Episódios

  • Wir sind am Ende. OK, des Jahres zunĂ€chst, aber wenn man den Gedanken seiner Freunde lauscht, den Medien und folgerichtig oft genug den eigenen, scheint das Ende nah zu sein. In den USA gewinnen die falschen, in Frankreich fast. Wurde 2018 die Erhöhung der durchschnittlichen Temperatur um 1,5 Grad noch auf 2030 bis 2050 prognostiziert ist es, huch, schon dieses Jahr soweit. Cool, cool. Von Kriegen nur zwei Landesgrenzen entfernt reden wir kaum noch. Weihnachten ist nur, wenn man Rheinmetall-Aktien hat.

    Wohin fliehen? In die Lyrik? Es spricht eine Menge dafĂŒr, wie vor acht Jahren schon mal aufgeschrieben. Es lohnt die Wiederholung der Argumente.

    "Ein Gedicht! Sag ein Gedicht auf!", befiehlt der Weihnachtsmann der Göre und das Geflenne geht los. So entsteht Abneigung fĂŒr die Urform verbaler Kunst, noch bevor sich ein erster Buchstabe in der Sehrinde manifestiert, das Zerebellum genug Kontrolle ĂŒber Zunge und Stimmband hat, das erste dreisilbige Wort verstĂ€ndlich formulieren zu können.

    Was schade ist, denn das Gedicht ist lebensnotwendig.

    Schon am ersten Abend des Daseins auf der Welt wird der noch blinde Korpuskel von der Mutter in den Schlaf gewiegt mit "LaLaLa" und "Schlaf mein Kind", wĂ€hrend der stolzgeschwellte Erzeuger mit seinen Kumpels "Zwan-zig Zentimeter" grölend dem Wohnhause zu wankt, um in der Hecke davor zu schlafen. Überlebensnotwendige Erkenntnisse, wie die, dass der Reiter plumps macht, wenn er in den Graben fĂ€llt, schließen sich nur kurze Zeit spĂ€ter an, und dass der Hase krank ist, wenn er in der Grube sitzt, vermittelt dem Jungomnivoren das erste Mal die Erkenntnis, dass auch Essen GefĂŒhle hat.

    Alles wunderbare, amĂŒsierende, interessante Dinge, die man lernt, wenn man Gedichte hört, doch schnell nimmt der Erkenntnisgewinn von ErzĂ€hlungen ab, die das Schwimmen von allen (!) meinen (!) Enten auf dem See beschreiben, zumal wenn der Landvogt dem jungen Wilderer schmerzhaft vermittelt, dass sich Besitzstand nicht durch dessen Behauptung erlangen lĂ€sst. Also werden die Gedichte lĂ€nger, die Worte komplizierter, die Handlung nicht sofortig und die Erkenntnisse nicht augenscheinlich. Willkommen im Literaturunterricht.

    Schnell bemerkt man, dass es nicht nur kompliziert ist, Gedichte zu verstehen, das reine Vorlesen klingt bei jedem SchĂŒler grauenhaft, und wenn der Lehrer es beispielhaft versucht, hat das mit Mutters Wiegenliedern allenfalls den Effekt gemein. Muss man im Unterricht Balladen ĂŒber lĂ€ngst ersoffene SteuermĂ€nner ertragen, unterwegs auf großen Seen zwischen Kanada und den Vereinigten Staaten, deren Bezug zur persönlichen Lebenssituation sich nicht erschließt, mit zu vielen Pickeln an sichtbaren und nicht genug Haar an verborgenen Stellen und dann - verdorrt extrakurrikulĂ€r die letzte blaue Blume der Sympathie fĂŒr die Lyrik im Kichern dĂ€mlicher Ziegen oder Böcke beim Lesen des ersten poetischen Versuches, in Wahrheit des 23ten, der den Weg doch in nur eine ganz spezielle Schiefermappe finden sollte. Karola Matschke ist SO doof.

    Abends im Bett, flennend, den Kopfhörer auf der Kaltwelle hört man dann - ja, was? Gedichte. Vertonte Gedichte von Leuten, die offenbar die richtigen Worte finden:

    When we wandered through the rain/And promised to each other/That we'd always think the same/And dreamed that dream/To be two souls as one

    die einen S**t geben auf Jamben und Hebungen und wenn man das Teil ĂŒber das Girl in Paris, so beautiful and strange, zum 14. Mal hört, war es nicht einmal langweilig, man hat viel gelernt:

    so beautiful and strange:/Until you spoke/"I hate these people staring./Make them go away from me!"

    und schlÀft endlich ein, in den Schlaf gewiegt, wie es der Mutter "LaLaLa" nicht hÀtte sanfter tun können.

    "Ja, das ist ja Musik", sagt der befragte Teenager, "was hat das mit Gedichten zu tun?".

    "Sehr viel", erwidert der aufgeklÀrte Literat und

    "Alles!!", steigert es semi-kompetent aber bestimmt Herr Falschgold.

    Denn schon bald dreht sich dein Leben nicht mehr ausschließlich um Karola, Justin oder Kevin, aber Songs bleiben ob als Philosophieunterricht, wenn es die Gene und Interessen hergeben:

    Oh you understand change and you think it's essential,

    und wenn nicht, dann findet der alberne Teenie vorzeitig gealtert zurĂŒck, zu den "zwanzig Zentimetern" seines Erzeugers, was okay ist, jeder hat seine TrĂ€ume und Gedichte helfen, sie nicht zu vergessen.

    Man beginnt Liedgut in der Muttersprache zu hören, es geht schließlich nicht mehr darum, der coolste Honk auf dem Hof zu sein, und wenn man Geschmack hat und das GlĂŒck, in halbwegs der richtigen Zeit aufzuwachsen, findet man ein deutschsprachiges Album, das beides ist: cool wie Honk und tief wie Rilke. Es war damals schon 10 Jahre alt und trifft einen empfĂ€nglichen 20-jĂ€hrigen zerebralen Grufti ins Hirn:

    Es liegt ein Grauschleier ĂŒber der Stadt/den meine Mutter noch nicht weggewaschen hat

    und ist zudem zeitlos komponiert und arsch-tight auf die Musik getextet, es knackt und packt dich mit jeder Zeile:

    Richtig ist nur was man erzĂ€hlt/benutze einzig was dir gefĂ€llt/Bau dir ein Bild so wie es dir passt/sonst ist an der Spitze fĂŒr dich - kein Platz/

    Monarchie und Alltag heißt die Fehlfarben grĂ¶ĂŸte Platte, erschienen 1980 und in meiner Rangliste 19 Jahre unĂŒbertroffen.

    1990 begann ein gewisser Jochen Distelmeyer am Thron zu sÀgen, zusammen mit seinen Freunden in der Band Blumfeld. In den ersten Alben rough in Ton und Text findet Jochen Distelmeyer 1999 seine Stimme und zu Recht von ihr begeistert beginnt das Album mit einem Gedicht von 5 Minuten und 47 Sekunden LÀnge

    Wie ein Leben aus Rhythmus, Inhalt und Beschreibung besteht, beschreibt "Eines Tages", Track 1 auf Blumfelds 1999er Album Old Nobody, ein Leben durch Rhythmus, Metapher und Sprache. Des Lebens Gleichförmigkeit abgebildet in Distelmeyers lakonischem Vortrag ist es ein kompliziertes und so sind die Metaphern, die es beschreiben. Aber auch ein kompliziertes Leben kann schön sein, wenn man es beschreibt wie Jochen Distelmeyer. Es zu hören macht nicht bitter, denn man kann physiologisch dem Metaphernstakkato nicht lang folgen. Es fĂŒllt die Verarbeitungseinheiten bis sie ĂŒberlaufen, GIGO nennt man das in der IT, Garbage in, Garbage out. Was nicht verarbeitet wurde, wird unverarbeitet ausgeschieden. Irgendwann gibt der Dekodierer auf und ĂŒberlĂ€sst das Hirn dem Rhythmus, gelegentlich angeregt von feinen Worten, fremden Sprachen, alles andere ist - Trance.

    Oder, ein Bild fĂŒr den romantischen Hörer, "Eines Tages" beginnt wie eine Karussellfahrt, die ersten Runden sieht man die Eltern noch, die Freundin, den Freund, bald sieht man nur noch Farben. Man ist allein mit sich und seinen Gedanken, gelegentlich tauchen Schemen auf und verschwinden wieder, es könnte ewig so weitergehen. Und doch merkt man den Zenit, wie die Runden unmerklich lĂ€nger werden, man kann sich fast schon wieder konzentrieren auf das Außen, die Metaphern werden wieder klarer. Auf einmal spĂŒrt man, dass der kleine Anfall von Depression sich gen Ende neigt, eine klare Verlangsamung jetzt, gleich ist's vorbei, doch noch nicht, die letzte Runde, doch noch eine und dann Stillstand. Schluss. Pause. Und der erste Song beginnt, mit einem Himmel voller Geigen.



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  • Ho Ho Ho!

    Da geht das Jahr dahin und der verzweifelte Kampf um das beste Weihnachtsgeschenk oder einfach nur das Vermeiden von trauerfeuchten Kinderaugen stresst jung und alt. Doch Hilfe naht, die Lob und Verriss Weihnachtsgeschenkliste seht Ihr unten und obendrĂŒber könnt Ihr Euch anhören, warum das die besten Geschenke der Welt sind.

    * Mat Osman "The Ghost Theatre" (dt. "Das VogelmÀdchen von London")

    * Natasha Pulley "The Watchmaker of Filigree Street" (dt. "Der Uhrmacher in der Filigree Street")

    * Don Winslow "City in Ruins" ("City on Fire", "City of Dreams") (dt. genauso)

    * Rita Bullwinkel "Headshot" (dt. "Schlaglicht")

    * Stephen King "You Like It Darker" (dt. "Ihr wollt es dunkler")

    * Tess Gunty "Der Kaninchenstall"

    * T. C. Boyle "Blue Skies" (dt. genauso)

    * Richard Osman "We solve Murders" (dt. "Wir finden Mörder.")

    * Barbara Kingsolver "Demon Copperhead" (dt. genauso)

    * John Jeremiah Williams "Pulphead" (dt. genauso)

    * Rebind Ebooks

    * Charles Cumming “Box 88”

    * Graham Norton „Eine irische Familiengeschichte“

    * Brit Bennett „Die verschwindende HĂ€lfte“

    Die Wertung “Wer liest am meisten” hat dieses Jahr ĂŒbrigens klar Irmgard gewonnen:



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  • Estão a faltar episódios?

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  • Seit einigen Jahren findet das Schaffen der dĂ€nischen Autorin Tove Ditlevsen auch in der deutschen Leserschaft die ihr gebĂŒhrende Aufmerksamkeit. Diese spĂ€te Anerkennung – verstarb sie doch bereits im Jahr 1976 – ist nicht zuletzt dem Aufbau Verlag und der Übersetzerin Ursel Allenstein, die ihre Werke ins Deutsche ĂŒbertrug, zu verdanken. Im letzten Jahr erschien außerdem – zur Freude ihrer Fans – eine Biografie ĂŒber Tove Ditlevsen, in der sich Jens Andersen, welcher sich als Biograph anderer internationaler GrĂ¶ĂŸen wie Astrid Lindgren und Hans Christian Andersen bereits einen Namen gemacht hat, eingehend dem Leben und Werk Ditlevsens' widmet. Ihr letzter Roman, Vilhelms Zimmer, erschien kĂŒrzlich nun ebenfalls auf Deutsch und im Original nur ein Jahr vor ihrem Tod, wodurch er sich geradezu wie eine selbsterfĂŒllende Prophezeiung liest. Damals wie heute wird der Leserin schnell klar, wen die Handelnden Personen darstellen, schon allein deshalb, weil ihre Werke immer einen, fĂŒr sie prĂ€genden, autofiktionalen Charakter besitzen, sie auch in diesem Roman alle Themen bearbeitet, die wir bereits aus ihrem vorangegangenen literarischen ƒuvre kennen und damit einen Schlusspunkt setzt.

    Die ErzĂ€hlerin in Vilhelms Zimmer macht gleich zu Beginn des Romans deutlich, was dieser bezwecken will. Es ist die Geschichte von Vilhelms Zimmer und allen und allem was damit in Verbindung steht und letztlich zum Tod der Protagonistin Lise – kein Spoiler – fĂŒhrt. Es handelt sich um Lise Mundus, bei deren Namen wir direkt aufmerken, kennen wir sie doch bereits aus Gesichter, dem Roman, den Ditlevsen sieben Jahre vorher veröffentlichte. Fast liest sich Vilhelms Zimmer wie eine Fortsetzung, ein Abschied, vielleicht auch ein ErklĂ€rungsversuch, auch wenn das Personal, von Lise einmal abgesehen, ein anderes als in Gesichter ist. Bei besagtem Vilhelm handelt es sich um ihren Ehemann, der schließlich, nach zahlreichen außerehelichen AffĂ€ren, zu seiner Geliebten Mille gezogen ist. Lises und Vilhelms Ehe ist gescheitert, geschieden sind sie jedoch nicht und werden es auch nie sein. Tove Ditlevsen arbeitet in diesem Roman ihre eigene Trennung von Ehemann Victor Andreasen auf; versucht diese in eine literarische Form zu bringen. Die ErzĂ€hlerin ist auch gleichzeitig Lise selbst, was mitunter verwirrend erscheint, erst Recht, wenn sie von sich selbst in der dritten Person schreibt. Gleichzeitig verschafft es ihr aber die Möglichkeit, als Beobachterin aufzutreten und mit einer Distanz auf die Protagonistin und ihr Handeln zu schauen und dieses einzuschĂ€tzen, wie es ihr als Lise selbst nicht möglich wĂ€re.

    Die Beziehung von Lise und Vilhelm wĂŒrden wir heutzutage vermutlich als toxisch beschreiben. Sie ist geprĂ€gt von gegenseitigen Verletzungen, oft aufgrund eigener UnzulĂ€nglichkeiten oder durch PrĂ€gungen aus der Kindheit, von AbhĂ€ngigkeit und psychischer Folter. Es geht aber auch darum, wie Lise versucht, sich zu emanzipieren und sich Vilhelms Einfluss zu entziehen. Dieser ist neidisch auf ihren Erfolg und unterstellt ihr mehrfach, dass sie ohne ihn gar nicht so weit gekommen wĂ€re. Zudem quĂ€lt er sie regelmĂ€ĂŸig damit, dass er vorgibt, dieses oder jenes an einer Frau zu schĂ€tzen und wĂ€hrend sie versucht, diesen Vorstellungen gerecht zu werden, hat er seine Meinung im nĂ€chsten Moment schon wieder geĂ€ndert. Es ist ein Katz und Maus Spiel und wĂ€hrend er sich gern als ihr Retter gibt, kommt er, trotz der Trennung, nicht von ihr los und Lise schafft es im letzten Moment, tragischerweise durch ihren selbst gewĂ€hlten Suizid, aus dem Teufelskreis der AbhĂ€ngigkeit auszubrechen. Ihre letzte frei gewĂ€hlte Entscheidung ĂŒber ihr Leben, die sie es gleichzeitig kostet. Es ist ein Triumph ĂŒber Vilhelm, der das MachtverhĂ€ltnis endgĂŒltig zerbricht und so radikal wie konsequent ist.

    Weitere Personen im Roman sind beispielsweise die Vermieterin Frau Thomsen, die davon lebt, „Zimmer an anstĂ€ndige junge Herren aus gutem Hause zu vermieten“ (S.11) und deren Beschreibung eher gruselig anmutet. In ihrer eigenen Wohnung lebt zunĂ€chst noch Kurt, der spĂ€ter in Lises Wohnung, ein Stockwerk tiefer, in Vilhelms ehemaliges Zimmer ziehen wird, nachdem Lise, motiviert durch Greta, die Patientin in derselben Klinik ist, in der Lise sich zeitweilig befindet, eine Kontaktanzeige aufgegeben hat, auf die Kurt sich meldet. Sein Charakter, eher geprĂ€gt durch Charakterlosigkeit, basiert nachweislich ebenfalls auf einer Person aus Ditlevsens realem Umfeld. Seine Funktion im Roman ist mir aber nie ganz klar geworden. Sein Verhalten ist Ă€ußerst befremdlich, denn er lebt nicht nur in Vilhelms Zimmer, sondern liest auch dessen TagebĂŒcher, trĂ€gt seine Kleidung und nimmt teilweise sogar dessen Einstellung und GefĂŒhle gegenĂŒber Lise an. Er wird zu einer Art Schatten Vilhelms. Am Ende hat seine Figur aber ihren – wie auch immer gearteten – Zweck erfĂŒllt und wird abgesĂ€gt. Er ist nur ein Statist, der nicht mehr benötigt wird und kehrt zurĂŒck in die Wohnung der Vermieterin, mit der er eine seltsame Art von amouröser Beziehung hat.

