sicherheit ist wesentlich zentraler als irgendein Denken über Aufbruch geworden.“ Heute gehe es um die Frage, „ob in den nächsten fünf Jahren das Programm heisst: European Green Deal abzufracken oder weiterzuentwickeln und zu verbinden mit einer aktiven Industriepolitik.“
Für Chantal Kopf, die für die Grünen im Bundestag ist, gebe es „wenige politische Führungsfiguren, die in Europa die Orientierung bieten, wie kommen wir eigentlich aus den Krisen heraus in eine bessere Zukunft.“ (..) Sie sei aber insgesamt erleichtert gewesen, „dass der Rechtsrutsch im EP nicht so massiv ausgefallen ist, wie viele befürchtet hatten.“
Für Bütikofer waren die Fehler der Politik und insbesondere der Grünen, erstens „dass Deutschland zu sehr immer noch glaubt, wir lösen das deutsch.“ Dabei gehe es darum, „mit allen darum zu kämpfen, dass wir es europäisch hinkriegen. Zweitens: (..) Wir können nicht siegen, wenn der Eindruck entsteht, die Ökologie sei irgendwie der Feind der Freiheit, dann blockts (..). Der Dritte Fehler ist, wenn du glaubst, das ökologische Denken habe schon die Vorherrschaft erobert. (.. Wenn aber) das nicht der Fall ist (..), dann musst du darüber reden, dass ökologische Politik für wirtschaftliche Innovation gut ist, für soziale Stabilität, für nationale Unabhängigkeit“.
Dazu Kopf: „Wir waren da in der Gesellschaft schon weiter, wenn wir glaubten, dass Klimapolitik und Wirtschaftspolitik in die gleiche Richtung laufen. (..) Dass das aber sehr fragil war, zeigt sich jetzt“, wenn der Gewerkschaftsbund sage:„Klimapolitik gefährdet Arbeitsplätze und überfordert die Gesellschaft“.
„Im Europäischen Parlament“ gebe es, so Bütikofer weiter, „keine progressive Mehrheit mehr (..) Wir müssen, wenn wir etwas gestalten wollen, einen Weg mit der Europäischen Volkspartei finden. Umgekehrt kann die EVP hypothetisch sagen, dann drehen wir uns nach rechts (..). Aber der Preis, den sie dafür zahlen müsste, ist unglaublich hoch, sie würden ihre Seele verkaufen. Deshalb besteht unter dem antidemokratischen Druck von rechts eine Chance, dass die demokratischen Fraktionen Kooperationsmöglichkeiten finden.“
Kann das neue Parlament den Rechtsstaat sichern ? Dazu Bütikofer: „Wir haben da lange Jahre den falschen Baum angebellt. (..) Es kann nicht funktionieren, dass man im Rat sagt: Kommission und Parlament kümmert ihr euch mal um Rechtsstaatlichkeit, und wir als Merkel-Regierung oder wer auch immer kuscheln mit Herrn Orban auf der Ratsebene. Und in dem Moment, wo der Rat angefangen hat, dem Orban zu sagen, wir meinen es ernst, änderte sich da was. Den Kampf um Rechtsstaatlichkeit kann man nicht nach Brüssel wegdelegieren.“
Was sind die Lehren für die Grüne Partei ? Diese brauche, so Kopf „ganz dringend ein Angebot für junge Wähler und Wählerinnnen, (..weil) die Prioritäten sich verschoben haben und das Thema Sicherheit (..) für junge Menschen ein wichtiger Teil ihres Alltags ist“. Und Bütikofer: Wir „haben Leute vor den Kopf gestoßen (..) bei den Jungwählern, wo wir zwei von drei Stimmen verloren haben, (..) wo die Leute den Eindruck hatten, die wollen uns in eine Klimazukunft pressen, die wir gar nicht wollen. (..) Wann waren wir zum letzten Mal richtig stark in der öffentlichen Meinung: Als wir fröhlich, einladend, pragmatisch und engagiert rübergekommen sind. Und was ist im Moment das Image, das uns schwächt, dass wir binnenfixiert, verbissen und ideologisch sind.“ -
Dietmar Bartsch, der ehemalige Fraktionsvorsitzende der Partei Die LINKE, sieht „vor allem die grosse Gefahr, nachdem wir 16 Jahre lang eine Regierung unter Angela Merkel hatten und es danach eine grosse Hoffnung gab, (..dass ) jetzt die Enttäuschung durch die Politik der Ampel so gross wird, dass wir den eigentlichen Ruck in der Gesellschaft nach rechts erst haben werden. (..) Die Tatsache, dass die Agenda 2010 letztlich von einem sozialdemokratischen Kanzler durchgesetzt worden ist, (auch) das wirkt nach, und dass heute eine Kindergrundsicherung nicht gemacht wird, dass der Wohnungsbau nicht funktioniert, das nutzen die andern natürlich. (..) Es gibt inzwischen immer mehr Leute, die abgeschlossen haben, die damit nichts zu tun haben wollen, gar nichts mehr, weil Politik für sie unglaubwürdig ist. (..) Und da gibt es natürlich auch Ursachen, die bei uns liegen (..) Eine starke Rechte ist das Versagen der Linken. (..) Eine Ursache ist sicherlich die, dass wir ja über lange Zeit eine lähmende Selbstbeschäftigung in der Linken hatten”.
Sarah Lee Heinrich, bis vor kurzem Sprecherin der Grünen Jugend, war “hautnah dran, wie die Ampel zustande gekommen ist (..), wie Stück für Stück alles Progressive oder Fortschrittliche, was sich die Ampel vorgenommen hatte, entweder nicht umgesetzt wurde, weil kein Geld da war, oder nicht mehr umgesetzt werde konnten, weil die gesellschaftliche Mehrheit am Bröckeln war im Rahmen des Rechtsrucks, (.. weil) sich die Ampel entschieden hat, die soziale Frage von Anfang an auszuklammern (..). Ich finde es total frustrierend, mir anzuschauen, wie Ampelpolitiker sagen: ‘Boah-puh, wir müssen jetzt hier für die Demokratie einstehen, während ich ihnen unterstellen würde, dass mit der Politik, die sie betreiben, sie den Nährboden dafür schaffen, dass es die Rechten gerade so einfach haben.”
Bartsch: “Mir scheint, dass der furchtbare Angriffskrieg Putins dann als Begründung genommen wurde, dass dann im Glauben, dass der Mainstream ein anderer ist, Politik verändert wurde. Und das haben dann eigentlich alle mitgemacht. Und das eigentliche Problem ist dann, (..) dass diejenigen, die dann im Regierungshandeln sind, eigentlich alles mittragen. (..) Wenn du harte fortschrittliche Politik machst (..), dann wirst du nicht mehr wiedergewählt. (..) Natürlich haben die Schwächeren keine Lobbies (..zB) das Thema Kinderarmut (..), die Lobby dort ist nicht so sehr gross”.
Dem hält Heinrich entgegen: “Wir Linken können doch vor der Tatsache, dass es gerade keine Lobby gibt, auch nicht kapitulieren, sondern wir müssen dafür sorgen, dass es sie dann gibt (..) und ich glaube schon, dass es den Grünen und der SPD gut ins Gesicht gestanden hätte, bevor der letzte Haushalt beschlossen wurde und die Entscheidung war, Kürzung oder Schuldenbremse, (..) ich glaube vielleicht schon, dass das zB mit Gewerkschaften im Rücken eskalierbar gewesen wäre“.