    „Er verkroch sich in den Schutz jener alten Geborgenheit, die man im Mangel an VerĂ€nderung findet, und dort werden wir ihn jetzt zurĂŒcklassen und ihm frohe Weihnachten oder irgendetwas anderes Nichtssagendes wĂŒnschen, was immer noch besser ist als gar nichts. Er hat seinen Zweck erfĂŒllt und fĂ€llt jetzt zwischen den Seiten heraus wie ein getrockneter Veilchenstrauß ohne Farbe und Geruch.“ (S. 176/177)

    Über allem schwebt im Roman aber auch immer wieder die Frage nach kĂŒnstlerischer Anerkennung unter deren Mangel Tove Ditlevsen zeitlebens litt – wurde sie doch nie in dem akademischen Kreis anerkannt, zu dem sie gehören wollte – und mit der auch ihre Protagonistin Lise zu kĂ€mpfen hat. Zu Recht wurden Ditlevsens Werke der deutschen Leserschaft zugĂ€nglich gemacht und ihr dadurch auch hierzulande zumindest postum Erfolg zuteil, der ihr schon zu Lebzeiten zugestanden hĂ€tte. Möglicherweise wĂ€ren sie vor 50 Jahren aber auch gar nicht so begeistert aufgenommen worden wie heutzutage und wir können uns glĂŒcklich schĂ€tzen, sie nun, da sie noch genauso aktuell sind wie damals, entdecken zu dĂŒrfen. Was Tove Ditlevsens Werke fĂŒr mich ausmachen, ist einerseits ihre Sprache, die sowohl unheimlich plastisch sein kann als auch beschreibend so genau den Kern einer Sache trifft, andererseits wie bedingungslos sie ihre Themen bearbeitet, im wahrsten Sinne: als ginge es um Leben und Tod.

    Link zur Rezension von “Gesichter”:



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  • Nach den Ereignissen des 5. und 6. November 2024 (fĂŒr Leser weit in der Zukunft: die Wiederwahl Donald Trumps und die Implosion der Ampel) habe ich erst mal das getan, was jeder vernĂŒnftige LinksgrĂŒnversiffte macht: Polit-Abos kĂŒndigen, Podcasts abbestellen, unpolitische BĂŒcher lesen. Nur nicht diesen Quark konsumieren.

    In den US-amerikanischen Medien wurde endlos Nabelschau und Fingerzeig betrieben, wer Schuld habe am deutlichen Wahlsieg eines verurteilten StraftÀters mit faschistischen Tendenzen. Langweilig. Der Drops ist gelutscht. Amerika ist weit weg, sollen sie sich doch zu dem machen, als was viele die USA schon immer sehen: ein Russland mit besserer Musik.

    Ein Podcast der im Abo blieb war der des, SÀnges/Bassplayer/Bandleaders der "The Long Winters", John Roderick, beileibe kein unpolitischer Mensch, der keinen Hehl daraus macht, dass er linksliberal im amerikanischen Wortsinn ist. Wohnhaft in Washington State ist er der klassische Westcoast-Intellektuelle - mit einem Twist: Er selbstreflektiert. Unerhört. Dabei eckt er an, aber nicht um anzuecken, sondern, weil das nicht anders geht, wenn man selbstreflektiert.

    Seine neueste Show ist eine minimalistische Stunde, in der er ohne Schnitt, Vor- und Abspann Fragen beantwortet. Sie ist nur fĂŒr Patreon-Abonnenten abrufbar, was den Hörerkreis einschrĂ€nkt und Prinzip ist. Es hĂ€lt die empörten Trolle auf Distanz und John gibt somit ungefiltert seine Meinungen zu wirklich allem kund. Roderick ist Mitte fĂŒnfzig, weiß, ist rumgekommen (Drogen, Musik, lange Reisen) hat ein enormes Geschichtswissen (Balkan, Naher Osten, USA) und in seinem Leben schon irgendwie alles gemacht: er war Junkie, Koch in den 24/7 Grunge-VolkskĂŒchen im Seattle der 90er Jahre, hat dort fĂŒr den Stadtrat kandidiert, hat in Alaska gewohnt, sein Vater wurde mal fast Stabschef von JFK - ein wahrer Renaissance Man. Er beantwortet druckreif, unaufgeregt, ruhig und perfekt verstĂ€ndlich, was er gefragt wird. Und wenn er nicht sicher ist, lĂ€sst er uns an seinem Gedankengang teilhaben - wohin auch immer er fĂŒhrt.

    Roderick nimmt seine Show einmal die Woche zum Ende des Tages auf, in perfekter TonqualitĂ€t, ein Musiker halt, irgendwo zwischen KamingesprĂ€ch und ASMR und so kam es, dass er am Wahlabend am Mikro saß, zu einem Zeitpunkt als die Wiederwahl Trumps von den TV-Stationen noch nicht "gecallt" wurde aber dennoch unvermeidlich war.

    Statt sich in ein aufgeregtes "Wie kann denn das sein?!1!!" zu flĂŒchten erzĂ€hlte Roderick eine Stunde lang, in einer enormen analytischen Ruhe und SchĂ€rfe davon, was das Problem der Linken im Land sei. Dabei kann im Zeitalter von einer Million Monkeys an den iPhone-Keyboards nicht mehr viel Neues herauskommen, denkt man, aber wegen ebendieser fĂ€llt es sicher nicht nur mir schwer, die Schlenker und Bremsspuren zu sehen, an denen man erkennt, an welcher Stelle der progressive Bus von der Fahrbahn abkam und gegen den BrĂŒckenpfeiler fuhr.

    Obwohl John Roderick die Show, normalerweise hinter der Paywall, mittlerweile freigeschaltet hat (so enorm positiv war das Echo) hat sicher nicht jeder den Willen oder die Muße, seine Analyse zu hören, weshalb ich sie hier zusammenfasse und ein bisschen extrapoliere und auf die deutsche Situation transponiere. Denn sie ist interessant. Und sie ist nicht einfach. Und wir haben im Februar zur Bundestagswahl zwar keinen Trump abzuwehren, aber eine mögliche Verfestigung faschistischer Parteien. Das zu verhindern, ist mit Sicherheit zu spĂ€t, dafĂŒr ist die Zeit zu kurz, aber man kann schon jetzt eine Idee haben, was schief laufen wird.

    Donald Trump hat die 2024er Wahl nicht wirklich knapp gewonnen und John Roderick fragt sich und uns: "Können 70 Millionen Amerikaner Rassisten sein?" Meine leicht radikalisierte Antwort wĂ€re "Klar, warum nicht?". John hĂ€lt es fĂŒr "insane" das zu glauben. Und natĂŒrlich, wenn man kurz die Blase verlĂ€sst und das Hirn einschaltet, muss man ihm Recht geben. John kann fĂŒr Kentucky und Alabama sprechen, ich fĂŒr Dippoldiswalde und Anklam, und in allen vier Gegenden gibt es Leute, die Einwanderer nicht brauchen und dennoch keine Rassisten sind. Sie sind vielleicht keine besonders guten Menschen, aber Rassismus ist etwas anderes. Das bekommt man raus, wenn man die Hillbillies fragt und nur eine verschwindende Minderheit wird etwas von ethnischer Abstammung, Hautfarbe oder Volksgesundheit faseln. Die meisten werden ein paar Argumente aus ihrer Facebook-Blase bringen und wenn man die dann mal ĂŒberhört, denn sie fĂŒhren nicht zum Ziel, kommt im Allgemeinen Indifferenz heraus, irgendein diffuses GefĂŒhl der Benachteiligung vielleicht, aber kein Wunsch nach KZ und Gaskammer. Das verkompliziert die Analyse der Ursache fĂŒr die Wahlniederlage, denn im persönlichen GesprĂ€ch sind es meist supersweete Leute, die die rassistischen Arschlöcher wĂ€hlen. Man bekommt den Kopf nicht drumrumgewickelt.

    Das Problem im Wahlkampf 2024 war, dass das Anti-Trump-Argument "Aber hörst Du nicht, was der da sagt?!" nicht zog. Denn Nein, das hören "die" nicht. Auf Deutschland umgesetzt: Der Klempner aus Dipps und die Frisöse aus Anklam geben keinen S**t. Es ist schon anstrengend genug am Sonntagvormittag alle vier Jahre in die beschissene Mittelschule zu schlĂŒrfen um irgendwas zu wĂ€hlen, statt beim Heimspiel des VFC Anklam fĂŒnf Biere zu kippen, wirklich nervend ist es jedoch, sich wochenlang vorher irgendwas anzuhören, was im besten Fall die Ansage ist, dass man seinen eigenen Beruf nicht mehr Frisöse nennen darf und im Zweifel darauf hinauslĂ€uft, dass man permanent als "schlechter Mensch" durchbeleidigt wird, weil man kein Shawarma mag, nicht dass der Klempner-Ralle das schon mal gegessen hĂ€tte. Das Resultat ist, dass man das Kreuz bei denen macht, die exakt das Gegenteil davon behaupten, und sei es noch so sinnfrei, krude oder dumm. Die Chance, dass der Ralf und die Gabi dann unter einer AfD-Regierung, der John und die Karen unter Trump, zu besseren Menschen werden, ist gering. Das sollte man also verhindern. Und hĂ€tte man verhindern können. Die Zeichen standen an der Wand, bzw. den Flatscreens. Sie wurden ignoriert und John Roderick kommt zur zweiten These.

    Diese ist ĂŒberraschend: Die Demokraten sind die Partei der Wissenschaftsfeindlichkeit geworden. Hear him out. Wenn man auf den Wettstreit zwischen Konservatismus und Progressivismus (also kurz: Rechts und Links) seit dem Ende des 2. Weltkriegs schaut, war zunĂ€chst die Rechte die Kraft, die nicht gefragt hat "Was ist?" sondern gepredigt hat "Das soll sein!". Wissenschaftliche RealitĂ€ten spielten nur eine Rolle um ĂŒberwunden zu werden. Schwule gibt's - aber sollten nicht. Atheisten gibt's - aber gehören weg. Frauen an den Herd, sagt Jesus. Die Republikaner als die Partei des "Sollte", die Demokraten als die Partei des "Seins".

    Von den Sechzigern an, hat die Linke dann versucht, den Ist-Zustand der Gesellschaft institutionell abzubilden und in Gesetze zu gießen: vom Civil Rights Act von LBJ 1964 bis zur Legalisierung der Homoehe 2015 war dieses Projekt erfolgreich. Denn unterhalb dieser großen Gesetzgebungen gab es tausende Regelungen, die die Sicht der amerikanischen Gesellschaft auf die anlassgebenden Ungerechtigkeiten verĂ€ndert hat.Was beim obligatorischen M/W/D in Stellenausschreibungen begann, ist mittlerweile ein Klischee: die Personalchefin in vielen Firmen in den USA ist schwarz und weiblich. Bei der schreiende Ungerechtigkeit von Stonewall 1969 in New York City, die in der Homo-Ehe ihr vorlĂ€ufiges Ende hĂ€tte finden sollen, schoss man deutlich ĂŒbers Ziel hinaus, als ein christlicher BĂ€cker sich weigerte eine Hochzeitstorte fĂŒr eine Schwulenhochzeit zu backen und das nicht in einem Schulterzucken endete, sondern einem Urteil des obersten Gerichtshofs (er darf).

    Dass das Leben in general ein Anderes und fĂŒr fast alle ein Besseres ist, wenn man Los Angeles 2024 mit Nashville 1954 vergleicht, sollte einleuchten. NatĂŒrlich ist weder Rassismus noch Homophobie abgeschafft, noch lebt man in den USA in einem egalitĂ€ren Hölle Paradies ohne Streit und Dollerei, aber beide hier beispielhaft genannten Probleme sind so enorm viel kleiner als vor siebzig Jahren, dass das keiner bestreiten kann. Und dennoch passiert genau das. Es ist nie genug, es gibt keinen Stolz aufs Erreichte. Deshalb ist es weit unterhalb der "cancel culture"-Schwelle geradezu unmöglich, eine Meinung zu irgendeinem linken Thema zu Ă€ußern, ohne dass das in unproduktivem Streit endet. Betonung auf "unproduktiv", denn es geht im Allgemeinen in solchen Palavern, selbst zwischen Diskutanten absolut auf derselben Seite, nie um das "Wie verbessern?" sondern immer um das "Was verbessern?". Man hat es nach acht Jahren Obama geschafft, dass man eine Krankenversicherung fĂŒr alle hat, dass man die Homoehe hat, dass man nicht weit davon entfernt war, das Recht auf Abtreibung in den Verfassungsrang zu heben. Statt ein bisschen zufrieden mit den eigenen Erfolgen zu sein und sich zur Abwechslung mal um das zu kĂŒmmern, was auf der anderen Seite der politischen Trennlinie so an Problemen ansteht, bemĂŒhte man die sogenannten "weichen" Wissenschaften, herauszubekommen, was man denn noch so an Ungerechtigkeiten beseitigen könnte.

    Despektierlich bezeichnet man als "weich" im weitesten Sinne Geisteswissenschaften, also alles unterhalb der Biologie, da wo es ein bisschen schwammig wird, nicht so eindeutig wie ein Klavier, das dir auf den Kopf fĂ€llt, wenn der Nachbar es aus dem Fenster schmeißt. In den "harten" Wissenschaften ist 2+2=4, ein Meter ein Meter, ein Kilo ein Kilo, da ist schwer gegen anzuargumentieren. In den weichen Wissenschaften geht es um den Menschen und der ist unberechenbar. Aber, wenn man halbwegs solide rangeht, kann man mithilfe von Soziologie, Psychologie und ein bisschen Statistik ein Bild vom Ist-Zustand der Gesellschaft erhalten. All das passiert auch seit vielen Jahrzehnten, es gibt endlos LehrstĂŒhle fĂŒr Soziologie, Anthropologie, Kommunikationswissenschaften mit Spezialisierungen fĂŒr Queer Studies, IntersektionalitĂ€tsforschung und Feministischer Theorie, alle mit ihren eigenen StudiengĂ€ngen, Papers und Seminaren.

    Problem: die Zahlen die in diesen FakultĂ€ten auflaufen, sagten spĂ€testens seit der Finanzkrise von 2008, dass, wenn man alle Amerikaner fragt, diese ĂŒberwiegend einen S**t geben, was in diesen FakultĂ€ten erforscht wird und dass es eine Mehrheit der WĂ€hler einfach nicht interessiert, ob der Jerome und der Dave ein Recht haben, die Hochzeitstorte von der Karen gebacken zu bekommen. Es kommt eher raus, dass sie es ein bisschen ungerecht finden, dass sie ihr Haus verlieren an eine Bank, die noch vor ein paar Jahren fast bankrott war. Und selbst wenn sie das nicht so konkret formulieren können, wundern sie sich einfach, warum alles so ein klein bisschen beschissener geworden ist, als vor ein paar Jahren. Was die meisten Umgefragten nicht mehr hören konnten war #metoo, #gamergate und #cancelculture und was soll das ĂŒberhaupt sein? Aber da gab's zum GlĂŒck diesen Trump, der sich darĂŒber lustig machte, seltsamer Typ, aber irgendwie funny. "Und what?! Den kann man jetzt wĂ€hlen?" sagte Bob zu Babe 2016. "Ok, who gives a s**t. Das machen wir jetzt mal. Schluss mit dem permanenten ErklĂ€rbĂ€rshit, was man sagen darf und was nicht." Das wurde statistisch vor jeder Wahl im letzten Jahrzehnt so erhoben und spiegelte sich 2010, 2016 und jetzt 2024 in den Ergebnissen wider.

    Und es wurde jedes Mal vor der Wahl ignoriert. Denn das kann doch keiner glauben, dass sich die Mehrheit nicht um Trans-Rechte, nicht um Pronomen, nicht um Umweltschutz kĂŒmmert.

    Nun, wenn man Tatsachen ignoriert und glaubt es besser zu "fĂŒhlen", ist man nur ein paar Schritte von einer Religion entfernt. Und dass Wunschdenken keine Tatsachen in der Wahlnacht schafft, hat sich ein ums andere Mal erwiesen. Ein ums andere Mal wurde gewunschtrĂ€umt, dass die Frauen aus den Vororten es dem Trump zeigen werden. Die waren schließlich selbst mal schwanger, haben vielleicht abgetrieben, kennen wenigstens eine, die das hat. Das stimmt zwar rein statistisch, aber diese Frauen aus den Vororten haben auch ihr Haus mit Verlust verkaufen mĂŒssen, schon zweimal seit 2008, und deren MĂ€nner haben ihren Job in der KĂŒhlschrankfabrik verloren und es half nicht viel, dass der neue Fridge aus China nur $199 kostete, denn der ist schon wieder kaputt. Abortion my ass, da wĂ€hlt man doch den, der irgendwas von Zoll auf chinesische KĂŒhlschrĂ€nke erzĂ€hlt, auch wenn irgendjemand Anderes sagt, dass das den nĂ€chsten importierten KĂŒhlschrank teurer machen wĂŒrde? Who knows, irgendwas erzĂ€hlt immer einer.

    Die Demokraten haben genau das in Statistiken prĂ€sentiert bekommen, haben es aber nicht geglaubt und dachten, dass ein schicker Werbespot mit Julia Roberts die Sache regelt, das TikTok-Äquivalent zum Absingen eines Gospels um den Teufel zu vertreiben. John Roderick erzĂ€hlt von einer Fahrt im Taxi kĂŒrzlich. Der Fahrer, ein Einwanderer aus Nigeria sagte sinngemĂ€ĂŸ: "Na klar wĂ€hle ich Trump. Wir sind Katholiken, ich habe zwei Söhne und zwei Töchter und die sind mĂ€nnlich und weiblich und wer was anderes sagt, der ist des Teufels. Und den Teufel wĂ€hle ich nicht."

    Und so schauten die Linken unglĂ€ubig auf die, wenn auch kleine, Prozentzahl von Schwarzen, die sagten, dass sie Trump wĂ€hlen werden, auf die durchaus beachtliche Zahl von Muslimen, die das gleiche sagten (Warum wohl?), und die verglichen mit frĂŒher regelrecht riesige Menge von Latinx die genau dasselbe ankĂŒndigten - und niemand hat es ihnen geglaubt!

    Das ist nicht nur wissenschaftsfeindlich - es ist rassistisch! Da kĂ€mpft die Linke seit Jahrzehnten dafĂŒr, dass Nicht-Weiße sich gesellschaftlich reprĂ€sentiert finden, dass sie nicht permanent gegen Rassismus ankĂ€mpfen und anwĂ€hlen mĂŒssen, sondern sich, wie der weiße Dude next door, bei einer Wahl mal um ihr Leben und ihre persönlichen Interessen kĂŒmmern können und dann machen die das, kĂŒndigen es in Umfragen sogar an, und die Demokraten so: "Hey, Minderheit, Du wĂ€hlst falsch!" WTF?

    Und so stolperte die US-amerikanische Linke den Rechten in die Falle und so werden es die linken KrĂ€fte auch im Februar in Deutschland tun. Ok, sie wachen langsam auf, Robert Habecks KĂŒchentischnummer, die Betonung wĂ€hrend des Parteitags der GrĂŒnen, dass man die Partei der Freiheit und gegen Bevormundung sei, scheint direkt auf Analysen des Wahldesasters der Demokraten zurĂŒck zu gehen - das wĂ€re ja auch furchtbar, wenn man nicht mal dafĂŒr FachkrĂ€fte hĂ€tte. Aber es wird zu spĂ€t sein. Auch, weil sich die Internetkommentare gegen das, was John Roderick (und in Fortsetzung ich hier) schreibe, wie von selbst verfassen. NatĂŒrlich werden ĂŒberall Transmenschen diskriminiert, syrische FlĂŒchtlinge gejagt, Schwule verprĂŒgelt und wenn man Twitter gewinnen will, schreibt man das empört unter so ein Essay und postet am 23. Februar 2025 um 18:03 Uhr auf Mastodon dass Deutschland Naziland sei.

    Oder man ĂŒberlegt, ob es, vereinfacht gesagt, möglich ist, mit einer Sammlung von 5% Themen eine Wahl zu gewinnen, in der 100% abstimmen? Ob man sich vielleicht doch mal der Themen annimmt, die Gabi und Ralf beschĂ€ftigen, wo die Lösung nicht moralisch einfach, sondern kompliziert und nebenbei noch existentiell ist. Kapitalismushit, you know? Keiner will, dass die Linke Diskriminierungen leugnet. Aber, mal rein arithmetisch, diese "passiert" (sorry!) per Definition immer Minderheiten - bei Wahlen gehts aber um Mehrheiten. Das ist nicht kompliziert.

    Kompliziert ist natĂŒrlich aus dieser Erkenntnis eine Strategie zu formulieren. Ein "weiter so" kann es nicht sein. Eine Brandmauer macht nur Sinn, wenn eine Mehrheit auf der richtigen Seite steht. Eine jede Idee zu einem verĂ€nderten Umgang mit dem Wahlvolk abzuschmettern, nur um ein Argument im Plenum zu gewinnen, fĂŒhrt geradewegs in den Faschismus.

    John Roderick hat das analysiert, als es zu spĂ€t war und so wie die Welt jahrelang den Weg in den Faschismus anhand der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts in Deutschland analysiert hat, können wir das hundert Jahre spĂ€ter von unserer Seite des Atlantiks aus machen - diesmal in realtime.

    Wir sollten die Chance nutzen, bevor es auch hier wieder zu spÀt ist.



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  • Drei auf dem Papier E-Book nicht ganz einfache Romane ĂŒber Leid, Verlust und Selbstbetrug erweisen sich als Meisterwerke im leichten und fesselnden ErzĂ€hlen. Irmgard Lumpini bringt uns “Demon Copperhead” (der sich nicht aus Versehen fast auf den Namen des Ehemann von Heidi Klum reimt), Anne Findeisen erzĂ€hlt von “Die MĂŒtter” von Brit Bennett und Herr Falschgold war im befreundeten Nachbarland unterwegs: Pavel Kohout schrieb 1978 die schwarze Komödie “Die Henkerin”.



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  • Liebe Leserinnen und Leser,

    Pulitzerpreisgekrönte Werke zu rezensieren ist heutzutage eine dankbare Aufgabe: da haben schon die Fachleute draufgeschaut, die beruflichen Rezensenten gewerkelt und eingeschĂ€tzt, die Marketingmaschine der weltweit beteiligten Verlage lĂ€uft auf Hochtouren - zumindest fĂŒr eine gewisse Zeit vor und nach der Preisverleihung - , und auch die lokalen Buchhandlungen schmĂŒcken ihre Fensterauslagen und Buchtische.

    Im letzten Jahr gewann diesen Preis im Bereich der Belletristik - denn die Pulitzerpreise gibt es auch fĂŒr SachbĂŒcher, zuallererst aber fĂŒr herausragende journalistische Arbeiten - Barbara Kingsolver mit dem heute hier vorgestellten "Demon Copperhead", im Deutschen ebenfalls: "Demon Copperhead".

    Warum dieses Werk seinen englischen Titel behalten durfte, ist sicherlich zum einen der Fakt, dass es sich um den Rufnamen des Protagonisten - mit bĂŒrgerlichem Namen Damon Fields - handelt, zum anderen, dass sich Demon Copperhead die Inspiration des Werkes, die Initialen und einen Teil des Nachnamens, nĂ€mlich mit Charles Dickens "David Copperfield" teilt.

    Worum geht es: Damons Vater stirbt, bevor er auf die Welt kommt. Seine Mutter, noch minderjĂ€hrig, kĂ€mpft mit DrogenabhĂ€ngigkeit. Seine VerhĂ€ltnisse sind Ă€rmlich, und der Plot entfaltet sich in den abgeschiedenen Bergen der Appalachen, einem Gebirgszug an der OstkĂŒste der USA.

    Man muss kein AnhĂ€nger von Karl Marx sein, um die These "Das Sein bestimmt das Bewusstsein." oder einfacher "die materielle Grundlage prĂ€gt das gesellschaftliche Leben" nachvollziehen zu können. ZunĂ€chst wird Demon von seiner Mutter und den Ă€lteren Nachbarn, den Peggots, großgezogen. WĂ€hrenddessen ist deren Enkel Matt, der bei ihnen aufwĂ€chst, weil seine Mutter im Knast ist, sein bester Freund. Bis hierher ist alles dufte soweit. Dann lernt Damons Mutter einen neuen Typen kennen, der sie zurĂŒck zu den Drogen bringt und auch nicht an ihrem "Anhang" interessiert ist. Die Oxycontin-Krise ist groß und spielt im Buch als gesellschaftliche Problematik eine große Rolle. FĂŒr Damon ist es eine sehr persönliche Problematik, denn seine Mutter stirbt, und er beginnt eine Odyssee durch verschiedene Pflegeeinrichtungen. In einem Werk zeigte sich die Autorin besonders erschĂŒttert darĂŒber, dass die Aufnahme und Pflege von Waisen oder elternlosen Kindern in den USA ein GeschĂ€ft ist, bei dem Mindeststandards zuverlĂ€ssig verletzt werden und diejenigen, die mit ihrer Einhaltung beschĂ€ftigt sind, so schlecht bezahlt werden, dass sie diesen Job verlassen, wenn nur irgendwie möglich. Körperlicher und seelischer Missbrauch, Zwangsarbeit und Ausbeutung sind einige der Folgen.

    In "Demon Copperhead" lĂ€sst Barbara Kingsolver den Protagonisten von Anfang an zu Wort kommen. Dies zeigt zum einen, wie klein und von wenigen Faktoren abhĂ€ngig Kinder auf ihren Weg geschickt und geprĂ€gt werden, zum anderen erkennen wir ZusammenhĂ€nge, weil sie uns durch kindliche Augen geschildert werden, und die wir ĂŒber den Zynismus der ZustĂ€nde lĂ€ngst verdrĂ€ngt hatten.

    Es ist eine harte Geschichte. Und wÀhrend sich Charles Dickens in "David Copperfied" ebenfalls mit heftigen Widrig- und GefÀhrlichkeiten auseinandersetzt, ist Barbara Kingsolvers Werk brutaler und direkter, weil es beschissene VerhÀltnisse sind, die JETZT, gerade eben so stattfinden oder stattfinden können.

    Das pralle Buch versammelt eine wachsende Zahl - ganz wie Kinder ihren Kreis bestĂ€ndig erweitern - von Menschen, die Demon feindlich gegenĂŒberstehen, oft im besten Fall noch indifferent, aber bis auf wenige Ausnahmen eben nicht voller Liebe und GĂŒte, wie es ein Kind braucht. Dabei sind die Ausnahmen rar, und umso wichtiger. Das sind Damons Freunde und Bekanntschaften, die aber ihrerseits mit Drogen und Armut zu kĂ€mpfen haben, aber es gibt auch Lehrer, die Damon ermutigen, seine Talente zu pflegen und ihm Achtung und Respekt entgegenbringen.

    Er findet die Liebe und verliert sie wieder. Er flieht, um seine Großmutter - die Mutter seines Vaters, den er nie kannte - zu suchen, und die Geschichte dieser Flucht ist das Herzzerreißendste, was ich seit langem gelesen habe.

    Barbara Kingsolver hat nach Selbstauskunft mit der Grundlage von Charles Dickens "David Copperfield" einen Weg gefunden, wie sie ĂŒber die verlorenen Kinder der Appalachen schreiben, und dabei ein positives Ende, mit Fantasie und der Magie der Vorstellung erzĂ€hlen kann.

    Ein Seitenstrang der Geschichte ist die Frage, warum die Einwohner der Appalachen so oft verhöhnt und als Rednecks und Hillbillies das kĂŒrzere Ende von Witzen sind. Es findet sich eine sehr ĂŒberraschende ErklĂ€rung, die hier nicht verraten wird. Sie lĂ€sst allerdings noch einmal die Ostfriesenwitze, die Anfang der 1990er Jahre allgegenwĂ€rtig waren, in einem anderen Licht erscheinen.

    Das waren jetzt viele Punkte zum Hintergrund, aber worum es ja geht, sind Lobpreisung oder Verriss. WĂ€hrend in dieser Rezension die ĂŒbergroßen Widrigkeiten im Vordergrund standen: das Erlebnis der LektĂŒre ist ein anderes als vielleicht vermutet. Voller GĂŒte, Leidenschaft, Tempo, Fantasie und einem Augenmerk auf aufregenden und ĂŒberraschenden Wendungen, ist es ein fantastischer Roman, Lobpreisung galore!

    Die diesjĂ€hrige Gewinnerin des Pulitzerpreises fĂŒr Belletristik ist Jayne Anne Phillips mit ihrem Roman "Night Watch", wir sind gespannt.



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  • Begibt man sich bei Google auf die Suche nach der Stadt Oceanside in Kalifornien, unweit von San Diego, so fördert einem selbige Suchmaschine in kĂŒrzester Zeit Bilder der Stadt zu Tage, die einen trĂ€umen lassen. Mit dem grĂ¶ĂŸten Holzpier an der WestkĂŒste und einer atemberaubende KĂŒste selbst, sowie besten klimatischen Bedingungen lĂ€sst sich leicht vorstellen, wie einfach man hier eine gute Zeit verbringen könnte. Dabei ist Oceanside einerseits die Stadt, in der die Autorin Brit Bennett geboren und aufgewachsen ist und andererseits der Schauplatz, an dem sie die Handlung ihres DebĂŒtromans Die MĂŒtter ansiedelt. The mothers erschien 2016 im Original und wurde zwei Jahre spĂ€ter auf Deutsch im Rowohlt Verlag veröffentlicht.

    Die MĂŒtter, die nicht nur titelgebend fĂŒr den Roman sind, sondern auch thematisch einen wichtigen Schwerpunkt bilden, erscheinen dabei in unterschiedlichsten Formen und bestimmen das Leben der beiden Protagonistinnen Nadia und Aubrey vor allem durch ihre Abwesenheit. WĂ€hrend Erstere ihre Mutter durch Suizid verlor, wandte sich Letztere von ihrer Mutter aufgrund traumatischer Ereignisse in ihrer Kindheit und Jugend ab. Beide MĂ€dchen sind Außenseiterinnen – die eine durch den Selbstmord ihrer Mutter dazu geworden – und finden dadurch, aber auch aufgrund ihrer unterschiedlichen Persönlichkeiten zueinander und werden schließlich zu Freundinnen. Den dritten in diesem Bunde bildet Luke, dessen Vater Pastor in der örtlichen Gemeinde ist und seine Frau und damit Lukes Mutter die strenge und gut organisierte Pastoren Gattin ist, welche grĂ¶ĂŸten Wert auf ihr Ansehen legt und die genau weiß, was fĂŒr ihren Sohn das Beste ist.

    Nadia zĂ€hlt dazu definitiv nicht, doch Luke ist ihre erste große Liebe und mit 17, kurz nach dem Verlust ihrer Mutter, wird sie ungewollt von ihm schwanger. Sie entscheidet sich gegen das Baby, nicht wissend, dass es fĂŒr Luke eine Option gewesen wĂ€re, es zu behalten und nicht ahnend, dass das Geld fĂŒr die Abtreibung von Lukes Eltern kommt, denen es nur Recht ist, dass Nadia sich um „das Problem“ kĂŒmmert und der gute Ruf der Familie unbeschadet bleibt, auch wenn sie damit gegen ihre Religion handeln. Der Schwangerschaftsabbruch stellt auch das Ende der Beziehung der beiden dar und verweist ebenfalls auf den Titel des Romans und die Frage nach Mutterschaft. In diesem Fall nicht gewollt und doch gedanklich immer in Nadias Hinterkopf, auch aufgrund der Tatsache, dass ihre eigene Mutter im nahezu selben Alter mit ihr schwanger gewesen ist und sich fĂŒr sie entschieden hat.

    Im Verlauf der Handlung werden schließlich Luke und Aubrey ein Paar. Aubrey, die eher ruhig und zurĂŒckhaltend ist, ohnehin in der Gemeinde arbeitet und von Lukes Mutter fast schon wie eine Tochter behandelt wird, ist damit die perfekte Schwiegertochter. Aubrey kennt jedoch die vollstĂ€ndige Vergangenheit, die Nadia und Luke miteinander teilen, zunĂ€chst nicht. Diese wird ihr nach und nach klar und bestimmt auch die Dynamik der drei und den Fortgang der Geschichte.

    Bereits aus der griechischen Tragödie kennen wir den Chor, der als Bindeglied zwischen Publikum und Schauspielern diente, kommentierte und eine moralische Instanz darstellte. Auch in Brit Bennetts Roman finden wir eine Art Chor, es ist der Chor der MĂŒtter, der sich meist am Anfang der Kapitel zu Wort meldet und zum Lesenden spricht. Sie berichten von ihrer eigenen Vergangenheit, kommentieren die Geschehnisse und verweisen immer wieder darauf, dass sie nicht alle Details der UmstĂ€nde – also des Skandals der Abtreibung – kannten, was sie jedoch nicht davon abhĂ€lt, nicht von ihrem moralischen Podest herunter zutreten und zu bewerten. Trotz ihrer eigenen Geschichte benehmen sie sich teilweise, man möge mir den Ausdruck verzeihen, wie alte Klatschweiber; zumindest machten sie diesen Eindruck wĂ€hrend der LektĂŒre auf mich.

    Brit Bennetts Roman glĂ€nzt durch seine thematische VielfĂ€ltigkeit. Mit den MĂŒttern bzw. deren Abwesenheit verknĂŒpft sie das Thema IdentitĂ€t und die Suche nach selbiger: „Und wenn es möglich war, den Menschen nicht zu kennen, dessen Leib einem das erste Zuhause gewesen war, wie konnte man dann ĂŒberhaupt einen Menschen kennen?“ Diese Suche nach sich selbst findet außerdem in einem rein schwarzen Umfeld statt, zu dem die Autorin selbst auch gehört. Das Thema Rassismus wird dabei eher subtil behandelt und findet sich treffend auf den Punkt gebracht in beispielsweise folgendem Zitat wieder: „Er ging mit der Tatsache, dass er Weißer war, genauso um wie alle linksliberalen Weißen: Er nahm sie nur zur Kenntnis, wenn er sich durch seine Hautfarbe benachteiligt fĂŒhlte, und ignorierte sie ansonsten.“ Aber auch die Themen Freundschaft, Liebe und Einsamkeit, sowie falsche Moral sind stetige Begleiter im Roman und machen das gefĂŒhlsmĂ€ĂŸige Spannungsfeld in dem sich die drei Protagonist:innen bewegen nachfĂŒhlbar und zu einem empfehlens- und lesenswerten Roman.

    Nicht weniger empfehlenswert ist auch ihr zweiter Roman Die verschwindende HĂ€lfte, welcher 2020 erschien und der fĂŒr mich ebenfalls ein Pageturner war. In diesem widmet sie sich dem Thema IdentitĂ€t und Herkunft auf eine neue, ungewöhnliche und nicht weniger spannende Weise.