„Das was ich wichtig finde“, so Heinrich weiter, „ist eigentlich, bei der kleinsten Einheit die man hat, anzufangen, nämlich ganz konkret vor Ort, und vor Ort erstmal wieder zu schaffen, als Linke Fuß und Vertrauen in der eigenen Umgebung (..) zu fassen. (..) Gute Freunde in Österreich, nämlich die KPÖ, (..) haben es geschafft, in ärmeren Bezirken (..) richtig hohe Zustimmungswerte für linke Politik zu erzielen, (..) weil sie Leuten jahrelang gezeigt haben, wir sind nicht nur für euch da, wir setzen uns auch gemeinsam mit euch für eure Interessen ein, wenn dieser Vermieter versucht, euch rauszuwerfen, dann werden wir gemeinsam dagegen vorgehen, da gibt es so ne Vertrauensbildung. (..) ganz praktisch, täglich, wöchentlich miteinander zu arbeiten und gemeinsam positive Erfahrungen zu sammeln.“ -
Patienten könnten als verantwortungsvolle Menschen mit maximal möglicher Information gemeinsam mit ihren Ärztinnen und Ärzten über ihre Behandlung entscheiden, anstatt wie so oft von „Göttern in Weiß“ in einer hierarchischen Abhängigkeit als entmündigte Objekte behandelt zu werden. Dieser Reformansatz „gemeinsamer Entscheidungen“ verspricht nicht nur bessere Behandlungsresultate, sondern könnte auch substanzielle Einsparungen in den gesamten Gesundheitskosten ermöglichen. „Die zentrale Idee dahinter“, so der habilitierte Onkologe Jens-Ulrich Rüffer, der sich seit 20 Jahren ausschließlich für diese Reform einsetzt, „ist, dass das Gesundheitssystem versucht, alle möglichen Ressourcen zu nutzen, die wichtigste aber außer Acht lässt: Patientin und Patient.“
Die Krebsforscherin Cindy Körner wurde von der eigenen Brustkrebsdiagnose „von einer Sekunde auf die andere aus meinem irrationalen Optimismus rausgerissen. (.. Ich wurde) so in einer Beifahrerposition auf einen Höllenritt befördert, dass ich das Gefühl hatte, ich kann gar nichts mehr tun (..) Das war für mich eine ganz fürchterliche Erfahrung.“ In der Onkologie gebe es die Tumorboards, von denen der Patient lediglich den „Tumorboard-Beschluss präsentiert bekommt (..), aber die Patientenperspektive ist in diesem Beschluss gar nicht vorhanden.“
Körner erzählt von ihrer Großmutter, „die mit 92 eine Brustkrebs-Diagnose bekommen hat“ und mit „der ersten Aussage in der Klinik konfrontiert war: ‚Das müssen wir jetzt operieren‘, und da sagte ich, das müssen wir jetzt nicht operieren, sie möchte nicht operiert werden. Da kam nochmals: ‘Laut Leitlinien müssen wir das jetzt operieren‘. Schließlich haben wir im Dialog (..) eine gute Lösung gefunden. Sie hat dann eine Antihormontherapie bekommen. Sie hatte eine sehr gute Lebensqualität und war sehr erleichtert.“
Das Prinzip gelte aber, so Rüffer, nicht nur für die Onkologie, sondern „das muss auf alle Bereiche umgesetzt werden (..) von der Augenklinik bis zur Zahnklinik, das ist in jeder Situation möglich. (..) Zu den Sparmöglichkeiten ist Rüffer „absolut davon überzeugt, dass wir wirklich ca 10% einsparen (..) wenn man alles zusammennimmt, geben wir in Deutschland mindestens 1,2 oder 1,3 Milliarden pro Tag aus für Gesundheit. (..) Wir machen Menschen kompetent für ihre Erkrankung, sie verstehen, was habe ich und was kann aber passieren. (..) Deswegen haben wir die Hauptkosten gespart, weil wir 10% weniger Notfalleinweisungen haben, weil die Menschen verstanden haben, was sie haben. (..) Wir gehen auch davon aus, dass zB Herzkatheder, dass zB Knieoperationen, Hüftoperationen geringer werden, wenn die Menschen wüssten, dass sie erstmal mit anderen Mitteln das Gleiche erreichen könnten. Es gibt aktuell eine Auswertung, die zeigt, dass bei Herzkathetern (..) ein Drittel dieser Eingriffe in Deutschland passiert, ohne dass die Patienten irgendein Symptom haben.“
Das gleiche erzählt Körner über ihre Großmutter: „Da wurde natürlich die OP gespart (..) Zusätzlich wurde uns dann noch ‚nach Leitlinie‘ gesagt, wir müssen ein CT von der Lunge, von der Leber und ein Knochenszintigramm machen, um Metastasen zu suchen. Dann habe ich das in Frage gestellt und gefragt: ‘Was machen wir dann mit dieser Information?‘. Dann wurde mir gesagt: ‘Dann können wir einschätzen, ob sie vielleicht demnächst gesundheitliche Probleme bekommt‘. Dann habe ich gesagt: ‘Sie ist 92, ja vielleicht bekommt sie demnächst gesundheitliche Probleme‘. Dann haben wir uns auch dagegen entschieden.“
Rüffer: „Wir haben in Deutschland zu viele alte weiße Männer, und ich gehöre auch dazu, und das sind die, die überhaupt nichts verändern wollen. (..) Und wenn wir da nicht eine Allianz mit den Patient-Innen hinbekommen, (..und) wenn wir uns vorstellen, dass die Patientenvertretungen das genauso einschätzen wie ich, dann haben wir nicht nur den Spareffekt, sondern wir haben deutlich besser aufgeklärte Patienten.“ -
Der Makrosoziologe Steffen Mau zur Frage, ob alle Bemühungen, den Einfluss der AfD einzudämmen, gescheitert seien: “Wenn man die Umfragezahlen anschaut, dann würde ich schon sagen, das ist schiefgegangen. (..). – Zur Erklärung bestätigt die Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckart Maus These der “Triggerpunkte, (nämlich dass über) bestimmte Themen, die die AfD häufig herausgezogen hat (..), die Gesellschaft angefangen hat, sich aufzuregen wie auch bestimmte Teile der Politik und (..dass) eine Themenverschiebung stattgefunden hat und Themen riesengroß gemacht worden sind wie die geschlechtersensible Sprache. (..) Jetzt auf einmal müssen sich alle damit beschäftigen. Wo sind wir hier eigentlich? Haben wir nicht andere Probleme?”
“Es gibt aber auch eine Gesellschaft die dafür empfänglich ist", so Mau weiter, "und das hat damit zu tun, dass (..) Teile der Gesellschaft veränderungserschöpft (sind ..). Viele Leute (haben) das Gefühl, dass sie, wenn es um sozialen Wandel geht, nicht am Steuerrad sitzen. (..) Von daher kommt auch häufig der Vorwurf der Bevormundung: ‚Die da oben‘. (..) Diese Veränderungserschöpfung ist eben auch sozialstrukturell, je weiter man unten ist, desto grösser ist die Erschöpfung“. Dabei zeige sich, „dass die Parteien selber die Fähigkeit, zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus und Gruppen zu vermitteln, verloren haben. (..) Die Parteien (sind) eigentlich zu schwach (..) um sich dem (Rechtspopulismus) entgegenzustellen. Aber es gibt eine Zivilgesellschaft, die sich mobilisieren lässt.“
Göring-Eckart glaubt, “dass der Rechtspopulismus und der Rechtsextremismus nicht nur auf Krisen reagieren, sondern sie sind auch Teil der Krise. Deshalb können wir nicht warten und hoffen, bis es vorbeigeht, (..) sondern wir müssen jetzt etwas tun. Das, was wir politisch tun müssen, das ist die Räume nicht lassen. (..) Was ich ganz oft tue, nämlich rausgehen und mit den Leuten reden, (hat) eine extrem grosse Wirkung erzeugt. (..) Allein die Tatsache, dass man wirklich da ist und sich wirklich Zeit nimmt (..) das macht was aus, (..) Wir neigen als Politiker und Politikerinnen dazu, den Lauten mehr zuzuhören, als denen, die wirklich ein Problem artikulieren. (..) Entscheidend ist, (..) dass man auch entlarvt, was die AfD mitunter ja tut, (..) dass sie sich irgendein Thema nehmen, ‘ach, das wollen Leute‘ (..) und darunter wird dann die knallharte rechtsradikale Ideologie versteckt. (..) Wir müssen mit denjenigen, die offen sind für rechtsradikale Parolen, im Gespräch bleiben. (.. Aber) der Versuch, die AfD zu entzaubern, der scheitert regelässig (..), weil das natürlich auch die Demokraten zwingt, in Kompromisse zu gehen, die sie nicht haben wollen, weil sie (..) mit den Rechtsextremen paktieren würden und das ist noch nie gut gegangen“.
Zu einem Verbotsverfahren gegen die AfD meint Göring-Eckart: „Die Verfassungsorgane müssen das beantragen und entscheiden (..) Ich bin Mitglied eines Verfassungsorgans, dh meine Aufgabe ist es, (..) die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu schützen. (..) Da kann ich nicht sagen, es könnte blöd aussehen, deswegen interessiert mich das jetzt nicht (..) ich muss wollen, dass es geprüft wird (..) und dann wird man entscheiden."
Mau bleibt optimistisch: „Dieses Potential von Leuten mit geschlossenen rechten Weltbildern (..) das ist nicht unbegrenzt, also das Wachstum wird nicht einfach so linear weitergehen (..) und es wird an bestimmten Stellen auch eine Entzauberung geben (..) es wird keine Partei sein, die in den nächsten 5-10 Jahren auf 30% wächst”. Trotzdem glaubt Göring-Eckart, dass „die demokratischen Parteien gut daran tun, sich auf diesen Grundkonsens zu einigen, dass die Demokratie zu schützen ist und dass es nicht Ausfälle gibt in die Populismusecke auch von Mitgliedern demokratischer Parteien (..) Auch (gilt es) zu unterscheiden, was ist Populismus und was ist Emotionalität“. -
„Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen“ (Max Frisch) und als die Schweiz in der Krise der 70er Jahre diese Arbeitskräfte nicht mehr brauchte, schickte sie über 300‘000 von ihnen wieder zurück.
Der Filmemacher Samir Jamaladdin, der 24 Jahre auf seine Einbürgerung hat warten müssen, „wurde durch die Umstände radikalisiert: Ich hasste dieses Land so sehr, dass ich am Schluss gar keine Lust mehr hatte, Schweizer zu werden.“ Später wurde er aber durch einen „Verwaltungsakt glücklicherweise Schweizer und heute bin ich tatsächlich glücklicher Schweizer“. – Die für die schweizerische Migrationspolitik zuständige Staatssekretärin Christine Schraner-Burgener, die ihre Kindheit in Tokio verbrachte, hat „als Ausländerin in einem fremden Land selbst die Erfahrung gemacht, wie man sich fühlt (..) und ich bin dann mit 10 Jahren in die Schweiz gekommen und habe mich fremd gefühlt“.
Entscheidet die Migrationspolitik über die Zukunft des Rechtsstaates, wenn Rechtspopulisten die Zuwanderung zu ihrem zentralen Anliegen machen? – Gemäss Samir gehe der Rechtsstaat schon längst „in eine Richtung (..), das grundlegende Menschenrecht zu beschädigen.“ Das sei „eine langfristige Geschichte, die schon seit 70 Jahren andauert. (..) Die Leute, die wir eingebürgert haben, können wir auch wieder ausbürgern. Das widerspricht grundsätzlich der Idee, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben. (..) Seit den 60er Jahren bis jetzt“ gehe das „eher in eine Richtung der Verschärfung. (..) In der Realität sind die Gesetze, die wir jetzt haben, schärfer als damals, als ich eingebürgert worden bin. (..) Diese Idee, eine Arbeitskraft ist eine Arbeitskraft und eben kein Mensch, die ist eigentlich schon tief, tief drinnen in der DNA der Administration, der Gesetzgebung.”
Christine Schraner sieht hingegen im politischen Umgang mit der Zuwanderung und insbesondere mit der Flüchtlingsfrage „eine enorme Verbesserung. (..) Mit der Integration haben wir enorme Fortschritte gemacht. Seit 2014 haben wir Integrationsprogramme.” Sie weist darauf hin, dass die schweizerische Flüchtlingspolitik besser funktioniere als in Deutschland, weil die Asylentscheide „viel rascher“ erfolgen. “Da haben wir mit acht Ländern eine Migrationspartnerschaft (..) und 65 Rückübernahmeabkommen, das heisst, es funktioniert wirklich sehr gut. (..) Wir haben eine sehr hohe Schutzquote von etwa 60%. Das heisst es kommen eher die, die wirklich Schutz bekommen.“ Bezüglich der abgelehnten AsylantragstellerInnen „konnten wir vorletztes Jahr 57% zurückführen“, das sei „ungefähr dreimal mehr als der europäische Durschnitt. (..) Ohne Ukrainekrieg hätten wir auch die Migrationsbewegungen besser meistern können. (Mit der) Kombination von 75‘000 UkrainerInnen, die in einem Jahr kamen, plus noch 25‘000 Asylgesuchstellende, musste ich Platz finden für 100‘000 Personen. Im Jahr zuvor hatten wir 14‘000 Asylgesuche.“
Samir widerspricht mit den Erfahrungen aus seinem Bekanntenkreis: “In der Realität sieht das für mich ganz anders aus. In der Realität kenne ich Leute aus Afghanistan, die auch nach Jahrzehnten immer noch nicht wissen, hin und zurück?”, ohne offiziell arbeiten zu dürfen. Er führt das Gespräch zurück auf die zentrale Frage des gesellschaftlichen Selbstverständnisses. Seit Jahrzehnten sei „der Begriff ‘Überfremdung’ immer wiederholt und immer wieder verwendet“ worden. „Kanada, die USA, Neuseeland und Australien hätten sich schon immer „als Einwanderungsgesellschaften“ gesehen, das sei „der entscheidende Unterschied zwischen uns und diesen Staaten. (..) Die offizielle Schweiz muss die Terminologie ändern. Erst wenn wir es geschafft haben, dass wir sagen, ja wir sind eine Migrationsgesellschaft und das ist gut so. So wie das Wowereit”, der homosexuelle Bürgermeister von Berlin bei seinem coming-out “gesagt hat: Und das ist gut so.”. Dem stimmt Christine Schraner zu: “Ja, das ist gut so”. -
Wie hat das Buch die Pandemie überstanden? Dazu der Verleger Jonathan Beck: „Da waren die Ängste erstmals gross, (..) aber am Ende haben wir vielleicht nicht unsere Systemrelevanz, (..) aber unsere Resilienz bewiesen.“ – Die Schriftstellerin und TV-Literatur-Moderatorin Laura de Weck ergänzt: „Die Leute lesen mehr, die Buchhandlungen (..), die kamen mit ach und krach durch“, aber für sie waren danach „die Auswirkungen viel stärker (..) Die Leute (..) gehen nicht mehr in die Buchhandlungen rein, oder dass sie sich gewöhnt haben, online einzukaufen (..) Aber gleichzeitig ist während Corona etwas entstanden, nämlich die Buch-Communities auf den Sozialen Medien (..), riesige Communities. (..) Man möchte den Austausch mit Menschen, und über Bücher ist das eben möglich.“ De Weck zitiert dazu den Schweizer Autor Peter Bichsel: „Wenn er zwei Menschen sehe, die sich küssen, dann denke er immer, ach, die haben bestimmt das gleiche Buch gelesen.“ Durch die Book-Tok-Bewegung, so de Weck weiter „haben das so viele Stars auch aufgenommen. (..) Da sind Millionen Verkäufe, die über diese neuen Communities laufen. (..) 2022 wurden so viele gedruckte Bücher verkauft, wie noch nie an die Generation Z“.