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  • Ich habe einen tschechischen Freund und kann das nur empfehlen. Ein Jeder sollte einen tschechischen Freund haben, es hat nur Vorteile!

    Erstens trinkt man nie wieder schlechtes Bier. In welcher Schenke auch immer man sich befindet, man schickt dem tschechischen Freund ein Foto der GetrĂ€nketafel und erhĂ€lt binnen Sekunden die Information, welche Biersorte zu empfehlen, welche zu meiden sei. Nur kurze Zeit spĂ€ter folgt ein kurzer Abriss zur Geschichte der angebotenen Sorten, sowie der herstellenden Brauerei und Informationen darĂŒber, welche Fußballvereine der unteren tschechischen Ligen das GetrĂ€nk anbieten, samt zu erwartender Preise in CZK und EUR.

    Zweitens, kann man sich den Erwerb einer Wetterapp fĂŒrs Smartphone sparen. Denn speziell im böhmischen Wetterkessel ist man seit Jahrhunderten bewandert darin, exakte Vorhersagen ĂŒber Niederschlagszeiten und -mengen tĂ€tigen zu können, allein durch einen Blick in den Himmel. Das Aufkommen moderner Vorhersagetechnologie wird da nicht als Konkurrenz verstanden, sondern als BestĂ€tigung der eigenen ProgonosefĂ€higkeiten.

    Drittens jedoch, eröffnet ein jedes GesprĂ€ch mit dem tschechischen Freund einen Einblick in einen Kulturraum, den man als Angehöriger eines so viel grĂ¶ĂŸeren Sprachgebiets zu oft mit Ignoranz straft - zum eigenen Verlust. Dabei werden starke Meinungen vertreten, nicht in Abgrenzung zu anderen Kulturen (ok, die Polen ausgenommen), nein, ein jeder Tscheche, so hat man das GefĂŒhl, besitzt einen unerschöpflichen Vorrat an Meinungen zu den landeseigenen Kulturschaffenden aus Literatur, Theater, Funk und Fernsehen. Und von Heavy Metal sollte man gar nicht erst anfangen, wenn man vor dem Morgengrauen ins Bett möchte.

    Das habe ich letztens nur knapp geschafft, nach einem GesprĂ€ch in einer der in meiner deutschen Heimatstadt mittlerweile, und dankenswerterweise, etablierten böhmischen Bierstuben. Ein GesprĂ€ch, wie ich es in Prag und Brno, ÚstĂ­ und Děčín an Nachbartischen schon so oft sprachunfĂ€hig beneidet habe, endlich war ich Teil davon, dank des tschechischen Freundes und seiner Großmutter, denn die sprach deutsch und so tat er es ihr nach. Zum Prager Urquell wurde gedisst (Kundera), genaserĂŒmpft (Havel), stolzgebrĂŒstet (Kafka). Anekdoten wurden erzĂ€hlt, selbsterlebt oder legendĂ€r in der Heimat. Und als ich kurz ĂŒberlegte, ob wir denn bei Lob und Verriss schon mal einen Autor aus dem so nahen Nachbarland rezensiert hĂ€tten, fiel mir keiner ein (weil ich alt bin, denn ich hatte natĂŒrlich “Klapperzahns Wunderelf” vergessen.) Dennoch, nur ein einziger rezensierter tschechischer Autor in 17 Jahren, das ist peinlich und traurig und so nahm sich der tschechische Freund meiner an und empfahl und verwarf, rang mit sich und der Welt, welche oder welcher es denn sein solle, welches tschechische Buch baldmöglichst im Studio B vorgestellt werden solle. Keiner der ganz großen: Kafka hat zu wenig geschrieben und den hatten wir auch alle in der Schule; Kundera ist doof und ein VerrĂ€ter; keiner der Jungen: Jaroslav RudiĆĄ ist zwar witzig aber auch doof (vielleicht war er auch witzig und cool, es gab Pilsner Urquell). Nach einigem solchen Hin und Her leuchteten die Augen des tschechischen Freundes plötzlich auf und es wurde festgelegt: Der Pavel Kohout muss es sein! Hierzulande eher unbekannt, hat er ein OuvrĂ© das sich ĂŒber Jahrzehnte erstreckt. Ja, man kann da etwas Neues, Modernes lesen, aber es soll ein Roman sein, der von der Idee her so entzĂŒckend und ergrĂ€ulich zugleich sei, ja, der mĂŒsse es sein! Des Buches Namen: “Die Henkerin”.

    Ich hĂ€tte mir den Lesebefehl zwar sofort zu Herzen genommen und die Kindle-App gestartet, mir wurde dennoch begeistert gespoilert warum es “Die Henkerin” sein soll und wenn mir das widerfuhr, widerfĂ€hrt es auch der Rezensionsleserschaft, zumal der Spoiler klitzeklein ist: das Folgende wird alles im ersten Teil des Buches abgehandelt, der Kindle sagt innerhalb der ersten 7%, und ist tatsĂ€chlich eine wunderschöne Romanidee und 1978 in der Tschechoslowakei geschrieben, funktioniert sie auch tatsĂ€chlich fast nur dort:

    So wie alles in den sozialistischen Planwirtschaften des Ostblocks, war auch die Berufswahl gesteuert und damit die Verantwortlichkeit fĂŒr die berufliche Zukunft der sozialistischen Kinder nicht immer besonders verantwortlichen Beamten unterstellt. An einen Ebensolchen gerĂ€t Lucie TachecĂ­ mit ihrer vierzehnjĂ€hrigen Tochter LĂ­zinka. Letztere hatte sowohl die Voraussetzungen fĂŒrs Abitur knapp verpasst als auch die zur Musikhochschule. Der Tochter eines Philologen und einer Hausfrau mit Niveau drohte ein Abgleiten in ein proletarisches Leben. Eine Katastrophe vor allem fĂŒr die Mutter, der Herr Professor lebt eh in einer Welt zwischen syn- und diachronischer Syntax. Also ließ Frau TachecĂ­, wie das damals so war, ihre Beziehungen spielen und erfuhr, wer der aktuelle Vorsitzende der Berufsberatungskommission ist, es sei ein Herr, dem man wohl mit ein bisschen weiblichen Reizen oder einer Flasche Kognak den Kopf verdrehen könne. Und so blieb also es wieder mal an ihr hĂ€ngen, denn ihr Mann, der Professor, ist zu weltfremd und unfĂ€hig auch nur eine klitzekleine Bestechung vorzunehmen. Es takeln sich Mutter und Tochter auf, nur um beim Betreten des Kommisionszimmers gewahr zu werden, dass die Information nicht ganz aktuell war: es gibt einen neuen Komissionsvorsitzenden und der ist ein grauer, böser Mann, absolut unbestechlich, weder durch auslĂ€ndische SchnĂ€pse, noch durch weibliche Busen. Eine Katastrophe. Es werden verschiedene Berufswege aufgezeigt, BĂ€uerin!, BĂ€ckerin!, alles komplett unakzeptable, nicht standesgemĂ€ĂŸe Professionen. Verzweifelt und den TrĂ€nen nahe, wenden sich die beiden Damen ab, als dem Herrn Vorsitzenden einfĂ€llt, dass es im Ordner PST aka “Papiere streng geheimer Natur”, doch kĂŒrzlich ein neues Stellenangebot gab. Er stellt LĂ­zinka ein paar seltsame Fragen: wie sie sich selbst einschĂ€tze, zum Beispiel, sei sie jemand, bei deren Anblick in unangenehmen Situationen man sich eher besĂ€nftigt fĂŒhlen wĂŒrde, was sie durchaus bejahte. Auch, so stellte er fest, seien ihre intellektuellen Leistungen nicht so weit von der Abiturreife entfernt. Er habe hier eine ganz besondere Stelle im Angebot: so die Tochter und die Mutter es denn wĂŒnschten, könnte LĂ­zinka eine einjĂ€hrige Ausbildung zur Vollstreckerin mit Abitur annehmen. Die Mutter, im Angesicht der drohenden Alternativen: BĂ€uerin oder BĂ€ckerin, kaum noch aufnahmefĂ€hig, nimmt an, ja klar, eine Vollstreckerin, klingt wichtig, es sei so!

    Wir, im Besitz der Information ĂŒber den Titel des Buches wissen, was die Tochter da unterschrieben hat und auch die Eltern lernen bald, dass ihre Tochter - eine Henkerin werden wird!

    Wir deutsche Leser freuen uns ĂŒber ein gelungenes Setup und hinterfragen zunĂ€chst nicht, ob es denn in 1978 in der ČSSR noch die Todesstrafe gab. Um ehrlich zu sein, wir können es uns nicht vorstellen. Zu liberal ist unsere Welt, zu aufgeklĂ€rt das Europa, in dem wir den Roman fast fĂŒnfzig Jahre spĂ€ter lesen, war doch schon 1964 in Großbritannien der letzte Henker in Ruhestand gegangen. Welch ein Verlust fĂŒr die Gesellschaft, meint der fiktive Professor Wolf im Roman, halte doch die ultimative Strafe Verbrecher, wie potentielle solche, auf Trapp und, machen wir uns nichts vor, der Mensch ist schlecht, ein jeder steht mit einem Bein in der Guillotine. Und natĂŒrlich hat Professor Wolf auch zu dieser eine Meinung: abzulehnen, nicht handwerklich genug. Er hat ĂŒberhaupt zu allem eine Meinung, was das regulierte Umbringen von Menschen betrifft und Pavel Kohout gibt uns durch ihn einen faszinierenden, von Quellen nur so sprudelnden Abriss ĂŒber das Wesen des Unwesens mit dem sich Menschen seitdem sie sich SchĂŒrzen vor die Lenden binden gegenseitig reguliert umbringen. Und da geht es nicht nur um das “warum”, nein, es geht vor allem um das “wie”. Erschießen: zu unpersönlich, Kopf abhacken: muss man ĂŒben, Garotte: eigentlich recht elegant - aber es gibt an sich nur eine wahre Art der Hinrichtung und das ist der fachgerechte Genickbruch durch den Strang. Diese jahrhundertealte Kunst gelte es zu bewahren, weshalb Professor Wolf seit Jahren im Rahmen der politischen VerhĂĄltnisse in der Tschechoslowakei Lobbyarbeit betreibt um eine Lehre, nein, eine Schule, nein, noch besser: eine UniversitĂ€t des Hinrichtens zu etablieren. Dabei findet er Mitstreiter in allen Ebenenen der Justiz: StaatsanwĂ€lten und Verteidigern, die in wilder Ehe leben, perverse Richtern, korrupte Politiker und einem Stamm von Azubis hat er sich auch schon besorgt, sechs Jungs mit unterschiedlichen Qualifikationen: TierquĂ€ler, Söhne von Vollzugsbeamten oder geschickte Metzgerssöhne. Nun hat er aber sieben Ausbildungsstellen zum Henker bewilligt bekommen, weshalb die Ausschreibung in der Mappe der Berufsberatungsstelle gelandet war. Als sie von der Vermittlung eines MĂ€dchens erfuhren, waren Professor Wolf und sein Assisten Schimmsa eher skeptisch aber bald ĂŒberzeugte man sich, dass das ein kongenialer Schachzug sei, es sei nun mal das Zeitalter der Emanzipation der Frau zumal ein historische PrĂ€zedent, zudem die beeindruckende Leistung der potentiellen Henkerin in der EignungsprĂŒfung die Herzen der PĂ€dagogen höher schlagen ließen - und das alles hatte natĂŒrlich ĂŒberhaupt nichts mit dem zauberhaften Aussehen der neuen Studentin zu tun.

    Das alles wurde geschrieben um das Jahr 1978 herum, 12 Jahre, ein Systemwechsel und eine Landestrennung vor der Abschaffung der Todesstrafe. Denn, ja, als das Buch geschrieben wurde, gab es sie in der CSSR (wie auch in der DDR) noch und wir können uns nur wundern, wie kam dieses Buch durch die Zensur? Kam es natĂŒrlich nicht. Pavel Kohout, Jahrgang 1928, mitunterzeichner der Charta 77, war, als er den Roman schrieb bereits mit einem Bein im österreichische Exil.

    Aber ok, warum liest man das heute, fast fĂŒnfzig Jahre spĂ€ter. Die einen werden einwenden “Warum liest man ĂŒberhaupt alte BĂŒcher?” und ich sage “Exakt!” und bin damit sicher nicht in der Minderheit. Anne Findeisen guckt mich dabei naserĂŒmpfend an und Irmgard Lumpini möchte auch, kann aber nicht, ich kenne ihre Leseliste - alles neues Zeugs. Ich bin nicht mehr in der Schule, wo die Zolas, die Gorkis und die Kants Pflicht waren und lasse es normalerweise mit Neuerscheinungen Galore krachen. Und trotzdem, am Ende hab ich die Henkerin zu Ende gelesen. NatĂŒrlich ein bisschen aus PflichtgefĂŒhl dem tschechischen Freund gegenĂŒber. Es liest sich schon ein bisschen zĂ€h, das Tempo der 70er ist nicht kompatibel mit unserer aktuellen Aufmerksamkeitsspanne. Aber Kohout schafft es zu fesseln. Da ist zunĂ€chst das Sujet: Endlos Tote, Grime und Splatter, es passt in die Zeit, wie fast nichts und wenn ich in Hollywood wĂ€re, hĂ€tte ich mir die Rechte schon lange unter den Nagel gerissen, das Script in die 2020er verpflanzt und mir von der Netflixkohle eine Insel vor Hawaii gekauft. Denn, so skurril das Buch beginnt, als nicht viel mehr als eine Sozialkomödie, fast Slapstick, so deep, wie man heute sagt, wird es nur wenig spĂ€ter. Wir merken, spoilerfrei, dass die Henkerin selbst physisch passiv bleibt, nachdem sie ihr Talent in der EignungsprĂŒfung beeindruckend unter Beweis gestellt hatte, indem sie einem Karpfen und einem Huhn ohne zu zögern den Kopf abhieb. Aber als Fremdkörper in einer MĂ€nnerwelt voller SĂŒchte, Sehnsucht, Selbstbetrug und Schweinereien treibt sie sirenenhaft einen Protagonisten nach dem anderen in den Wahnsinn. Diese Storyline nimmt Kohout zum Anlass aus der reinen Groteske, der tiefschwarzen Satire des real existieren Sozialismus, einen tiefen Blick in unser aller Möglichkeiten zu Selbstbetrug, -verliebtheit, -gerechtigkeit bis zum Selbstmord zu werfen. Keiner der Protagonisten in ihrer Niedertracht oder auch nur abgrundtiefen Bescheuertheit ist sympathisch, aber wir alle finden etwas von ihnen in uns und das ist der wahre Schrecken eines sich schlussendlich zum amtlichen Horrorroman wandelnden Werkes: Es wird alles an Schweinereien geben, die der Mensch sich, seinen Mitmenschen oder auch “nur” -tieren antun kann und doch ist keine der Szenen sinnfreie Splatter, alles ist Philosophie, Psychologie, Geschichte. Das alles durchzogen von diesem speziellen tschechischen Humor, den, so scheint mir, wir Deutschen nicht wirklich verstehen. Aber als 1/8 Schlesier und Dresdner ist man ja fast ein Tscheche, ich habe also an allen unmöglichen und verbotenen Stellen laut lachen mĂŒssen, sorry dafĂŒr, ich lache bekanntermaßen ĂŒber alles. FĂŒr ernstere Menschen konstatiere ich: man muss es ausprobiert haben, das Taschenbuch kostet drei EUR, eine Menge Leser werden es aus unterschiedlichsten GrĂŒnden nach 50 Seiten weglegen, aber ein paar Prozente kommen mit der Sprache zurecht, dem Humor und dem Sujet und fĂŒr diese ist es ein ganz außergewöhnliches Buch, das sie ihr Lebtag nicht vergessen werden!



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  • Mein Studio B Klassiker hat zwar noch keine ganz so dicke Staubschicht angesetzt, wie der, den Herr Falschgold letzte Woche zum Besten gegeben hat, aber obwohl die Rezension erst circa zwei Jahre alt ist, ist nun der perfekte Moment noch einmal daran zu erinnern. KĂŒrzlich durfte ich nĂ€mlich sehr erfreut feststellen, dass das Buch Ende des Jahres als Kinofilm erscheint. Die perfekte Gelegenheit es erstmalig oder erneut zu lesen, bevor man sich die Kinoversion zu GemĂŒte fĂŒhrt.

    Die irische Autorin Claire Keegan, die vor allem durch ihre Kurzgeschichten Bekanntheit erlangte und dafĂŒr vielfach ausgezeichnet wurde, veröffentlichte 2021 ihren ersten Roman Small things like these. Dieser erschien 2022 im Steidl Verlag unter dem Titel Kleine Dinge wie diese auch auf deutsch und erreichte im selben Jahr die Shortlist des Booker Prize. Im Mittelpunkt ihrer fiktiven Geschichte steht dabei nicht nur ihr Protagonist Bill Furlong, sondern auch die historische RealitĂ€t der Magdalenenheime oder Magdalenen WĂ€schereien wie sie oft genannt wurden, da die Heime oder Klöster meist WĂ€schereien betrieben. Bis 1996, als schließlich das letzte dieser Heime in Irland geschlossen wurde, standen sie im Ruf von Besserungsanstalten, vor allem fĂŒr Prostituierte oder auch ledige MĂŒtter – oft Opfer von Vergewaltigungen. Wie spĂ€ter bekannt wurde, wurden die Frauen jedoch meist zu harter körperlicher Arbeit gezwungen, körperlich gezĂŒchtigt und in den Heimen geborene Babys wurden oft zur Adoption an reiche Familien freigegeben, wenn sie nicht in den Heimen starben. Genaue Zahlen sind nicht bekannt. Fakt ist jedoch, dass diese Einrichtungen von der katholischen Kirche und dem irischen Staat gemeinsam betrieben und finanziert wurden und das lange darĂŒber geschwiegen wurde, was in solchen Einrichtungen tatsĂ€chlich stattfand.