Was bewirkt die Zeitenwende, verstärken Krieg und Krisen den Bedarf an Orientierung? Dazu Beck: „Schreckliche Dinge passieren auf der Welt, aber wir als Verlag haben noch profitiert, weil wir dann sehr oft Bücher dazu im Programm hatten (..) In dieser Hinsicht waren wir als Verlag öfters ein Krisen- und Kriegsgewinnler“.
De Weck erzählt, wie sehr sie von der ukrainischen Schriftstellerin Tanja Maljartschuk beeindruckt war, die nach Beginn des Ukrainekriegs in Klagenfurt sagte, „dass sie eigentlich ihr Vertrauen in die Literatur, in die Sprache verloren hat, (..) weil sie gedacht hatte je mehr Bücher es gibt, je mehr die Menschen lesen, desto humanistischer wird eine Gesellschaft (..) Sie erwähnte aber auch, dass die Literatur Rettung sein kann für einzelne (..) und erzählte, dass in der Ukraine so viele Bücher, gelesen, geschrieben und gedruckt werden wie noch nie“.
Schreiben Frauen für Frauen und Männer über die Welt oder ist die Literatur generell weiblicher geworden? – De Weck: „Sie ist definitiv weiblicher geworden, (..) weil es viele Frauen in der Literaturbranche gibt“. Das sei aber so, „weil die Branche so schlecht bezahlt.“ Aber man sehe “in allen Verlagsprogrammen, dass es deutlich mehr Autorinnen gibt, und dass (..) Frauen eben nicht (nur) für Frauen schreiben.“
Ist die Literatur von ausserhalb des Westens wichtiger geworden? De Weck: „Es ist ja Realität, dass Menschen im globalen Süden immer geschrieben haben und schreiben werden. Die Frage ist, ob man sich dafür interessiert (..) Das sind einfach komplett neue Geschichten, die uns erzählt werden. (..) weil wir alle ein bisschen satt geworden sind von den immer gleichen Erzählungen. (..) Die Geschichte eines Mannes in der Midlife-Crisis, der seine Frau betrügt, ich kann sowas nicht mehr lesen. (..) Wir haben einfach einen Hunger nach neuen Erzählungen (..) Mbougar Sarr, wie er da nach Frankreich aus dem Senegal gekommen ist. Das sind völlig verrückte für mich neue Erzählungen“.
Lösen die Sozialen Medien die etablierte Literaturkritik, die früheren Literaturpäpste ab? Jonathan Beck: „Es gibt nicht mehr die Personen, die dann die ganze Republik zusammenbringen und sagen, das solltet ihr euch anschauen (..) Dass einzelne Romane“ in der Saison zu Büchern wurden, „worüber alle gesprochen haben, das ist weg“. - Den Einfluss der Sozialen Medien sieht Laura de Weck „definitiv als Demokratisierung, wie man über Bücher spricht. (..) Viele Feuilletonisten sagten (..) das ist objektiv schlechte oder gute Literatur aus vermeintlichen Kriterien, die für alle Texte gelten (..) Das ist eben auf den Sozialen Medien genau umgekehrt“, die Leute wollen „explizit eine subjektive Meinung.“ -
Die frühere deutsche Botschafterin in den USA Emily Haber sagt über Trump: „Ich habe einen Präsidenten und eine Administration erlebt, die sehr stark bilateral dachten, (.. und) Unzusammenhängendes miteinander in Verbindung brachten (..), um Macht zu hebeln. (..) Zugang war nicht das Problem, aber die Halbwertzeit von Zusagen war ein Problem“. Trump habe „sich sehr oft davon leiten (lassen..), wie sich ein Land oder dessen Regierung zu ihm persönlich verhielt“.
Der USA-Spezialist und Buchautor Josef Braml sieht in Trump „nur ein Indiz der sehr viel tiefer liegenden Probleme (..) Die amerikanische Demokratie war vorher schon defekt, sonst hätte einer wie Trump gar nicht erst Präsident werden können. (..) Wir machen uns noch kein Bild, wie seine zweite Amtszeit aussehen würde. Dann sitzen nämlich die Erwachsenen nicht mehr im Raum (..) Er hat nämlich schon dafür vorgesorgt, dass das nächste Mal, nur noch Leute um ihn rum sind, die nicht meinen, dass sie einen Eid auf die Verfassung geschworen haben, sondern seinen Ring geküsst haben, (..) die ihm treu und loyal ergeben sind.“
Überlebt der Rechtsstaat unter Trump? – Braml: „Trump hat drei Richter nominiert (..) die dem Präsidenten mehr Entscheidungsfreiheit auch gegenüber dem Kongress geben würden (.. und) ihm durchaus auch die Möglichkeit gäben, alle möglichen Leute zu feuern, sogar die Joint Chiefs of Staff, die höchsten Militärs, die uns damals wirklich von Schlimmerem behütet haben. (..) Checks and Balances haben während Trump überhaupt nicht funktioniert (..) Es war dann noch der Supreme Court, der uns vor dem einen oder andern bewahrt hat. Aber nachdem er ihn selbst verändert hat, (..) wäre es dann doch fraglich, ob diese Kontrollinstanz noch so scharf greift wie bisher.“
Zu Bidens Chinapolitik meint Haber: „Da sagen Sie, das sei die Fortsetzung und Verschärfung der Trumpschen Weges, (..) die stetige Ausdehnung besonders im Technologiebereich und der Exportkontrollen und der Investitionskontrollen, ja, das ist alles verschärft worden. Es ist auch richtig, dass in der Biden-Administration Sicherheitsüberlegungen immer weiter definiert werden. Aber trotzdem dürfen Sie nicht übersehen, dass anders als in der Zeit von Trump, diese Administration das Verhältnis zu China gegenwärtig sehr gut und sehr leise managet.“
Da widerspricht Braml, „dass das vielleicht nicht hochkochen könnte bei Trump, aber bei Biden. (.. Dieser) hat nämlich viermal gesagt, dass er Taiwan verteidigen würde, was absolut brandgefährlich ist“. - Haber sieht darin Bidens Strategie der Ambiguität. „Bei Trump würden wir eine bizarre Kombination aus Rückzug und Eskalation sehen, das ist auch gefährlich. So wie Biden jetzt agiert, ist das Verhältnis berechenbarer (..), als unter einem etwaigen Präsident Trump“. - Braml hingegen sieht die Gefahr, „dass wir da in eine militärische Konfrontation mit China hineinschlittern. (..). Und man hat jetzt einen Kalten Krieg vom Zaun gebrochen, (.. der) vor allem zuungunsten unserer Wirtschaft ausfallen kann“. - Dem hält Haber entgegen: „Trump wird versuchen, in der China Politik Europa zu fragmentieren, einzelne europäische Nationen herauszugreifen, um die Spaltung voranzutreiben, und maximalistische Positionen mit einer Gruppe von europäischen Staaten durchzusetzen“
„Anders als Herr Braml sehe ich einen substantiellen Unterschied darin, ob wir es mit einem Präsidenten zu tun haben, der multilateral agiert, Interessensausgleich versteht, auf Verbündete Rücksicht nimmt und ganz anders konsultiert als ein Präsident Trump“ – Dem hält Braml entgegen: „Ich sehe, dass Biden uns da mächtig an die Kandare nimmt. Was mich umtreibt, und nicht erst seit Trump wiederkommt: Ich habe immer noch die Hoffnung, dass das eine oder andere umgesetzt werden kann, um Europa souveräner in dieser neuen Weltordnung aufzustellen (..) Wir müssen jetzt, wie man in Hamburg so schön sagt, ‚Butter bei die Fische machen‘“. -
Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck stellt klar, dass er „den apokalyptischen Grundton“ meines provokativen „Eingangsstatements so nicht teile. Wenn ich das höre, denke ich, was will ich, Selbstmord oder einen Führer. (..) Wenn man die Angst, wie es in Deutschland einige tun, zu einer Nationalkultur erhebt, dann ist Zukunft weit weg. (..) Ich musste über 70 werden, als ich zum ersten Mal mit Blick auf das Land das Wort Stolz in den Mund genommen habe, nicht Stolz, wie die Rechten sagen (..), sondern ich bin stolz auf DIESES so gewordene Deutschland, das sich aus diesem tiefsten Fall heraus zu einer beeindruckenden Form von Rechtsstaatlichkeit, von Rechtstreue der Bevölkerung, von Schaffung von Wohlstand… und von der Friedenspolitik, dass wir überall Freunde haben um uns herum, vom Abschied von preußischer Arroganz.“ - Ein stolzer Verfassungspatriot also? - „Ja und wir brauchen zu diesem Verfassungspatriotismus, der für intellektuelle Menschen ganz wesentlich ist, einen Raum. Tucholsky hat Heimat einmal so benannt: Es gibt Situationen, da sagst du DU zu dem Ort, wo du bist“.
Die Schriftstellerin Juli Zeh ergänzt: „Es sind nicht nur die Bäume und die Meere und die Felder, die dieses Gefühl, Du sagen zu können zu seinem Land, befördern, sondern es muss so eine Art stumme, ungeschriebene Vereinbarung noch dazu kommen, die eben nicht in der Verfassung niedergelegt ist (..) so in einer Art vorpolitischem Raum. Es gibt diesen tollen und ganz gruseligen Satz vom Verfassungsrichter Böckenförde: ‘Die Demokratie beruht auf Voraussetzungen, die sie selber nicht schaffen kann‘.( ..) Es ist so etwas wie eine stumme Einverständniserklärung, dass wir als Bürger dieses Landes ein sich selbst verwaltendes Kollektiv sind, das irgendwie zusammengehört. Und das ist so etwas wie der Punkt, an dem wir zurzeit spüren, (..) dass so eine Art Erosion einsetzt, dass viele Leute anfangen, sich un-beheimatet zu fühlen. Was darauf aber auf keinen Fall die Antwort sein kann, sind konkurrierende Apokalypseerzählungen (.. als) Versuch, sehr komplexe Dinge einfach zu machen. (..) Wenn ich eine Apokalypse habe, dann ist die Analyse fertig und dann ist auch die Frage, was muss sich denn tun, schon beantwortet: die Antwort ist dann: alles und um jeden Preis.“
Nach Gauck gehe es „um „Menschen, die Angst haben, nicht mehr beheimatet zu sein dort, wo sie leben. Dann entstehen Suchbewegungen (..) und dann geht es nach rechts außen und dort werden dann diese Ängste bewirtschaftet“. In „einer sich fortentwickelnden Moderne ist es eine Unbehaustheit dessen, der behaust sein will, der Verlust des Vertrauten. (..) Man hat zu wenig gearbeitet am ideellen Wert der Dinge und sich stark darauf verlassen, dass dieses Wachstumsversprechen genug Bindungswirkung und Strahlkraft hat.“
Gauck zitiert Wilhelm Busch: „‚Nur was wir glauben, wissen wir gewiss‘. (..) Das so zu erzählen, dass es eine persönliche wie politische Beheimatung bietet, das ist die Aufgabe derer, die die Zeiten zu deuten haben. - Dazu Zeh: „Was halt nicht gut ist, wenn man versucht, (..) diesen Glauben an genau dieses Wertefundament in gewisser Weise zu erzwingen oder zumindest zu befördern, indem man ihm eine Feinderzählung gegenübersetzt“. Es brauche „eine positive Erzählung, um den Menschen wieder klarzumachen: Kuck doch, wir sind doch eine Rechtsgemeinschaft und es gibt Bedrohungen, wir müssen uns zusammenschließen, wir müssen das verteidigen“.
Schließlich gehe es, so Juli Zeh weiter, darum, „uns zu erlauben, einfach mal zu sehen, was gut ist, die Zeitfenster grösser fassen, die humanistische Fortschrittserzählung, nicht die ökonomische, die sich nicht über 20, sondern über 200 oder 300 Jahre erstreckt: Es ist tatsächlich so, so Vieles besser geworden und es steht nirgendwo geschrieben, dass das jetzt an einen Endpunkt gelangt ist. Es ist ein narzisstischer Reflex zu sagen, wir sind aber die letzten, es kann nicht mehr besser werden als das, was wir waren“. -
Der Arbeitersohn Frank A. Meyer, Mitglied der Konzernleitung des Medienunternehmens Ringier, behauptet von sich selbst manchmal: „Ich bin der letzte Linke. (..) aber „was das Liberale betrifft: ich war Unternehmer und Sozialdemokrat“. Er hatte eine eigene sozial-liberale Partei gegründet, „die beides umfasst und das Liberale gehört bei mir auch dazu, das ist mein Reflex gegen das autoritäre Linke.“ – Dagegen wendet die TAZ-Journalistin Anna Lehmann ein, die sich selbst als Linke bezeichnet: „Das Liberale gehört auch zum Linkssein dazu. Es war ja der Fehler der Stalinisten (..), dass man das Liberale nicht mitdachte, dass man Freiheit oder Sozialismus sagte“.
Warum ist die Politik außerstande, die sozialen Anliegen der Mehrheit der Bevölkerung zu lösen, Mieten, Inflation, gekürzte Staatsleistungen? Lehmann kritisiert: „Die Regierung kriegt das nicht in den Griff“. Meyer sieht das Problem in der „ganz, ganz wesentlichen Entfremdung der ganz normalen Arbeitnehmer von den linken Gruppierungen, Parteien, Erweckungsbewegungen, damit rede ich von den Grünen, das ist religiös besetzt. (..) Es gibt eine akademische Schicht, die sich die Linke gekrallt hat.“
Dagegen Lehmann: „Ihre These ist, die Linke hat sich soweit von den Arbeitern entfernt, dass sie deren Anliegen gar nicht mehr vertritt. Ich würde sagen, es ist anders: Die Linke ist eigentlich nicht links genug. Zum Linkssein gehört für mich immer Kapitalismus-kritik. Wenn es darum geht, den Sozialstaat zu gestalten, dann geht es immer auch um Umverteilung und gerade das schafft die heutige Linke nicht. Sie schafft es nicht, Besitzstände anzutasten und das ist ihr Problem."
Es gebe zwar nicht mehr die Arbeiterklasse, so Lehmann weiter, „aber es gibt immer noch Ausbeutung (..) es gibt Leute die in Abhängigkeit leben und einen Job haben, der meist schlecht bezahlt ist (..), das würde man heute als prekarisierte Klasse nennen..“. Meyer fällt ihr ins Wort: „prekarisierte Klasse ? (..) Die ganze Sprache hat sich entfremdet, hat nichts mehr mit diesen Leuten zu tun.(..) Ich will gar keinen Diskurs, ich will Streit.“
Es sei an der Zeit, „in die Berufsbildung zu investieren. Von den 170 Genderlehrstühlen, mal 120 abschaffen und das Geld umschichten zu den Berufsschulen (..), das wäre linke Politik“. – Dagegen Lehmann: “das wäre keine linke Politik, das was Sie beschreiben wäre, zwei Anliegen gegeneinander auszuspielen Gendern gegen gute Bezahlung und eine Umverteilung (..) man muss beides machen“.