    Keegans Protagonist Bill Furlong, dessen Mutter als Hausangestellte bei der protestantischen Witwe Mrs. Wilson arbeitet, als sie mit ihm schwanger wird, ergeht es jedoch anders und sie hat GlĂŒck. WĂ€hrend sich die Familie von Furlongs Mutter, nach Bekanntwerden ihrer Schwangerschaft, von ihr abwendet, lĂ€sst Mrs. Wilson sie weiter bei sich arbeiten. Sie ist es auch, die sie ins Krankenhaus bringen lĂ€sst und sie und Furlong nach dessen Geburt am 01. April 1946 zu sich nach Hause holt. Sie nimmt ihn unter ihre Fittiche, stĂ€rkt sein Selbstbewusstsein und motiviert ihn, sich selbststĂ€ndig Wissen anzueignen. Als er 12 Jahre als ist, stirbt seine Mutter, ohne dass er jemals erfĂ€hrt, wer sein Vater ist und als er sich Jahre spĂ€ter verlobt, schenkt Mrs. Wilson ihm Geld, damit er sich eine Existenz aufbauen kann.

    Der Hauptteil der Handlung spielt aber um 1985, als Bill Furlong schließlich erfolgreich als Kohlen- und BrennstoffhĂ€ndler arbeitet und mit seiner Frau Eileen fĂŒnf Töchter hat. Es ist die Zeit kurz vor Weihnachten und Claire Keegan schafft es mĂŒhelos, den Leser in die AtmosphĂ€re des StĂ€dtchens New Ross zu entfĂŒhren, die durch die rauchenden Schornsteine, kahlen BĂ€ume und kalten Winde und den Fluss Barrow, der „dunkel [ist] wie Stout“, besticht. Als Furlong kurz vor Weihnachten eine Fuhre Kohlen zum Kloster liefern muss, entdeckt er dabei zufĂ€llig eine junge Frau, die, vermutlich schon seit mehreren Tagen, in einen Schuppen gesperrt wurde. Er befreit sie und bringt sie an die Pforte, wo er und die völlig verĂ€ngstigte junge Frau von der Oberin selbst eingelassen werden, die den Vorfall jedoch herunterspielt und das Geschehene banalisiert. Furlong ist so schockiert von dem Erlebten, dass sich in ihm nicht nur Entsetzen, sondern ein regelrechter Widerwille regen, den er nicht mehr abschĂŒtteln kann, nachdem er das Kloster verlassen hat und der den Fortgang der Geschichte bestimmen wird.

    Etwas mehr als 100 Seiten genĂŒgen Claire Keegan, um dem Leser eine ganze Welt zu eröffnen, die, nicht zuletzt, auch von ihren Naturbeschreibungen getragen wird. Dabei dient die Natur nicht nur dazu, die herrschende Stimmung zu untermauern. bzw zu tragen, sondern kann geradezu als Metapher fĂŒr Unheil und die unterschwellige Bedrohung gelesen werden. Ein Beispiel hierfĂŒr ist die beschriebene Vielzahl an KrĂ€hen, die nicht nur in „schwarzen SchwĂ€rmen“ die Stadt belagern, wie man es noch nie gesehen hat und Aas fressen, sondern auch ihren Schlafplatz in den BĂ€umen rund um das Kloster haben. Wodurch das Kloster noch bedrohlicher erscheint und das zu Recht, wie wir wissen. Auch den Bewohnern von New Ross sind bereits GerĂŒchte ĂŒber das Kloster und die Nonnen zu Ohren gekommen. Sie werden jedoch ignoriert bzw. halten die Menschen es fĂŒr besser, sich nicht um fremde Angelegenheiten zu kĂŒmmern. So hĂ€lt es auch Furlongs Frau Eileen, die bemerkt, dass ihren Mann das Vorgehen im Kloster beschĂ€ftigt, ihm jedoch dazu rĂ€t, sich um seine eigene Familie zu kĂŒmmern.

    Doch Keegan schafft mit Furlong einen Protagonisten, dem dies nicht möglich ist. Er steht als Prototyp fĂŒr viele Iren, die zu lange die VorgĂ€nge um sich herum ignoriert oder geduldet haben und verkörpert gleichzeitig das Ideal eines Menschen, der sich nun dagegen auflehnt. Er wird uns als dankbarer Mensch beschrieben, fĂŒr den es selbstverstĂ€ndlich ist, Anderen zu helfen und denjenigen, denen es schlechter geht als ihm, seine letzten MĂŒnzen zu steckt. Dies hat nicht zuletzt etwas damit zu tun, wie er selbst aufgewachsen ist, damit, dass vielleicht auch seine Mutter und somit er selbst nur knapp dem Schicksal in einer solchen WĂ€scherei entgangen sind und, dass Mrs. Wilson ihn geradezu wie ihr eigenes Kind behandelt hat, ohne etwas darauf zu geben, was Andere darĂŒber denken. Er ist demĂŒtig fĂŒr das, was er in seinem Leben erreicht hat, sorgt sich aber auch um seine fĂŒnf Töchter und ob sie in der Welt zurechtkommen werden. Seine Familie und die damit einhergehende Verantwortung bringt ihm auch das UnverstĂ€ndnis seiner Frau ein, denn sie und auch Bill wissen um die Macht der katholischen Kirche und wie fragil ihr bisheriges Leben ist, möchte er doch selbst seine Töchter auf dem katholischen Internat anmelden: „Furlong wusste, dass es das Einfachste von der ganzen Welt war, alles zu verlieren.“ (S.12) Und doch siegt in ihm das Verlangen, dem Leid, von dem er vorher nur gerĂŒchteweise gehört hat und das er nun mit eigenen Augen gesehen hat, nicht lĂ€nger tatenlos gegenĂŒberzustehen. Zudem löst es ein Unbehagen gegenĂŒber seinen Mitmenschen in ihm aus, die sich fromm geben, aber nicht entsprechend handeln:

    „WĂ€hrend sie weitergingen und immer mehr Menschen begegneten, die Furlong kannte und doch nicht wirklich kannte, fragte er sich, ob es ĂŒberhaupt einen Sinn hatte, am Leben zu sein, wenn man einander nicht half. War es möglich, all die Jahre, die Jahrzehnte, ein ganzes Leben lang weiterzumachen, ohne wenigstens einmal den Mut aufzubringen, gegen die Gegebenheiten anzugehen, und sich dennoch Christ zu nennen und sich im Spiegel anzuschauen?“ (S.78)

    Claire Keegan fĂŒhrt uns durch ihren Protagonisten auf beeindruckende Weise vor Augen, wie Gesellschaften funktionieren und wie es möglich sein konnte, dass es in der Geschichte Irlands zu einem solchen Skandal kommen konnte. Es ist die Mischung aus VerdrĂ€ngung, Verschweigen, AbhĂ€ngigkeit und Angst, fĂŒr die Keegan keine 700 Worte braucht – denn es sind die kleinen Dinge – und doch so eindringlich, knapp und deutlich formuliert, dass man – oder zumindest ich – sofort die inneren Konflikte ihres Protagonisten nachfĂŒhlen konnte und deren Werk noch eine Weile in mir nachhallen wird, weswegen ich es nur jedem dringend ans Herz legen kann.



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  • Viel klassischer geht’s nicht. Vor mehr als siebzehn f*****g Jahren schrieb ein sehr junger Herr Falschgold seine Begeisterung fĂŒr einen gewissen Alexander Kluge auf, las die Zeilen ein und bat den damals noch viel jĂŒngeren Tom Vogel aus Kluges Werk zu lesen. Umrahmt von Musik! So haben wir das damals gemacht, vor dem Krieg.

    Und da die AI, bevor sie uns alle umbringt, aktuell noch so tut, als wĂ€re sie hilfreich, hat sie die Episode vom 14. September 2007 ziemlich gut lesbar ĂŒbersetzt, fĂŒr alle, die gerade ohne Headphones im Zug sitzen. Irgendwo oben rechts sollte ein “Transcript”-Button sein.

    Und ja, wir bringen diesen Monat Wiederholungen, das ganze Kollektiv ist abwechselnd mit Urlauben, Dienstreisen und sonstig Hinderlichem zugange, in vier Wochen geht’s weiter!



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  • Was Kunst ist, darĂŒber wird gestritten, seit in einer Höhle in der NĂ€he von Chauvet im heutigen Frankreich, UggoUggo, der Höhlenzeichner, der die Pferde so toll malen konnte, dass sie im Schein des Lagerfeuers zu laufen begannen, dem GrakhGrakh erklĂ€rte, dass es nicht reiche, einfach seine HĂ€nde in roten Lehm zu patschen und hinterher an die Wand. Das mit ihm einfach nichts geschehe, meinte UggoUggo, beim Betrachten dieser sinnlosen Handabdrucke, Grakh solle das bitteschön zu Hause in seiner f*****g Höhle machen und nicht hier in der Gemeinschaftsgrotte, und die ZokhZokh vom Feuilleton sĂ€he das nĂ€mlich genauso. Grakh scherte sich, leise vor sich hinbrummelnd, das Kunst immernoch das sei, was man zu Kunst erklĂ€re, und dass die ZokhZokh in der Tasche von Big-Art stecke, wisse jeder.

    Runde 30.000 Jahre spĂ€ter versammeln sich nun alle zwei Jahre KĂŒnstlerinnen, Kuratoren, Feuilletonistinnen und kunstsinnige Besucher ein paar hundert Kilometer westlich der durch einen machbaren Dokumentarfilm von Werner Herzog berĂŒhmt gewordenen urzeitlichen Höhlen, genauer: in Venedig, um immer noch die gleiche Frage zu diskutieren: “Was ist Kunst und warum?”

    Und es ist ja auch schwer. Mathematik ist, wenn auf beiden Seiten des = ungefĂ€hr das selbe rauskommt, easy. Gib mir einen festen Punkt im Weltall, und ich hebe Dir die die Welt aus den Angeln, wusste schon Archimedes und seitdem haben wir stabil: die Physik. Pornographie ist auch nicht schwer: Es ist Pornographie, wenn Du weißt, dass es Pornographie ist. Mit dieser unfehlbarer Ringlogik postulierte das 1964 in den USA der Richter Potter Stewart, ein Republikaner, no s**t. Die kennen sich ja bekanntlich aus und sind nebenbei unkorrumpierbar.

    Aber Kunst? Kunst ist einfach nicht zu greifen!

    Der kleinste gemeinsame Nenner ist wohl, dass es Kunst ist, wenn etwas mit Dir passiert. Was - ob gut, ob schlecht - ist schon wieder der Anfang eines viel zu lauten GesprĂ€ches zwischen einem Typen mit Brille und schwarzem Rollkragenpullover und einer Frau mit einem teuren Tuch um den Hals, und Du willst doch eigentlich nur ein Panini essen, zwischen dem Besuch des deutschen und des Schweizer Pavillon. Also geh ich raus aus dem “Ristorante In Paradiso” am Rande der “Giardini della Biennale” und setze mich unter einen Baum. Schon besser. Denn ich bin ein Konfliktvermeider, was eine so grundlegende Eigenschaft ist, dass sie auch meine Einstellung zur Kunst grundlegend bestimmt. Wenn etwas passiert, beim Erleben dieser, muss es angenehm sein. Sicher nicht zu 100%, so ein bisschen Schreck, ein bisschen Betroffensein, ein bisschen Schmerz gehören zur Experience, aber maximal soviel wie, sagen wir.. vielleicht: wie wenn man am Zahn puhlt und es ein bisschen nach Blut schmeckt. Absolute Obergrenze!

    Damit gehe ich also eher d’accor, wie man heute um Chauvet herum sagt, mit der Kunstkritikerin ZokhZokh und dem Höhlenzeichner UggoUggo, s.o., als mit Grakh. Denn der Grakh patschte ja mit seiner Hand neben dem Pferd nicht nur vermeintliche Kunst an die Wand, sondern auch ein Statement - wissen viele nicht. GrakhGrakh war nĂ€mlich der Meinung, dass die Pferde an der Wand seine seien oder zumindest seiner Bande, nicht den Fuckern drĂŒben in Montignac. Die Looser sollen sich zurĂŒck nach Afrika verpissen, wo sie herkommen, irgendwo muss man mal eine Grenze ziehen: wir hier, die dort. Hough.

    Runde 30.000 Jahre spĂ€ter, im Jahr 2024 in Venedig, zur 60. Biennale, widerspricht diese mit dem Motto “Foreigners everywhere” vehement. Dieses Motto geht zurĂŒck auf eine anarchistische Kommune aus Turin, die in den Mittzweitausendern diesen Spruch als Neonlichtinstallationen in der ganzen Stadt verteilte. Das ist natĂŒrlich a) clever b) richtig c) oh, sowas von richtig - aber es erhöht auch das Potential fĂŒr Kunst, die schmerzt, die im Mund ein bisschen zu sehr nach Blut schmeckt. Problematisch ist das fĂŒr Konfliktvermeider wie mich deshalb, weil ich doch so gerne zur Biennale fahre und mich einfach an Kunst satt sehen möchte.

    Nun, es ist Tatsache, dass Kunst immer ein bisschen auf die ZĂ€hne geht, nicht nur wegen des Puhlens, des kleinen Schmerzes, nein, selbst wenn man sich nur den schönen, interessanten, lustigen, crazy s**t anschaut - nach 2h Stunden in der Galerie ist man satt, ein bisschen ĂŒberfressen vielleicht, und alles klebt im Kopf, alles wird ein bisschen eng und man muss erst mal raus aus dem Kunstraum und rein in die Natur oder die Kneipe oder was sonst so die AufnahmefĂ€higkeit wieder auf normal bringt.

    Das kongeniale an der Biennale ist nun, dass sie nicht nur eine riesige Ausstellung ist, sondern dass sie in ganz Venedig stattfindet und dort nicht nur in einem Park in dort fest stehenden LĂ€nderpavillons plus einem riesigen Lagerareal namens “Arsenale”. Nein, ganz Venedig zeigt von April bis November die Biennale! Über dreißig locations in der ganzen Stadt - Kirchen, HĂ€user und PalĂ€ste - werden angemietet von LĂ€ndern, KĂŒnstlern, Kollektiven um ihre Kunst zu zeigen. Das Publikum flaniert dann von Ort zu Ort und malt mit seinem zur Schau stellen der eigenen KunstaffinitĂ€t ein Bild der BohĂšme, der Artsiness, als Kontrast zum ĂŒblichen Venedig-Touristen in kurzen, karierten Hosen, Sandalen und grauen StrĂŒmpfchen. Das macht Atmo, das schafft Weit- und WeltlĂ€ufigkeit, man hat was zu gucken, zu lachen, zu diskutieren, es ist ein Schlaraffenland des Inputs, des sich Freuens an der Welt, an jeder Ecke gibt es Espresso und Panini und ein Aufenthalt von drei Tagen LĂ€nge alle zwei Jahre, so lange braucht man ungefĂ€hr um alles zu sehen, kann man sich mit ein bisschen Sparerei irgendwie leisten. Klar, man ist immernoch ein f*****g Tourist in Venedig, was die Einheimischen angeblich nicht so ganz toll finden, aber 2 Euro fĂŒr eine kleine Flasche Acqua frizzante nehmen sie dann doch gerne, wie in allen Zentren des Tourismus auf der Welt. Man ist halt ein Fremder, ĂŒberall.

    So, wie gesagt das Motto der Biennale 2024. Ein gutes Motto, ein cleveres. Nun, die meisten KĂŒnstler sind offene, weltgewandte Typen und Tussen und gehen natĂŒrlich mit bei so einer Message. Aber gelesen wird sie denn doch unterschiedlich, je nach dem ob man aus einem Land kommt, in dem die Fremden als Schmarotzer angesehen werden, die einem seit Jahrunderten die Arbeit, die Frau, das Geld wegnehmen oder ob man wie wir aus dem globalen Norden kommt. Wenn man ein bisschen geschichtsbewusst und empathisch ist, hat man ein leises GefĂŒhl dafĂŒr, wie es in den KĂŒnstlern des SĂŒdens brodeln muss, im Angesicht von jahrhundertelanger Ausbeutung, Mord, Vergewaltigung und Versklavung, und wenn man dann so ein eigensinniger Kunstfuzzi ist, der alle zwei Jahre in Venedig Panini essen will zwischen zwei LĂ€nderpavillions, hat man ob des Mottos Angst, ob denn da ĂŒberhaupt noch Kunst rauskommt.

    Man hat Sorge vor der Wut der ehemals oder immer noch Kolonialisierten und ihrer Art und Weise, wie sie uns diese in die Galerien scheißen werden. Aber es drĂ€ut einem auch vor den KĂŒnstlern der ehemaligen und immer noch tĂ€tigen Imperialisten, dass man hier nur obligatorische Statements sehen werde, plumpe Entschuldigungsriten und Betroffenheitsgesten. Nun, ich kann beruhigen, die Biennale 2024 hatte auf Seiten der Auswahlkomitees und damit natĂŒrlich auch der KĂŒnstler, die von diesen ausgewĂ€hlt wurden, QualitĂ€t, es ist fast alles Ă€ußerst sehenswert. Die Beispiele, die aus dem “fast” fallen, kommen ausschließlich aus LĂ€ndern, die es sich supereinfach gemacht und ihren Pavillion an KĂŒnstlerinnen vermietet haben, die sie als “minderreprĂ€sentiert” einschĂ€tzen und sich damit klapp-klatsch die HĂ€nde vom kolonialen Dreck reinigen.

    Die Deutschen haben diese Probleme bekanntermaßen in ganz anderen Dimensionen und unabhĂ€ngig vom Motto der jeweiligen Biennale. Sie sind Profis im Entschuldigungsvermeiden und zeigen, wie es geht: Sie ließen sich diese Jahr von einer israelischen KĂŒnstlerin, die wiederum durchaus in der Kritik steht, ab und an mal die Leni Reifenstahl zu channeln, ein riesiges Raumschiff bauen, wie aus der Verfilmung eine Neal Stephenson Romans. Das kann man gut ansehen (ok, ich bin natĂŒrlich festgegangen) und man kann es als Exodusallegorie in alle Richtungen deuten. So geht das. Und den letzten Kritiker huschelt man ein, mit einer clever integrierten Installation mit einem tĂŒrkischstĂ€mmigen Gastarbeiter als zentraler Figur. Schachmatt.

    Die Franzosen ziehen sich wiederum komplett ins unpolitische zurĂŒck, werfen den Computer an, sorry, den Ordinateur, und begehen französischen Techno. Getoppt wird das nur von Ungarn, die einfach einen sehr sauberen Technofloor in ihr Haus bauen und leise ein bisschen umphumph spielen. Sauber.

    Japan flĂŒchtet sich in Physikexperimente aus der Grundschule, Strom aus Zitronen, kleine Rube-Goldberg-Maschinen mit Wasserdruck, die kleine Glöckchen bimmeln lassen. SĂŒĂŸ.

    Nur die Briten wissen genau was sie getan haben und weil Adam Curtis weiß ist und zu israelkritisch, finden sie John Akomfrah, der diese Probleme alle nicht hat und der dir das Hirn wegblĂ€st mit einer technisch, konzeptionell und Ă€sthetisch so riesigen Videoinstallation, wohl nur Teil eins von vier, dass man den ganzen Tag im britischen Pavillon verbringen möchte. Adam Curtis ohne Stimme aus dem Background und in ungesehenen Dimensionen. Episch.

    Schnitt zu den Kolonien (ehem., angeblich):

    Wenn wir aus dem Norden unser Land verlassen, kommen wir in der unter uns liegenden Welt im Allgemeinen als Touristen an, manchmal als Auswanderer. Ausreisende aus dem globalen SĂŒden hingegen sind immer die der Biennale den Titel gebenden AuslĂ€nder, Foreigners. Ihr Blick auf die Welt wird auf der Biennale kolonialhistorisch bedingt nicht in LĂ€nderpavillons dargestellt, denn die heutigen LĂ€nder dieses Teils der Welt gab es damals oft noch nicht und ohnehin erhielten nur wenige LĂ€nder ein eigenes Haus in den Giardini. Die Werke der KĂŒnstler aus dem “Rest der Welt” versammeln sich im Arsenal, der ehemaligen Waffenkammer Venedigs. Kunst als Waffe also. Dort, in zwei, drei riesigen Hallen, verliert sich die Trennung zwischen den einzelnen Nationen, man geht nicht mehr aus einem Haus, in einen Park, in ein Haus, sondern durch eine TĂŒr, einen Vorhang und manchmal einfach nur ĂŒber eine gemalte Linie von einem Land in das nĂ€chste. Dieser Nachteil in der Ă€sthetischen Trennung hat einen Vorteil: man sieht augenblicklich, was die Welt zusammenhĂ€lt - gemeinsame Erfahrungen, Probleme, TrĂ€ume - dargestellt in unterschiedlichen Techniken, Ästhetiken, aber auch IntensitĂ€ten. Wenn man, wie ich, ein konsequenter Nicht-Leser dieser seltsamen Tafeln am Eingang von Ausstellungen ist, die einem erklĂ€ren, was man zu sehen hat (und die auf dieser Biennale gefĂŒhlt zu 80% von ChatGPT stammen), kann man sich ganz wunderbar ein Bild von den eigenen Vorurteilen machen. Ein Raum, der auf der einen Seite eine große Videoinstallation aus Mexiko zeigt, wurde von mir knallhart nach Bosnien verortet, die andere Seite des Raumes wurde von den Vereinigten Emiraten bespielt. Hier war ich mir todsicher, dass es irgendein progressives Afrikanisches Land, ist, welches eine Installation aus GepĂ€ck, zurĂŒckgelassen und mitgenommen, mit gemalten Karten von Dörfer kombiniert. FlĂŒchtlinge halt. Bummer, eine Diktatur prĂ€sentiert sich so. Was ist los? Das ist fĂŒr mich spannend, zumal ich, als beschrĂ€nkt interessierter weißer Dude oft nur schwer Zugang zu außerwestlicher Ästhetik finde und popkulturell auf diesem Gebiet eh nur crazy s**t aus Japan oder manchmal China in die Timeline gespĂŒlt bekomme statt, sagen wir, Jazz aus Nigeria. Aber da hilft der Komplettismus, den einen bei einer Veranstaltung wie der Biennale zwangslĂ€ufig packt (”Wir haben Hongkong noch nicht gesehen!” - was zu einem 20 MinĂŒtigen Joggingkurs kurz vor der Schließzeit fĂŒhrt). Durch lauter Repetition, ein Raum, noch ein Raum, noch ein Raum in afrikanischer Kunst sieht man plötzlich Pattern und findet diese gut und interessant.

    Was mir als kunstbeseelter sweet tooth natĂŒrlich auch sehr half bei dieser Biennale, Thema: Blut im Mund, siehe oben, war, dass die einzelnen LĂ€nder insgesamt doch sehr, sehr nett zu ihren ehemaligen Vergewaltigern sind und sich in ihrer Kunst oft mehr auf ihre Innenansicht beziehen oder gar, what? no?!, einfach gute Kunst machen mit nur minimalem politischen Kontext.

    Das macht also auch die diesjĂ€hrige Biennale fĂŒr mich zu dem kulturellen Highlight des Jahres. Ja, die Airbnb Preise sind tödlich, dafĂŒr fliegt f*****g Ryanair. Wenn man, so habe ich das kompetent ausgerechnet, 25 eur/Monat zurĂŒcklegt, kann man sich diese Kunstvöllerei aller zwei Jahre locker leisten, so man drei Tage von Pannini und Espresso leben kann. Und dass das geht, vereint dankbar die ganze Welt. Auf nach Venedig!



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  • Wer bei fĂŒnf BĂŒchern aus drei Rezensionen nichts Gutes findet, dem ist kaum zu helfen. Zumal die beiden Werke, die Irmgard Lumpini und Anne Findeisen in den letzten drei Wochen rezensierten, ganz glasklare Lobpreisungen waren und Herr Falschgold verriet, dass von den drei völlig skrupellos nicht zu Ende gelesenen Werken aus seinem Beitrag von vor drei Wochen eines am Ende doch so faszinierend war, dass es - sobald es auf deutsch erscheint - eine ausfĂŒhliche Besprechung geben wird.

    Hier die Liste der diskutierten BĂŒcher:

    * Rita Bullwinkel: Headshot/Schlaglicht (Rezension: Irmgard Lumpini)

    * Tess Gunty: Rabbit Hutch/Der Kaninchenstall (Rezension: Anne Findeisen)

    * Taffy Brodesser-Akner: Long Island Compromise

    * Shalom Auslander: Feh

    * Neal Stephenson: Fall; or, Dodge in Hell (alles kind of rezensiert von Herrn Falschgold)



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  • Liebe Leserinnen und Leser,

    manche Kreise sind groß und schließen sich nach 15 Jahren, wenn auch auf einer höheren Ebene (denn wir wollen nicht denken, dass es mit uns bergab geht, sondern dass wir gelebt und gelernt haben und besser sind): damals stellte ich bei Studio B eine wunderbare Sammlung von großartigen Reportagen von A.J. Liebling ĂŒber das Boxen vor, die zwischen 1951 und 1955 entstanden und damals im renommierten New Yorker erschienen, bevor sie 2009 im Berenberg Verlag als Sammlung "Die artige Kunst" ins Deutsche ĂŒbertragen wurden.

    Sommerzeit ist Lesezeit, da sind hier gleich mal 2 Empfehlungen, von ganzem Herzen, ohne jede EinschrÀnkung, auch wenn das Sujet den Leserinnen und Lesern bis heute vielleicht nicht das Interessanteste oder Wichtigste schien. Ernsthaft.

    WĂ€hrend A. J. Liebling BoxkĂ€mpfe sah, wĂ€hrend sie geschahen und das Fernsehen fĂŒr den Niedergang dieser neben dem Ringen Ă€ltesten Form des Zweikampfes verantwortlich machte, schreibt Rita Bullwinkel in ihrer DebĂŒtnovelle "Headshot" - im Deutschen "Schlaglicht" - auf schmalen 250 Seiten ĂŒber ein fiktives Sportereignis, das im Amateurboxen der Frauen angesiedelt ist.

    GekĂ€mpft wird im "Daughters of America Cup", in dem Amateurboxerinnen bis 18 Jahre antreten dĂŒrfen, Handlungsort ist Bob’s Boxing Palace in Reno, Nevada. "Headshot" behandelt die im "Töchter Amerikas Cup" ab dem Viertelfinale ausgetragenen KĂ€mpfe.

    Viertelfinale bedeutet (wir kennen die ZÀhlweise aus anderen Sportarten), dass noch 8 Sportlerinnen im Rennen um die TrophÀe sind, und jeweils die Siegerin der Partie gegen eine andere Siegerin gelost wird.

    Die KĂ€mpfe bilden die Gliederung fĂŒr das Buch, die jeweils mit den Namen der angetretenen Kontrahentinnen betitelt sind.

    Am ersten Tag finden die Viertelfinale statt, es folgen 2 Kapitel, die mit "Nacht" und "Tiefe Nacht" ĂŒberschrieben sind, bevor am nĂ€chsten Tag die beiden HalbfinalkĂ€mpfe und das Finale ausgetragen werden.

    Was die Autorin hier in schlichter Prosa zusammenfĂŒgt, ist großartig: sie zeigt - und die Auflistung bedeutet keine Wertung -

    die Körperlichkeit des Boxens und was es fĂŒr die jungen Boxerinnen bedeutet;

    warum sie Boxen;

    wodurch ihre Wahl fĂŒr diesen Kampfsport bestimmt wurde;

    wofĂŒr sie boxen.

    Rita Bullwinkel zeigt die wenig glamourösen UmstÀnde des Turniers im Nirgendwo, dessen Ort gewÀhlt wurde, weil er angeblich "in der Mitte des Landes" lÀge.

    Dem Ort - Bob’s Boxing Palace - wohnt eine tiefe Traurigkeit inne, und "Headshot" zeigt, dass das Amateurboxen fĂŒr Frauen keine Sportart ist, die in reichen Familien eine Möglichkeit der Freizeitgestaltung fĂŒr junge weibliche Teenager ist.

    Neben den detaillierten Beschreibungen der KĂ€mpfe finden sich RĂŒckblicke, aber auch SprĂŒnge in die Zukunft. Wir erfahren viel ĂŒber die UmstĂ€nde der Protagonistinnen, die sich teilweise vorher kennen, teilweise nicht. Wir lesen, wie ihre Geschichten individuell sind, wie ihre Familien unterschiedliche Haltungen zum Boxen einnehmen, und die einzelnen Teenager unterstĂŒtzen oder eben auch nicht.

    Was das Boxen fĂŒr die Einzelne bedeutet, ist dabei teilweise allgemeingĂŒltig: es gibt den jungen Teenagern eine Kontrolle ĂŒber ihren Körper, teilweise aber eben auch sehr individuell, wenn Eine die Familientradition fortfĂŒhren muss oder eine andere ĂŒber ein ertrunkenes Kind sinniert, dass unter ihrer Aufsicht im örtlichen Schwimmbad ertrunken ist.

    Dabei entfaltet "Headshot" von Anfang an eine Faszination, die auch durch Rita Bullwinkels Witze, seien sie inhaltlicher oder sprachlicher Natur bestimmt wird.

    Was die Heldinnen von Headshot, Andi Taylor, Artemis Victor, Kate Heffer, Rachel Doricko, Iggy Lang, Izzy Lang, Rose Mueller und Tania Maw erkĂ€mpfen, sind nicht nur Sieg oder Niederlage, sondern ihr Platz in der Gesellschaft, der - durch die RĂŒck- und Ausblicke gezeigt - weit ĂŒber den jeweiligen Boxkampf hinausgeht.

    Was "Headshot" ĂŒberhaupt nicht verhandelt, ist, ob es ĂŒberhaupt ok ist, dass junge Frauen boxen. Warum auch.

    "Headshot" von Rita Bullwinkel wurde fĂŒr den Booker Prize 2024 nominiert, dies nur als Information fĂŒr diejenigen, die ihre LektĂŒre durch so etwas beeinflussen lassen (was ich nicht verurteilen wĂŒrde, irgendwie muss man ja auswĂ€hlen), aber wenn ihr euch durch die Rezensionen bei Studio B beeinflussen lasst: Lest dieses Buch!



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  • Bereits vor ĂŒber einem Jahr kam die Leseempfehlung unseres guten Freundes und ehemaligen Studio B Mitglieds Heiko Schramm in mein E-Mailpostfach, der anhand eines Artikels ĂŒber eben jenes Buch der Meinung war, dass es auf meine Leseliste gehören könnte. Gedanklich immer in meinem Hinterkopf und auf meiner imaginĂ€ren Liste war es nun kĂŒrzlich endlich soweit. Manche BĂŒcher brauchen einfach ihre Zeit und die Leserin spĂŒrt, wenn der richtige Moment gekommen ist. Bereits letzten Sommer veröffentlichte der Verlag Kiepenheuer und Witsch Tess Guntys The rabbit hutch auf Deutsch unter dem Titel Der Kaninchenstall – wir sind entzĂŒckt.

    ZunĂ€chst war ich mir jedoch nicht sicher, ob ich das Buch wirklich besprechen möchte. Mein Kopf war nach der LektĂŒre derart voll und durcheinander, dass ich mir nicht sicher war, ob ich das Gelesene so fĂŒr mich ordnen könnte, dass eine sinnvolle Rezension dabei herauskommen wĂŒrde. Nun versuche ich es also.

    Tess Guntys DebĂŒtroman, an dem sie nach eigenen Aussagen circa fĂŒnf Jahre arbeitete, spielt in der fiktiven und ehemaligen Industriestadt Vacca Vale, die sich im Bundesstaat Indiana, also dem sogenannten Rust Belt befindet, in dem die Autorin selbst auch aufgewachsen ist. Die Handlung beschrĂ€nkt sich auf drei Tage, an deren Ende die HandlungsstrĂ€nge schließlich in einem Ereignis zusammenlaufen, jedoch erfĂ€hrt die Leserin ĂŒber RĂŒckblenden auch immer wieder Einzelheiten ĂŒber die Geschichten verschiedener Figuren. Im Zentrum steht dabei eine junge Frau namens Blandine, die eine Obsession fĂŒr Mystikerinnen, speziell Hildegard von Bingen, hat. Sie lebt, wie viele andere, aber nicht alle handelnden Personen im Roman, im Appartementhaus La LapiniĂšre Affordable Housing Complex, einst gegrĂŒndet um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, der von seinen Bewohnern nunmehr nur „der Kaninchenstall“ genannt wird.

    Diesen nennen auch Blandines Mitbewohner ihr zu Hause. Drei junge MĂ€nner, die, so wie sie selbst auch, vorher in der FĂŒrsorge waren, nun aber alt genug sind, um allein zu leben. Außerdem gibt es unter anderem noch Joan Kowalski, die in ihrem Berufsalltag Kommentare auf Nachrufe auf Unangemessenheit ĂŒberprĂŒft, oder beispielsweise ein Ă€lteres Ehepaar mit einer Aversion gegen Nagetiere. Die Menge an Informationen, die wĂ€hrend des Romans ĂŒber die einzelnen Figuren preisgegeben wird, ist dabei sehr unterschiedlich. Außerhalb des Kaninchenstalls besteht Tess Guntys Personal unter anderem aus dem alternden Kinderstar einer fĂŒnfzigerjahre Serie: Elsie Blitz sowie deren entfremdeten Sohn Moses Robert Blitz. Dies sind aber noch lĂ€ngst nicht alle Charaktere des Romans. Doch egal wie viel oder wenig die Leserin ĂŒber jeden Einzelnen erfĂ€hrt, sie alle sind wichtig und nur zusammen ergeben sie ein Bild.