Meyer: "Sie haben das Wort ‘alleingelassen‘ gebraucht, das ist für mich ein typischer Begriff der deutschen Politik: ‘Wir lassen die Bürgerinnen und Bürger nicht allein‘, das ist das Problem!" - Lehmann räumt ein: „Ich gehe mit ihnen einig, dass der Staat nicht paternalistisch sein darf und dass das zum Teil in der SPD und in anderen Parteien so drinsteckt." – Meyer: „Die rechtspopulistischen Bewegungen bewirtschaften genau das, was ich ständig beklage, sie bewirtschaften die (..) politische Heimatlosigkeit der Menschen mit den Versprechen ‚Wir sind das Volk‘, mit voller Emotionalität und Erfolg, der alles, was wir erkämpft haben an Demokratie und an funktionierendem Sozialstaat zutiefst gefährdet.“
Was ist die Lösung? - Lehmann: „Es geht im Kern darum, dass man den Leuten das Gefühl geben muss, sie sind nicht auf den Sozialstaat angewiesen, sondern sie können von ihrer Hände Arbeit leben. Alles was getan wird, das Wohngeld zu erweitern oder den Kinderzuschlag zu erhören ist ja quasi ein Eingeständnis des Scheiterns. Die Leute verdienen eben nicht genug, damit sie ohne die Hilfe des Staates über die Runden kommen. (..) Die Politik darf die Menschen nicht so behandeln wie die Empfänger von Almosen“. -
Der frühere Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, Peter Maurer widerspricht meiner Behauptung, wir seien „in einer Welt aufgewachsen, da war sie noch in Ordnung (..) Die sogenannte internationale Ordnung, (..) hat einfach so nicht gespielt für ganz viele Leute, aber das wurde nicht zur Kenntnis genommen.“ Carolina Frischkopf, die designierte Direktorin des Hilfswerks der evangelischen Kirchen der Schweiz (HEKS) stimmt zu: „Es ist eine Welt in Unordnung, die immer in Unordnung war. (..) Bis jetzt hatten wir eine klare Ordnung, wer Macht hat, die Pax Americana. (…Die Amerikaner) haben die Weltordnung so nutzen können, wie es für sie gestimmt hat.(..) Wir hatten eine von Amerika dominierte Weltordnung, dort gelang es nicht, die wirtschaftliche Entwicklung für alle zugänglich zu machen. China hat das für China geschafft.“
„Was sich geändert hat", gemäss Maurer, "ist der Konsens, darüber, wer sich mit dieser Unordnung beschäftigen soll und kann. Die Leadership-Funktion der westlichen Welt ist in Frage gestellt. (..) Was nicht in Frage gestellt wird, sind die Zielvorstellungen, die sich Gesellschaften machen bezüglich Frieden, Respekt von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht. (..) Was abgelehnt wird, ist eine machtpolitische abgestützte Interpretation dieser Normen, aber nicht die Normen selbst. Und das ist ein grosser Unterschied. (..) Wir haben keine Akzeptanz der machtpolitischen Ordnung. Daher müssen Normen wieder neu verhandelt werden.“
Für Maurer gibt es ein Entwickungsparadox: „Es hat noch nie in der Geschichte der Menschheit so viele Leute gegeben, die gesund, wohlhabend, miteinander verbunden und ausgebildet waren. Und gleichzeitig hat es noch nie auf der Welt so viele Menschen gegeben, die ausgeschlossen sind von politischen Entscheidungsprozessen, die in Armut verharren, die die negativen Auswirkungen der Globalisierung auf sich vereinigen. Und beides stimmt. Und das ist eigentlich die Problematik, mit der sich das internationale System heute beschäftigen muss, (..) das von den fragilen Kontexten durcheinander gerüttelt wird (..): Klimawandel, strukturelle Armut, Korruption, Auswirkungen von Pandemien (..) So haben wir Orte auf der Welt, die praktisch nicht mehr regierbar sind und die ausserhalb des internationalen Systems sind. Das internationale System erlebt eine Delegitimierung, weil sich heute diese Leute auch melden, weil sie verbunden sind mit der Welt und sagen: Euer Diskurs stimmt nicht.“
"Es braucht einen fundamental anderen Ansatz, wie wir ein Hilfesystem aufbauen, das auch den lokalen Begebenheiten Rechnung tragt“, ", so Maurer weiter. "Dafür brauche es aber „mehr als Augenhöhe“, argumentiert Frischkopf, „der Lead für die Entwicklung muss bei den Ländern selber sein und bei den Partnern, weil sie am besten wissen, was sie brauchen und was bei ihnen funktioniert oder nicht. Und das ist im Gegensatz zu dem, was bei uns Geldgeber oder auch Staaten an Entwicklungspolitik machen wollen.“ Das bestätigt Maurer: „Ich habe stark gespürt in den 10 Jahren, wo ich IKRK-Präsident war, wie die Legitimität westlicher Helferei fundamental in Frage gestellt wurde,(..) weil man gesehen hat, dass dies die falsche Hilfe ist, die nicht den Bedürfnissen entspricht.“
Ist es legitim, in der globalen Unordnung mit Gaunern und Schurken als Partner zu verhandeln? „Das war immer so, das hat sich nicht geändert“, antwortet Frischkopf, „man hat mit Saddam Hussein und Gaddafi gut verhandelt, das hat realpolitisch immer funktioniert“. Und Maurer ergänzt aus seinen Erfahrungen mit autoritären Regimen: „Wir haben die unangenehme Gewohnheit, sie als Diktaturen und als korrupte Regierungen (zu bezeichnen), wie wenn es Korruption bei uns nicht gäbe, wie wenn es autoritäre Bestrebungen bei uns nicht gäbe. " Dazu Frischkopf: „Ich habe das in China erlebt und das hat mich sehr beeindruckt (..) Wenn man mit Chinesen zusammensitzt, sind sie da, um von einem zu lernen.“ -
Jouanna Hassoun, Deutsch-Palästinenserin und Leiterin der gemeinnützigen Vereins Transaidancy, konnte am 7.Oktober zuerst „gar nicht verstehen, was genau passiert ist“. Sie ist in einem palästinensischen Flüchtlingslager mit der persönlichen Erfahrung von Krieg und Repression aufgewachsen. „Von daher weiss ich, was es bedeutet Krieg zu erleben (..) und ich weiss, Gewalt und Hass ist keine Lösung“. Auch Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung, konnte die Nachrichten „am Anfang gar nicht glauben. (..) Mit dem Nimbus der Unbesiegbarkeit der israelischen Armee (..) kann das doch nicht so katastrophal funktioniert haben“. Seither hätten die antisemitischen Straftaten stark zugenommen; er sei erschüttert, „dass jüdische Familien jetzt verunsichert sind und ihre Kinder nicht in den Kindergarten schicken (..) und dass auf der anderen Seite jetzt ein Generalverdacht auf Muslime und insbesondere auf Palästinenser niederprasselt (..). Die Heftigkeit, mit der das passiert ist, und auch die Schnelligkeit (..) sind wirklich dramatisch“
„Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem“, so Hassoun. (..) Die Frage ist auch, geht es um palästinensische Menschen, die aufgrund ihres Schicksals (..) eine Art Trauma haben, dann haben sie auch einen anderen Umgang verdient in Bezug auf Kritik“. Hassoun ist besorgt, „dass vor allem palästinensische Menschen kriminalisiert werden, wenn sie sich mit ihren palästinensischen Geschwistern solidarisieren. (..) Allerdings, wenn Straftaten begangen werden, wenn jüdische Menschen bedroht werden, (..) dann müssen wir ganz klar handeln."