    Es ist das Bild einer Gesellschaft und Gegend, die nach Jahren der wirtschaftlichen BlĂŒte und des Reichtums – die lĂ€ngst der Vergangenheit angehören – dem Verfall preisgegeben sind und die Tess Guntys Meinung nach noch immer zu wenig Beachtung erfahren, wodurch die Menschen zum Zielobjekt fĂŒr Politiker werden, die deren Notsituation ausnutzen und mit falschen Versprechungen locken. Es ist aber auch ein regelrechtes Wimmelbild der menschlichen Emotionen, EnttĂ€uschungen, geplatzten TrĂ€ume und Hoffnungen, in deren Mittelpunkt die junge Heldin Blandine, die einst Tiffany hieß, steht. Tess Gunty schreibt: „Jede Kreatur tut, was sie kann, mit den Ressourcen, die sie hat.“ Und genau so tun es auch ihre Protagonistinnen und Protagonisten, jede und jeder kĂ€mpft um seine Existenz, wenn nicht gar um seine Daseinsberechtigung. Als Lesende erlebt man ein Kaleidoskop der Innenansichten und auch Ă€ußerlichen Beschreibungen, dass einem schon mal schwindelig werden kann.

    Konsequent setzt Tess Gunty dies auch in der Form ihres Romans um. Es ist eine Kombination aus kĂŒrzeren und lĂ€ngeren Kapiteln in denen verschiedene Perspektiven ausgebreitet oder nur angerissen werden, es gibt Nachrufe die chatverlaufartig gestaltet sind, Illustrationen in Form von comicartigen Zeichnungen, die ihr Bruder fĂŒr den Roman angefertigt hat und auch Zitate spielen immer wieder eine Rolle. Zu dieser Ă€ußerlich ĂŒberladenen Form passt auch das thematisch unglaublich weite Spektrum des Romans. Da geht es zum Beispiel neben Missbrauch: „»Ich habe die Nase so voll«, sagt Blandine, »von Gewalt gegen Frauen, die als Anerkennung getarnt ist.« auch um Mystik, persönliche Entfaltung, Einsamkeit, Gemeinschaft, Gentrifizierung, demographischen Wandel, Kapitalismus usw.

    Wenn nun der Eindruck entstanden sein sollte, dass das Lesen von Der Kaninchenstall an der ein oder anderen Stelle etwas too much sein könnte, dann stimmt das und gleichzeitig auch nicht. Es fĂŒhlt sich an wie eine Metapher auf unsere Zeit, in der wir permanent mit Informationen ĂŒberhĂ€uft werden, die auf die verschiedensten Arten zu uns gelangen und uns oft zu ĂŒberfordern drohen. Es ist aber genauso eine Freude, dieses Buch zu lesen, auch wenn es einen nicht immer glĂŒcklich zurĂŒcklĂ€sst. Denn Tess Gunty schafft es immer wieder, die Lesende so in das Innere ihrer Figuren blicken zu lassen, dass ein MitfĂŒhlen und zumindest teilweise verstehen, quasi unvermeidlich sind. Und sie hat ein enormes Talent, welches sich darin ausdrĂŒckt, dass sie Wahrnehmungen und EindrĂŒcke auffangen und sprachlich ausdrĂŒcken kann, dass es den Nagel auf den Kopf trifft: „Blandine hasst diese billige Karikatur von Empathie, die sich so oft als Mitleid manifestiert. Sie kennt sie nur von Leuten, die ĂŒbermĂ€ĂŸig geliebt und nie wirklich kritisiert werden.“

    Und letztlich, so sagt es die Autorin selbst, geht es in ihrem Werk um die Frage: Was sind wir uns gegenseitig schuldig? Eine nachdenkenswerte Frage, die sich am Ende jede und jeder selbst beantworten muss. Der Kaninchenstall steht dabei als Sinnbild der mangelnden Entfaltungsmöglichkeiten der Menschen die in ihm leben und die sich eher noch zerfleischen, wenn sie sich zu nahe kommen, denn sich wohlgesonnen zu sein. Aber ein positiver Wandel ist möglich, damit lĂ€sst uns dieses Buch zurĂŒck, so wie ich nun alle Hörer- und Leserinnen mit der Empfehlung zurĂŒcklasse, Tess Guntys Der Kaninchenstall zu lesen. Es lohnt sich, denn es ist nicht nur Lesen, sondern ein Miterleben und Durchleben gleichermaßen.



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  • WĂŒrde f*****g Google noch ansatzweise das tun, wofĂŒr es mal gebaut wurde, könnte ich hier in exaktem Wortlaut wie Quelle erzĂ€hlen, das Sybille Berg mal irgendwo, irgendwann, irgendwie, gesagt hat, dass das Leben zu kurz sei, als dass man jedes angefangene Buch zu Ende lesen mĂŒsse. Und selbst wenn sie das nie gesagt hat und wehement opponierte: das Gebot ist richtig, ich lebe es! Und es ist doch auch so: das Weglegen eine Buches, oder, wie es sich heute Ă€ußert: das ein Buch in der Bibliotheksansicht auf dem E-Reader von immer mehr Werken ĂŒberholt wird, bis es traurig und vergessen automatisiert gelöscht wird, muss ĂŒberhaupt nichts mit der QualitĂ€t, der Interessantheit, der Brillanz eines Buches zu tun haben. “Es liegt nicht an Dir, es liegt an mir” sagt man leise in einer verrauchten Bar zu einer LektĂŒre, die man so hoffnungsvoll begann, die erste Seite, das erste Kapital so aufregend, so neu, man wollte das Ding heiraten. Aber irgendwas kam dazwischen, der Job, der Suff, man lernte eine Neue kennen und jetzt ist der Zauber vorbei und es bleibt nur der Abschied mit der Hoffnung, sich irgendwann mal wieder zu sehen. Literatur kennt keine Moral.

    Aber ein anderer wird vielleicht glĂŒcklich mit ihr und so nehme ich das zum Anlass, eine Sammelrezension - genau in der Mitte zwischen Lobpreisung und Verriss - zu verlautbaren, mit drei Werken, die mit unterschiedlichen Prozentzahlen in der Coverecke auf dem Kindle nach unten rutschen, obwohl sie das vielleicht nicht verdient haben.

    Beginnen wir mit einem Buch, auf welches ich mich wirklich, wirklich gefreut hatte: In 2019 hatte die Journalistin Taffy Brodesser-Akner ihren ersten Roman mit dem schon mal grandiosen Titel “Fleishman Is in Trouble” veröffentlicht (auf Deutsch: “Fleishman steckt in Schwierigkeiten”). Die rasante Story um eine New Yorker Middleclass Familie (also aus unserer Sicht “f*****g rich”) in der unten, oben, mĂ€nnlich, weiblich, richtig und falsch wild durcheinander gewirbelt werden, voller Überraschung und mit genau der richtigen Mischung aus jiddisch/jĂŒdisch/amerikanischer Stereotypen und deren Brechen war der reine fun. Brodesser-Akners zweiter Roman ist gerade erschienen und verlegt die Story von Manhattan und Staten- nach Long Island, wo es titelgebend einen Kompromiss geben soll, einen “Long Island Compromise” also. Nicht ganz so toll als Titel, aber geheimnisvoll und ich verrate nicht zu viel, dass er was ganz anderes ist, als man denkt. Das Buch steht bei mir bei 42% und ich habe mich bisher eigentlich ganz gut amĂŒsiert. Eine EntfĂŒhrungsgeschichte als Genesis, das Milieu diesmal deutlich mehr jĂŒdische upper class, mit all dem Ballast, den der Holocaust auch in der vierten oder fĂŒnften Generation noch aufbĂŒrdet, wird er durch besagt EntfĂŒhrung eines Familienmitglieds nicht leichter. Brodesser-Akner nutzt das, um das Neuroselevel der zahlreichen handelnden Personen permanent zwischen 6 und 7 auf der nach oben offenen Woody-Allen-Skala zu halten, was zunĂ€chst ganz nett zu lesen ist. Der jĂŒngste Sohn des EntfĂŒhrten, zum Zeitpunkt ein Baby, ist mit 40 ein reiches Wrack in L.A. und Brodesser-Akner hat ihren “Patrick Melrose” gelesen und fĂŒgt den in diesem epischen und von mir hochgelobten Epos gefundenen illegalen Substanzen ein paar mehr hinzu, mit denen sich der erfolglose Screenwriter das Hirn ruhig zu stellen sucht. Da kann Ottessa Moshfegh noch was lernen! Das Ganze geht ein glattes Drittel des Buches und ermĂŒdet dann doch sehr und so wollen wir es schon weglegen, da kommt sein Ă€ltere Bruder in den Fokus, der das Kindheitstrauma mit anderen Formen der Neurose bewĂ€ltigt und mich packte eine unendliche MĂŒdigkeit ob der “Reiche haben auch Probleme” Vibes. Alles ist ein bisschen sehr Klischee (was ich doch eigentlich mag) und obwohl sich VerĂ€nderungen in der finanziellen Grundversorgung der Industriellenfamilie andeuten, bin ich zu erschöpft um dem noch folgen zu wollen. Der Lektor hĂ€tte ein bisschen Überzeugungsarbeit leisten sollen um Brodesser-Akners Zweitwerk auf den Speed und die Wendigkeit des DebĂŒts zu kĂŒrzen, dann wĂ€re es was mit uns geworden. Schade. Aber es ist noch kein endgĂŒltiger Abschied und damit kein Verriss.

    Sehr nah und doch so weit von Long Island entfernt ist ein Autor aufgewachsen, dessen Name wie ein Pseudonym klingt, es aber nicht ist, versichert uns Wikipedia: Shalom Auslander? No way, geh mir weg, so heißt doch keiner! Heißt er doch. Gestolpert bin ich ĂŒber den Mann auf meinen StreifzĂŒgen durch die Welt der obskuren Newsletter und wenn ein solcher “Fetal Position” heißt, weckte das soviel Interesse und Bilder im Kopf, dass der subscribe Button fast unbewusst geklickt wurde. Und der Newsletter liefert. Neurosestufe noch mal ĂŒber den fiktiven Helden von “Long Island Compromise”, muss hier jemand mit dieser Last tatsĂ€chlich leben und erzĂ€hlt uns von seinen permanenten Ängsten ob der Welt, vor seinen Mitmenschen und ĂŒberhaupt allem, mit dem einzigen was dagegen hilft: Humor. Hier: jĂŒdischer. Auslander hat schon einige BĂŒcher geschrieben, das ominös “Feh” genannte ist sein neuestes, soeben auf englisch erschienen. “Feh” ist jiddisch und, so philosophiert Auslander, kommt in der Torah so ziemlich auf der ersten Seite vor und beschreibt den ersten Eindruck, den Gott beim Anblick von Adam gehabt hat: “Feh”. EnttĂ€uschung. Not good enough. Warum hĂ€tte er sonst eine Frau als Adam 2.0 geschaffen? Es ist dieselbe EnttĂ€uschung, die Shalom Auslander bei allen Menschen spĂŒrt, die ihm begegnen, seitdem er in einer orthodoxen Schuul von der Story erfuhr. WĂ€hrend sich der Umgang mit diesem GefĂŒhl in einem wöchentlichen Newsletter zum alltĂ€glichen Wahnsinn auf dieser Welt sauber wegliest, ist das in dreißig Kapiteln, soviel verlangt uns der Autor ab, nur schwer zu ertragen. Ich versuche es immer wieder und obwohl ich ĂŒber jeden Scheiß lachen kann, was zu genug Unruhe bei der Studio B Besatzung fĂŒhrt, bleibt dieses hier leider nach und nach aus. Aber vielleicht hilft es ja Leserinnen und Lesern, die Ă€hnlich wie Auslander durch die Welt mĂ€andern, mit dieser etwas milder ins Gericht zu gehen und denen soll dieses Buch gegönnt sein. Mir isses das nicht.

    Aus ganz anderen GrĂŒnden dropt in der Liste der vielleicht verschmĂ€hten BĂŒcher ein, nein!, doch!, oh!, ja!, Neal Stephenson immer weiter nach unten. Diese LĂ€nge! Der Neal pullt hier einen Scorsese und lĂ€sst sich von niemandem vorschreiben, dass man eine Story, die man in drei BĂ€nde packen sollte, nicht auch in einen packen kann. Wenn ich mir vorstelle, wie wir vor Erfindung des E-Books mit so einem 800-Seiten-Kilo-Ding jeden morgen in der Straßenbahn gesessen hĂ€tten, ĂŒber Wochen - das hĂ€tte doch keiner gemacht! Aber ein E-Book kostet keinem Baum das Leben und keinem Leser den Ischias, sagt sich Neal Stephenson, da brechen wir jetzt mal Rekorde. “Fall” ist die Fortsetzung von “REAMDE”, hier rezensiert in 2011, aber wirklich, heiliges Ehrenwort von jemandem mit Alles-In-Reihenfolge-Lesen-MĂŒssen-OCD, komplett ohne dieses lesbar. Ich muss das wissen, weil ich schon lange alles vergessen habe. Stephenson nimmt den Protagonisten aus dem ersten Buch und lĂ€sst ihn sterben. Das passiert im ersten Kapitel und damit ist das kein Spoiler. So sind die Regeln. Ich hab sie mir nicht ausgedacht. Was darauf folgt ist ein wirklich grandioser Speedrun durch die nĂ€here Zukunft inklusive völlig aus dem Ruder laufender politischer VerhĂ€ltnisse in den USA, virtueller Welten, Hirn-Maschine-Schnittstellen, SingularitĂ€t, Religion, echt und ausgedacht, philosophischen Exkursen aus dem Halbfeld, es ist eine Messe! Aber so laaaaaang.. Ich bin bei 53% und habe hier, im Widerspruch zum Eingangs erwĂ€hnten Sybille Berg Zitat, tatsĂ€chlich immer wieder Gewissensbisse, das Ding nicht doch noch mal anzufassen. Ich sehe was Neal Stephenson hier macht, wie viele große, nein, riesige Gedanken, Weltbilder und Visionen er in ein Buch packt und obwohl beim Blick auf die reine Seitenzahl nicht zu vermuten, nicht ausufern lĂ€sst, gut und tight beisammenhĂ€lt. Aber ich schaffe es zur Zeit einfach nicht, das Ding zu Ende zu bringen. “Fall” ist somit, obwohl in der Liste schon am lĂ€ngsten, das wahrscheinlichste Buch, welches ich zu Ende bringen werde, und damit haben wir am Ende denn doch eine minimal gespoilerte Lobpreisung.

    Und weil es heute soviel an Information gab nochmal zusammengefasst die besprochenen Werke:

    Taffy Brodesser-Akner: Long Island Compromise - so mÀh..

    Shalom Auslander: Feh - so feh..

    Neal Stephenson: Der Aufstieg und Fall des D.O.D.O. - so YEAHHHHhhhhhhhhhmmmmnnnajaochmensch




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  • Wir diskutieren das jĂŒngste letzte (?) Buch von Stephen King “Ihr wollt es dunkler”, das Aufwachen in einem seltsamen Afterlife in Blake Crouch’s “Wayward Pines” und das böse selbige aus dem Traum von der Ehe fĂŒr einen eher unangenehmen Zeitgenossen in Claire Keegan’s “Reichlich spĂ€t”.



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  • Liebe Leserinnen und Leser,

    ja, der Untertitel des heutigen Beitrages ist derselbe wie bei meiner vorletzten Besprechung. Passt einfach immer.

    Elvis has left the building. Bevor der King - unklar ist bis heute, ob er wirklich tot ist - abtrat, zerstörte er sich relativ systematisch selbst und auch mit der Hilfe von anderen seinen Körper und sein OberstĂŒbchen und steht in der langen Reihe derer, deren Gehirnleistung ĂŒber die Jahrzehnte kontinuierlich abnahm und auch immer konservativer und rechter wurde. Puh.

    Alle, die beim letzten Satz ob der gesellschaftlich tief verwurzelten Altersfeindlichkeit die Stirn in Falten legten: GlĂŒckwunsch, ertappt. Allen anderen: vielleicht ist diese ErzĂ€hlung, dass Menschen im Alter immer langsamer, konservativer und mĂ€h werden, auch schlichtweg Propaganda, und die Beispiele, die uns hierfĂŒr vorgefĂŒhrt werden, sind nicht mehr als anekdotische Evidenz.

    Ein heller Stern am literarischen Firmament, der jedes Anzeichen von Altersfeindlichkeit einfach ĂŒberstrahlt ist King, der Stephen.

    Gerade ist ein neuer Band von ihm veröffentlicht worden, Kurzgeschichten, ErzĂ€hlungen und Novellen sind versammelt: “You Like It Darker”, im Deutschen nah am Original: “Ihr wollt es dunkler”. In der Papierausgabe ein schönes Brikett, nĂ€mlich 736 Seiten in der deutschen, in der englischen immerhin auch noch 512 Seiten.

    In der Diskussion mit den Studio B-Kollegen wird es sicher auch konkret um einige der Stories gehen, aber hier soll nichts zum Inhalt verraten werden. Zumindest nicht zum Inhalt des literarischen Werkes.

    FĂŒr mich fĂŒhlte es sich die ganze Zeit wie Abschied an. Machen wir uns nichts vor: Stephen King wird leider nicht jĂŒnger, Schriftsteller seiner Generation haben entweder bereits ihren Abschied verkĂŒndet (Don Winslow) oder ĂŒbergeben nach und nach an Familienmitglieder (Lee Child), und auch der King himself (Stephen) hat bei nicht wenigen seiner letzten Werke mit seinen Söhnen kooperiert.