„Der Antisemitismus“, so Klein, „hat viele Quellen (…), das speist sich alles aus dem, was schon da war: den 15-20% der Menschen in Deutschland, die judenfeindliche Ansichten haben. (..) Es gibt jetzt die Gelegenheit, das auszuleben und die sozialen Medien sind ein Brandbeschleuniger“. Er sei aber zuversichtlich, weil „das Gesetz über die digitalen Dienste endlich ein Mittel (werde), auch repressiv vorzugehen, um das strafbar zu machen im Internet, was auch im normalen Leben strafbar ist, (..) was Beleidigungen oder Holocaust-Leugnung angeht."
Hassoun erzählt von ihren Erfahrungen, wenn sie zusammen mit einem jüdischen Mitstreiter in Berliner Schulen Aufklärung betreibt: „Die jungen Menschen haben Wut, sie haben Angst, sie haben Schmerz, wir haben unglaublich viele betroffene Menschen. (..) jüdische und palästinensische Menschen sind eher bereit, miteinander ins Gespräch zu kommen und den Schmerz des anderen anzuerkennen. Das habe ich in fast 40 Trialogen mit meinem Kollegen erlebt . (..) Das Problem haben wir bei den Ideologen, die hoch politisiert sind und uns beiden die Identität absprechen, entweder das Existenzrecht von Israel oder das Existenzrecht von Palästinensern. Und da kommen die Social Media ins Spiel.“
„Die Situation für uns palästinensische und muslimische Menschen in Deutschland ist teilweise emotional so unerträglich, dass viele Menschen (..) sagen: Ich weiss gar nicht, ob ich mich hier willkommen fühle und ob ich noch hierbleiben möchte, weil ich mich mit meiner Identität nicht gesehen fühle. (..) Solange der Krieg tobt, solange so viele Menschen sterben, solange die Geiseln noch in den Händen der Hamas sind, werden wir (..) keinen Frieden haben, wir werden auch nicht konstruktiv diskutieren können. (..) Das Einzige, was wir machen können, ist zuzuhören, versuchen, die Wut zu verstehen und versuchen, die Menschen einzufangen.“
„Wenn wir von der Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel sprechen“, wünscht sich Hassoun zum Schluss, „dass wir diese Verantwortung erweitern auf die palästinensischen Menschen, die sekundär auch von der Shoa, vom Holocoust betroffen sind, (..) weil sie ihre Heimat verloren haben, dass Deutschland seine Verantwortung auch ihnen gegenüber wahrnimmt.“ Dazu anerkennt Klein „eine besondere Rolle Deutschlands in diesem Konflikt eine positive Rolle. -
Die sicherheitspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Sara Nanni möchte „die These, dass (die Reaktion auf den russischen Angriffskrieg) eine Wende war, ein bisschen aufweichen“, es gehe ihr vielmehr um einen realistischen „Blick darauf, was man politisch erreichen kann und wann es Militär braucht, um politisch Lösungen möglich zu machen.“ Zur pazifistischen Vergangenheit der Grünen sagt sie: „Natürlich, es gab starke radikal pazifistische Teile in unserer Bewegung, aber es gab immer auch die pragmatisch pazifistischen Teile (..) Die heutige Grüne Partei würde ganz anders auf die Debatten von damals kucken, das hat sich massiv weiterentwickelt, das hat auch was mit der Regierungsverantwortung zu tun“.
Der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie Hans Christoph Atzpodien „war überrascht von der Entschiedenheit des Bundeskanzlers in seiner Regierungserklärung mit den 100 Milliarden Sondervermögen“. Zuvor sah er seine Arbeit „als den unpopulärsten Job Deutschlands (..) Man konnte es vor dem Februar 22 ganz deutlich sehen (..), wie Banken mit uns als Industrie umgegangen sind“ und „unter dem Drängen des Green Deal (..) zum Teil gesagt haben, wer die Bundeswehr beliefert, der kriegt von uns keine Bankgarantie mehr“.
Was ist die richtige Politik für Waffenexporte, wenn wir plötzlich feststellen, dass deutsche Waffen wie die aufgerüsteten Fregatten der Emirate im Jemenkrieg zum Einsatz kommen? Nanni stellt fest: „In den letzten zwei Jahre ist es ja schon deutlich restriktiver gelaufen.“ Dabei müsse man verstärkt „die mittel- und langfristige Perspektive miteinbeziehen. (..) wenn der Moment des Handschlages 15 Jahre vom Moment der Auslieferung entfernt, ist“, sonst zwingen politische Veränderungen zu einem abrupten Exportverbot. Atzpodien erwähnt dazu die beabsichtigte Auslieferung von deutschen Booten an Saudi-Arabien, „dann kam der Mordfall Khashoggi, wo dann Kanzlerin Merkel gesagt hat, wir stoppen jetzt alle Ausfuhren“.
Deshalb plädiert Nanni für Zurückhaltung: „Ich sehe auch, dass die Stückzahlen, die in der NATO abgenommen werden, so gering sind, dass sich die pro-Stück-Kosten sehr hoch entwickeln, wenn man gar nicht mehr exportiert. (..) Da wäre ich dann im Zweifelsfall bereit, pro Stück mehr zu bezahlen (..) Aber es ist leider so, dass wir da in der Bundesregierung mit dieser Perspektive ein bisschen allein sind, und da bleibt es dann doch dabei, dass wir als Grüne immer noch die pazifistischste Partei sind“.
Atzpodien hält dagegen: „Wir konkurrieren in Europa mit anderen Rüstungsherstellern, die teilweise Staatsunternehmen sind oder vom Staat ganz klar unterstützt werden und die mit der Hilfe ihrer Regierungen in weitem Umfang exportieren können und dadurch entsteht ein Gefälle im Wettbewerb. Wenn wir am Ende überhaupt keinen Export machen könnten (..) passt das dann irgendwo nicht. (..) Und was im Moment etwas schmerzt, ist die Tatsache, dass durch die beiden Häuser, die politisch unter grüner Führung sind, viele Dinge einfach liegen bleiben (..) und das fährt die Kunden sauer“.
Von einer gemeinsamen europäischen Rüstungspolitik sei man noch weit entfernt, so Atzpodien, weil „es in vielen europäischen Ländern starke Verteidigungsindustrien gibt, die von ihren Regierungen sehr stark auf Exporterfolg konditioniert werden, dass sie sich auf dem Weltmarkt gegen andere teilweise europäische Wettbewerber durchsetzen.“ Deshalb sei „das Interesse der anderen Regierungen an der Vereinheitlichung von Programmen begrenzt“. Eigentlich, so Nanni, „bedarf es eines unglaublich starken politischen Willens insbesondere in den grossen Ländern, die über grosse Verteidigungsindustrien verfügen (..) hier müsste im Prinzip die Vereinheitlichung ansetzen“. Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien, so Atzpodien, „müssen diese Hausaufgabe machen, um einen Bebauungsplan zu erstellen. Der EU-Kommission kann man das nicht überlassen.“ -
Bisher waren professionalisierte Medien als vierte Gewalt im Staat die Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie. Die Sozialen Medien haben diese Öffentlichkeit aber radikal verändert und parallele Informationsräume mit ihren eigenen Wahrheiten und Fake-news geschaffen. Von daher stellen sich die Fragen: Kommt uns die Wahrheit abhanden? Was ist Wahrheit? - „Wir haben es“, so Judith Wittwer, die Chefredakteurin der Süddeutschen Zeitung, „zunehmend mit Menschen zu tun, die sagen, das ist ja alles Ansichtssache, wissenschaftlich erhärtete Fakten werden in Frage gestellt. (..) Aber Meinung ist kein Faktum (..) Unsere Aufgabe ist, (..) den Menschen die Instrumente in die Hand zu geben, um sich ihr eigenes Bild zu machen und auf der Basis von Fakten diese Suche nach der Wahrheit voranzutreiben. (..) Je komplexer die Welt ist, desto grösser das Bedürfnis, Übersicht und Orientierung zu bekommen. (..) Es gibt ein enormes Informationsbedürfnis (..) Nicht nur für Information, sondern für diese Einordnung, die Hintergründe, die Reportage. (..) Die SZ hat heute mehr Abonnentinnen und Abonnenten denn je.“
„Was mich bei aller Zuversicht sehr beunruhigt“, wendet der frühere ZDF-Nachrichtenmoderator Claus Kleber ein, sei, dass “ein punktuelles, anekdotisches Wissen zu spektakulären Vorgängen vielen Menschen ausreicht, um sich ihre Meinung zu bilden“, ohne traditionelle Medien zu benützen. Trotzdem sieht er keine Ablehnung der professionellen Presse und des öffentlich-rechtlichen Fernsehens: „Offensichtlich gibt es auch unter den jungen Leuten, die uns nicht sehen, das Gefühl, dieses Land ist schon besser dran, wenn ein Goldstandard für Information immer im Raum ist. (..) Man weiss, da gibt’s noch eine Stelle, die achtet drauf, dass das nicht ausartet, dass die Regierung uns nicht erzählen kann, was sie will“.