    Der Titel erinnerte mich sofort an You Want It Darker, die letzte Platte von Leonhard Cohen, die kurz vor seinem Tod veröffentlicht wurde. Die andere Assoziation zum Titel ist Some Like It Hot, aber das sind eben die Wirren des Gehirns.

    You Want It Darker ist eine Empfehlung von mir, vor allem fĂŒr das Nachwort. Versteht mich nicht falsch: einige der Stories sind sensationell und ĂŒberraschen, einige sind aber auch klassische 1980er/90er StĂŒcke, bei denen ich den Eindruck hatte, dass Stephen King damit kĂ€mpft sich zu entscheiden, was er mit der jeweiligen Idee nun eigentlich machen möchte, und da ihm als genre-ĂŒbergreifender Tausendsassa auch die ĂŒbernatĂŒrliche Galaxie offen steht, greift er dann manchmal doch zu - nun ja - etwas altbackenen Klötzchen?

    Zum SahnehÀubchen des Buches, zum Nachwort:

    Das GefĂŒhl des Abschieds verstĂ€rkt sich, wenn er ĂŒber seinen literarischen Arbeitsprozess, die (Ab-)GrĂŒnde seiner Fantasie, die Genese schreibt. Allein diese wenigen Seiten, die plastisch beschreiben, wie seine Geschichten zu ihm kommen, (und hier kommt doch ein Spoiler): er kann es nicht nachvollziehen, und dann in einem Nebensatz erklĂ€rt, dass er sich wohl “im Spektrum befindet”, aber das auch ziemlich egal findet. Und wieder einmal seine Haltung zeigt, die ihn ĂŒber die letzten Jahrzehnte ausgezeichnet hat: nicht nur die Verwerfungen der Welt und ihre Entwicklung sehen und lamentieren oder gar in seinen Werken ignorierend, sondern im Alter immer klarer sehend, wo er als nun alter weiser Mann steht, und dabei solidarisch zu sein und seine Stimme dafĂŒr zu nutzen. Auch wegen seiner Twitterkommentare wurde die Plattform am Ende zerstört, aber falls ihr noch da seid, schaut vorbei. Schön, wie er mit den Leuten interagiert und ab und zu pöbelt.

    Gleichzeitig bestĂ€tigt er - um den Bogen zum Literarischen zurĂŒckzuschlagen -, dass die Form der Kurzgeschichte nicht seine stĂ€rkste ist, puh. Gut, das empfand ich Ă€hnlich.

    Ich hoffe sehr, dass dies kein Abschiedsbuch ist.



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  • Den meisten Menschen dĂŒrfte die Redewendung: „Geben ist seliger denn Nehmen“, deren Herkunft auf die Bibel zurĂŒck geht, gelĂ€ufig sein und ebenso die Bedeutung dieses Satzes. Letztlich ist es nichts anderes als die Aufforderung zur GroßzĂŒgigkeit, die den positiven Nebeneffekt haben kann, jemand anderem eine Freude zu machen, an der man sich im besten Fall noch selbst erfreuen kann. Es begab sich, dass ich kĂŒrzlich von einer Freundin einen Gutschein fĂŒr die örtliche Buchhandlung bekam, der ihr selbst wenig nĂŒtzlich war, da sie ausschließlich HörbĂŒcher hört. Die Freude meinerseits war natĂŒrlich groß, denn was gibt es schon Besseres als kostenlose BĂŒcher? Weit oben auf meiner Wunschliste stand die kĂŒrzlich auf Deutsch erschienene, neue ErzĂ€hlung der irischen Autorin Claire Keegan Reichlich spĂ€t, die im Steidl Verlag veröffentlicht wurde und gerade einmal 55 Seiten umfasst. Don't judge a book by it's cover, so sagt man, aber schon die Aufmachung der schmalen, als Hardcover gebundenen Ausgabe zog mich magisch an und der Gutschein fand seine Bestimmung.

    In ihrer neuesten ErzĂ€hlung beschreibt uns Claire Keegan einen Ausschnitt aus dem Leben ihres Protagonisten Cathal, der BĂŒroangestellter in Dublin ist und in der NĂ€he, einer kleinen Stadt namens Arklow, lebt. Der Tag, um den sich die Handlung dreht, sollte der Hochzeitstag von Cathal und seiner Verlobten Sabine sein, die sich auf einer Tagung kennengelernt hatten. Warum es zu dieser Hochzeit aber nicht kommt, wird anhand von Cathals Erinnerungen rekonstruiert und legt letztlich viel mehr frei, als das bloße Scheitern einer Beziehung.

    Etwas mehr als zwei Jahre ist es her, dass Sabine und Cathal sich in Toulouse kennengelernt hatten und er sie – es hatte sich herausgestellt, dass sie ebenfalls in Dublin arbeitet – zu sich eingeladen hat. Sie verbringt schließlich den Großteil der Wochenenden bei ihm, liebt das Leben auf dem Land, kocht gern und es schwingt in allem ihrem Tun eine Leichtigkeit mit. Die Entscheidung zu heiraten gleicht dann aber eher einem Beschluss oder einer Verhandlung darĂŒber, ob man es tun sollte oder nicht und ist weit entfernt von einem Antrag oder hat gar etwas mit Romantik zu tun. Es kommt beim Lesen auch nicht das GefĂŒhl auf, dass Liebe eine große Rolle in dieser Entscheidung spielt.

    Grund dafĂŒr ist, dass Cathal ein kleingeistiger, geiziger und frauenverachtender Spießer ist, der zwar das Bild von Mann und Frau und einer heilen Welt mit Haus und Hof und am besten noch Kind und Katze gern sieht, aber letztlich doch einfach gern seine Ruhe hĂ€tte. Der es hasst, sich um den Abwasch zu kĂŒmmern, das ihm gekochte Essen aber gern entgegennimmt. Der zwar gern hĂ€tte, dass seine Verlobte bei ihm einzieht, dem aber am liebsten wĂ€re, wenn sie nicht so viel „Zeug“ aus ihrer alten Wohnung mitbringen wĂŒrde, denn das bedeutet ja, dass sich in seinem eigenen kleinen Kosmos etwas verĂ€ndert, ja verĂ€ndern muss. Dass sie im wahrsten Sinne des Wortes Raum fĂŒr sich beansprucht. Ihm wĂ€re am liebsten, sie wĂ€re einfach nur da und ansonsten bliebe alles wie gehabt. Er ist jemand, der sich noch nach Wochen ĂŒber den zu hohen Preis von Kirschen echauffiert und der Frauen als Fotzen, Huren und Schlampen bezeichnet, weil man als irischer Mann eben so redet.

    Es drĂ€ngt sich mir unweigerlich die Frage auf, was das, salopp gesagt, eigentlich alles soll? Ein so gewaltiges Problem wie Misogynie werde ich in meiner heutigen Rezension sicher nicht lösen, also bleibe ich an dieser Stelle beim Protagonisten, dem ja in der ErzĂ€hlung selbst auch zumindest punktuell bewusst wird, was geschieht. So reflektiert er beispielsweise an einer Stelle seine Sprache, indem ihm klar wird: „[...]hatte er gesagt – und sofort gespĂŒrt, wie der lange Schatten der Sprache seines Vaters auf sein Leben fiel.“ (S.27) Es sind also teilweise anerzogene Verhaltensmuster, ĂŒber Generationen hinweg weitergegeben, die sein Handeln, Denken und Sprechen beeinflussen – wie wir an einer anderen Stelle an einem Exempel aus seiner Kindheit ebenfalls noch einmal verdeutlicht bekommen – aber auch eine von der Gesellschaft verinnerlichte Ablehnung gegen Frauen. Die wenigen lichten Momente, in denen ihm der Gedanke kommt, dass es vielleicht auch anders sein könnte, schiebt er jedoch direkt wieder beiseite. Einen aus Erkenntnissen resultierenden Effekt, nĂ€mlich den, sein Handeln zu verĂ€ndern und auch sein Denken zu hinterfragen, gibt es nicht. Seine Verlobte Sabine bringt es fĂŒr sich folgendermaßen auf den Punkt: „»Weißt du, was Frauenfeindlichkeit im Kern ausmacht? Letzten Endes?« [
] »Nicht geben zu wollen« (S.43) Und damit ist nicht nur das Geben, das selige Geben von materiellen Dingen gemeint, sondern auch das Jemandem-etwas-zugestehen wie beispielsweise das Wahlrecht, das sie an dieser Stelle selbst als Beispiel nennt.

    Zu Recht wird Claire Keegan als Meisterin der kurzen Form beschrieben, wie sie in Reichlich spĂ€t einmal mehr unter Beweis stellt. Beeindruckend ist aber vor allem, wie sie es schafft auf diesen wenigen Seiten eine ganze Welt zu erschaffen, die einem wĂ€hrend des Lesens regelrecht vor Augen steht und welch eine Bandbreite an zwischenmenschlichen Konflikten sie zu beschreiben vermag und dabei den Nagel so auf den Kopf trifft. Dabei ist kein Wort zu viel oder wenig, aber alles von Bedeutung. Auch wenn es ĂŒberraschend scheint, so schafft es Claire Keegan doch ein Spektrum an Themen in ihrer ErzĂ€hlung zumindest anklingen zu lassen, nĂ€mlich beispielsweise Machtstrukturen, Familie, aber auch Einsamkeit und ging mir damit teilweise auch ziemlich ans Herz. Dass ich ein Fan der Autorin bin, ist wohl deutlich geworden und dass sie auch von anderen so gefeiert wird, finde ich großartig. Zwar ging es dieses Mal nicht ohne Spoiler, nichtsdestotrotz ist es Reichlich spĂ€t, auch mit diesem Vorwissen absolut wert gelesen zu werden und eine ausdrĂŒckliche Empfehlung. Selten habe ich einen Gutschein besser angelegt und möchte an dieser Stelle nochmal ein herzliches Dankeschön dafĂŒr loswerden.

    Wenn ihr mehr von mir und Claire Keegan hören und lesen möchtet, findet ihr in unserem Archiv noch eine Besprechung zu ihrem Roman “Kleine Dinge wie diese”.



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  • Nach all den schweren BĂŒchern, die es im Winter zu besprechen gab ĂŒber die Geschichte der Menschheit vom Anfang bis zur aktuell traurigen Gegenwart oder gar von der neuen Spielart des Feudalismus mit der Vorsilbe Techno-, in der wir alle gleichzeitg Konsumenten wie Fronarbeiter sind, reicht das dann auch mal wieder und es ist an der Zeit ein Buch zu lesen, in dem zur Abwechslung mal die Protagonisten am Arsch sind und nicht wir selbst.

    Nehmen wir diesen knackig aussehenden Mittdreißiger, volles Haar, kantiges Kinn. Der liegt am Ufer eines Flusses, durchaus idyllisch, aber ihm tut alles weh. Seine linke Seite fĂŒhlt sich sehr nach Rippenbruch an, wenn nicht garstiger. Er hat einen schwarzen Anzug an, darunter ein weißes, blutverschmiertes Hemd. Er hat also eher einen Scheißtag und dabei ist der Ausblick, wie er sich mĂŒhsam erhebt, unwirklich idyllisch. Ein Spielplatz, Felder, PinienwĂ€lder, ein Gebirgsmassiv in dem sich die Abendsonne spiegelt. Wir sind in Idaho, USA, irgendwo in der Mitte zwischen Pazifik und Rocky Mountains, Niemandsland, Flyover Country. Das weiß Mr. Handsome noch nicht. Er weiß ohnehin nicht wirklich viel, noch nicht mal seinen Namen.

    Den erfahren wir Leserinnen im zweiten Kapitel, wie sich der Mann nach wildem umherirren im BilderbuchstĂ€dtchen “Wayward Pines” und anschließendem Zusammenbrechen im Angesicht einer breit grinsenden Krankenschwester wiederfindet, perfekt in Umgang und Aussehen, scheinbar einer Krankhausserie in den 50ern entsprungen. Er heiße Ethan Burke, antwort er dieser. Fortschritt. Ethan Burke, ein Name wie aus einem amerikanischen Thriller. Handwerklich hat der Autor Blake Crouch, eine Name wie der eines amerikanischen Thrillerautors, es schon mal drauf. Ethan Burke klingt wie Jack Ryan, Jason Burne, Jack Reacher. Auf die Frage “Was ist Ehtan Burke von Beruf” können wir die Antwort locker auf drei Möglichkeiten eingrenzen. Der schwarze, eng sitzende Anzug ist der Clou. Der Mann ist kein Privatdetektiv, da wĂ€re der Anzug braun, auch kein gewöhnlicher Bulle, da wĂ€re der Anzug schlecht geschnitten. Es riecht stark nach Agent. FBI, CIA oder Secret Service.

    Es ist letzeres und wie wir lernen, macht der in den USA nicht nur Personenschutz fĂŒr korrupte Politiker, sondern auch Recherche fĂŒrs Finanzamt. Man lernt nie aus. In Wayward Pines ist Ethan, weil zwei seiner Kollegen verschwunden sind, eben hier.

    Ohne Geld und Papiere macht sich Ethan auf den Weg durchs Dorf. FĂŒndhundert Einwohner, nicht mehr, schĂ€tzt er, wohnen hier. Es sieht aus wie in einer Filmkulisse.

    Die Leute sind freundlich, wenn auch reserviert und seltsam uninteressiert daran, dass durch ihr blitzeblankes, ordentliches StĂ€dtchen ein Typ mit blutigem Shirt ohne Ziel und Aufgabe stolpert. Die Empfangslady beim Sheriff hĂ€lt es fĂŒr noch nicht mal so dringend, den Chef zu holen, auch wenn Ethan betont, er sei beim Secret Service. Die Empfangsdame im Hotel lĂ€ĂŸt sich nach ein bisschen Charmeattacke darauf ein, ihm ein Zimmer zu geben, auch ohne Kreditkarte und Ausweis.

    Das alles schreibt Blake Crouch in rasanter, kontrollierter Thrillersprache, wir sind Ă€ußerst gespannt, worum es geht. Denn dass das hier alles viel zu perfekt ist, viel zu wenig Autos auf der Straße und der Umstand, dass sich Ethan an kaum etwas erinnern kann, verbreitet von Anfang an ein Lee Child Feeling, dem man sich schwer entziehen kann.

    Auf der Suche nach etwas Essbarem, immer noch ohne Geld, kommt Ethan an einem Haus vorbei, Zikaden zirpen, er meint etwas im GebĂŒsch gesehen zu haben. Ethan findet statt Zikaden einen Kasten, der ZikadengerĂ€usche aussendet. SpĂ€testens jetzt wissen wir, das wir gerade die Schwelle vom Lee Child Country ins Stephen King Land ĂŒberschritten haben.

    Und weil das so ist, lassen wir die Handlung hier unbeschrieben. Die Überraschung wird zu groß sein. Das Buch kippt im letzen Viertel vom gemeinen Thriller in ein derart anderes Genre, dass es ein Verbrechen am Leser wĂ€re zu enthĂŒllen, worum es geht. Selten sah sich Herr Falschgold so geschockt und ĂŒberrascht. Auf dem Weg zur EnthĂŒllung reimen sich immer weniger Dinge und wie jeder Thriller/Mystery-Leser habe auch ich mir den Kopf zermartert, wie das alles zusammenpasst. Es passt, es ist wirklich originĂ€r und unerhört, es ist phantastisch!

    Das ganze Ding liest man auf einem mittellangen Urlaubsflug durch, und wenn man fertig ist, freut man sich enorm, dass es noch zwei weitere Teile gibt.

    Das sich das Sujet - schick aussehender Secret Service Dude, amerikanische Kleinstad, mysteriöse UmstĂ€nde - wie Arsch auf Eimer fĂŒr eine Fernsehverfilmung eignet, ist klar und ist Amazon Prime im Jahr 2015 auch nicht entgangen. Es war ein ziemlicher Hit und deshalb ist es um so verwunderlicher, dass mir das Werk bis dato nie ĂŒber den Weg gelaufen war. Das heißt aber auch, dass man beim googlen ĂŒberall Spoiler findet, die man sorgfĂ€ltig umschiffen sollte. Deshalb: besser die BuchhĂ€ndlerin des Vertrauens anrufen, das Buch bestellen und sie bitten den Schutzumschlag samt Klappentext zu verbrennen, denn dann ist Euer VergnĂŒgen, die Geheimnisse von Wayward Pines zu entecken genauso groß wie das meine, garantiert!

    Auf Deutsch ist das Buch ĂŒbrigens unter dem Titel “Psychose” erschienen. Wir sparen uns jeden Kommentar.



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  • Herr Falschgold ist schon lĂ€nger einer großen Sache auf der Spur und fĂŒr mich Vorreiter in Sachen Zwitscherbox, die, meiner Meinung nach, in keinem gut sortierten Haushalt mehr fehlen darf. Letztes Jahr bekam ich von meinem Studio B Team eine solche Zwitscherbox zum Geburtstag geschenkt und war ĂŒber die Maßen erfreut. Nun verlasse ich nach fast 14 Jahren mein zu Hause – die Box zieht natĂŒrlich mit um – aber zum Abschied habe ich einen eigenen Zwitscherboxsound aufgenommen. Eine Minute Vögel der Louisenstraße.

    Adieu geliebtes Heim.



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