„Das wirklich Neue“ durch die sozialen Medien sei aber, so Claus Kleber, „die normative Kraft der Lüge. (..) Der Kontrollmechanismus braucht zu viel Zeit, im Moment ist die hohe Geschwindigkeit der Lüge durch diese Reizbetonung zu einem ganz entscheidenden Machtfaktor geworden“, und „dass dann ganz viele vernünftige Leute sagen, man weiss ja gar nicht, was man da noch glauben soll, und das reicht.(..) Das hat Hannah Arendt festgestellt: Die Potenz des totalitären Staates, mit seiner Propaganda zu lügen, ist nicht, dass die Leute die Lüge glauben, sie liegt darin, dass die Leute gar nichts mehr glauben. Und ein Volk, das nicht mehr weiss, was es denken soll, ist handlungsunfähig. Mit ihm kann ein autoritärer Herrscher machen, was er will. Donald Trump hat bis heute diese Waffe in der Hand und nutzt sie.“
Trotzdem sind beide zuversichtlich für das künftige Zusammenwirken des professionellen Journalismus mit den sozialen Medien. „Auch wenn“, so Judith Wittwer, die Öffentlichkeit „halt noch fragmentierter sein wird, (..) bin ich sehr wohl optimistisch, dass wir unverändert ein Publikum finden werden und das wird nicht zwingend immer älter werden (..) Aber ich sehe schon, dass wir viele nicht erreichen werden, und dass diese Kluft und diese Polarisierung fortschreiten.“
Auch Claus Kleber ist optimistisch, „wenn wir die Qualität unserer Leistung in die neuen sozialen Medien (..) einbringen für Menschen, die sich ausschliesslich im Internet informieren und diese kuratierten Produkte wie das Heute Journal oder die gedruckte SZ nicht mehr abfragen.“ Dafür gelte es, einen neuen „Biotop zu entwickeln (..), der der Öffentlichkeit gehört, einen Public Space, für jeden zugänglich (..), und das so schnell und so erfolgreich aufzubauen. (..) Da freue ich mich zu merken, dass da die Ressourcen und die Gedanken hingehen, denn ohne das hätten wir keine Zukunft. Aber ich glaube, die haben wir, weil wir das rechtzeitig erkannt haben.“ -
Wahlsieg von Donald Tusk war eine Überraschung. Die Wahlbeteiligung, so die polnische Soziologin Karolina Wigura, war mit fast 75% viel höher als bei den ersten freien Wahlen nach dem Ende des Kommunismus. Dazu haben sich zum ersten Mal die jüngsten Wähler und Wählerinnen, die „schon als Mitglieder der Europäischen Union geboren wurden und eine ganz andere Haltung zum vereinigten Europa haben“, stärker beteiligt als die älteste Generation. - Vor allem für die Opposition, so Janusz Reiter, der frühere polnische Botschafter in Deutschland, war dies „eine Schicksalswahl. (..) Viele haben verstanden, dass es in dieser Wahl auch um sie geht“. Dabei sei die Abtreibung für die junge Generation und die Frauen eine Frage gewesen sei, „in der sie die Politik hautnah“ erleben. Tusk, so Wigura, sei es letztendlich gelungen, „die Vision zu schaffen, dass es möglich ist, in einem besseren Polen zu leben“.
Die Machtablösung werde sich aber, so Wigura, höchstwahrscheinlich in die Länge ziehen. Trotzdem, so Reiter, sei, „das Schlimmste, was manche befürchteten, nicht geschehen, dass es nämlich in Polen eine Entwicklung geben könnte wie in Amerika, wie ein Sturm auf das Parlament (..) Das ganze Spiel findet jetzt hinter geschlossenen Türen statt“. Dabei werde es Versuche der Wahlverlierer geben, „doch eine Mehrheit zu schaffen“, die PIS bleibe ja stärkste Partei. „Der Versuch wird fehlschlagen. (..) Das ganze wird aber die Freude über den Wahlsieg verderben.(..) Das wird das Misstrauen vieler Menschen in die Politik verstärken“. Präsident Duda, so Reiter weiter, werde es „der neuen Regierung schwer machen. (..) Wie es heute aussieht, wird er eher eine harte Linie fahren (..) Polen regieren wird keine einfache Sache in einem polarisierten, geteilten Land wie in Amerika“. Obama und Biden hätten versprochen, „das Land zu einigen, aber das Land ist heute nicht geeinigt“.
Ist ein Rückbau zum Rechtsstaat möglich? „Es geht nicht um die Rückkehr zum Polen von 2015“, so Wigura, „sondern es geht darum, alles so zu gestalten, dass wir nicht wieder eine Rückkehr zum Populismus haben.“ – Auch für Reiter gehe es „nicht um die Rückkehr zu einem vermeintlichen Goldenen Zeitalter. Es geht um etwas Neues.“ Es gehe auch darum, dass „die Wähler der PIS sich nicht so fühlen, als wären jetzt die Racheengel gekommen“. „Polen bedeutet Spaltung“, so Wigura, „Spaltung und Polarisierung ist unsere Geschichte. (..) Der Populismus funktioniert nur mit Polarisierung, die er verstärkt. Aber damit könnten wir aufhören, das könnte verschwinden. Ob Tusk dazu fähig ist, ich habe meine Zweifel. Auch er hat immer mit dieser Polarisierung gespielt. Ob er sich verändern kann, um die Wähler der PIS zu diesem neuen Polen einzuladen, ich bezweifle das. Das ist die größte Aufgabe nebst der Reparatur der Institutionen, um einen Wandel zu erzielen. Sonst werden wir in vier Jahren, vielleicht schon früher wieder einen Wechsel haben“.
Janusz Reiter ist „zuversichtlich, dass es der neuen Regierung gelingt, die uns zustehenden Mittel aus dem EU-Wiederaufbaufonds zu erhalten“, weil Brüssel wisse, „dass diese neue Regierung es ernst meint mit der Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit.“. Polen könne sich jetzt wieder in die europäische Politik einbringen. Dafür erwartet Wigura aber von Deutschland, aus der „osteuropäischen und mitteleuropäischen Geschichte zu lernen und die Stereotypen zu überwinden gegenüber Osteuropäern und gegenüber Polen“. Reiter ergänzt dazu: „Wenn ich einen Traum haben könnte, (..) dann, dass der Begriff Osteuropa aus unserer Diskussion verschwindet“, oder dass er „ersetzt würde durch Mitteleuropa oder Ost-Mitteleuropa, das wäre auch schon hilfreich, (..) weil die Benützung des Begriffes Osteuropa ein bisschen auch die Weigerung ausdrückt, zu differenzieren und die Unterschiedlichkeit der verschiedenen Länder und ihrer Probleme im ganzen Raum östlich von Deutschland zu verstehen“. - Montre plus